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Das Analoge ist unersetzlich
Illustration von Stephan Schmitz.

Das Analoge ist unersetzlich

Digitale Technologien können sinnvolle Hilfsmittel sein, haben aber auch das Potenzial, die Demokratie zu untergraben. Wir dürfen uns die Realität nicht durch sie ablösen lassen.

Glaubt man Managern, Politikern, Bildungsexperten und Zeitgeistdeutern, dann ist Digitalisierung die Lösung all unserer Probleme. Sie wird uns helfen, nachhaltig zu wirtschaften, die Schulen zu reformieren, soziale Teilhabe zu verbessern und uns alle klüger und informierter zu machen.

Und tatsächlich: Die Digitalisierung hat der Menschheit in den vergangenen Jahrzehnten unglaubliche Dienste erwiesen. Informationen, von denen man vor wenigen Jahrzehnten nicht einmal wusste, ob oder wo sie existieren, hat man in Sekunden auf dem Bildschirm. Viele Bereiche moderner Forschung und Medizin werden durch Computer überhaupt erst ermöglicht. Gleiches gilt für komplexe Infrastruktur. Und auch das Privatleben ist durch die Digitalisierung einfacher, abwechslungsreicher oder mitunter einfach nur lustiger geworden – von digitalen Kochrezepten über YouTube-Videos aller Art bis hin zur Partnervermittlung.

Was zudem häufig übersehen wird: Unsere Demokratien haben durch die Digitalisierung und die sozialen Medien an Dynamik und Offenheit gewonnen. Sogar der so häufig und zu Recht beklagte derbe bis beleidigende Umgangston, der in vielen sozialen Netzwerken gepflegt wird, verdeutlicht, dass wir uns viele Konflikte und Probleme in unseren Gemeinwesen schöngeredet haben. Diese Einsicht ist ein Gewinn für die Demokratie, es macht sie ehrlicher, offener und weniger steril – auch wenn viele sich aus ästhetischen Gründen vor dieser Einsicht gruseln. E-Voting, E-ID, E-Collecting und Microtargeting könnten zudem helfen, die Verkrustungen aufzusprengen, an denen unsere Gesellschaften leiden.

Mediale Revolutionen sind brenzlig

Dass mediale Revolutionen soziale und politische Umbrüche zur Folge haben, ist keine neue Beobachtung. Man denke nur an den Buchdruck, der den Gedanken der Renaissance, des Humanismus und der Reformation erst die Durchschlagskraft verlieh, unter der die soziale Ordnung und das Denken des Mittelalters nach und nach zerbrach. Auch die Französische Revolution hätte ohne die zum Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Zeitungen und Journale nicht die Dynamik entwickelt, die schliesslich ganz Europa veränderte. Und ohne Kino und Radio wären weder die kommunistischen und faschistischen Systeme des 20. Jahrhunderts noch die in dieser Zeit entstehenden Massendemokratien westlichen Zuschnitts denkbar. Mediale Revolutionen können auch zwiespältige politische Folgen entfalten.

Das gilt selbstverständlich auch für die Digitalisierung. So sehr diese potentiell in der Lage ist, die Demokratie zu stärken, so sehr kann sie auch zu einer grundlegenden Bedrohung unserer demokratischen Gesellschaften werden. Das liegt zunächst daran, dass die traditionellen Institutionen der Demokratie, so wie sie im 19. Jahrhundert erschaffen wurden, der neuen Dynamik der digitalen Öffentlichkeit nicht mehr gerecht werden. Parlamente mit ihren Ausschüssen, Fraktionen und Beratungsgremien wirken wie schwerfällige Tanker in den Stromschnellen der öffentlichen Meinung. Das trägt zwar zu einer gewissen Stabilisierung unserer Gesellschaften bei, kann aber langfristig eine delegitimierende Wirkung haben.

Vor allem aber bedroht die Digitalisierung die Substanz, den Kern jeder Demokratie: das autonome, freie Individuum. Denn die Freiheiten, die die Digitalisierung fraglos bietet, erweisen sich zunehmend als ein goldener Käfig, in den wir nach und nach eingeschweisst werden. Algorithmen erfassen unser gesamtes Leben, unsere Vorlieben, unser Konsumverhalten. Sie bauen eine Blase aus Gewohnheiten und Denkmustern um uns herum.

Digitale Gedankenverneblung

Für den normalen Nutzer ist kaum noch zu unterscheiden, welche Mediennutzung, welche Recherche oder welcher Einkauf seinen eigenen Wünschen entspricht und welche ihm durch die Programme der Internetkonzerne als seine eigenen präsentiert werden. Die Trennung von persönlichem Bedürfnis und digitaler Einflüsterung ist kaum noch möglich. Die Abhängigkeit von Software, Apps, Netzwerken und Onlinediensten aller Art nimmt immer umfassendere Ausmasse an.

Die Vision mündiger Bürger, die sich sachlich, ausgewogen und umfassend informieren, wie sie insbesondere den Pionieren des Internets vor Augen stand, droht zur Farce zu werden. Das angeblich objektive Wissen, die sachliche Information, erweist sich als massgeschneidert auf die weltanschaulichen Bedürfnisse und scheinbaren Gewissheiten des Nutzers. Keiner hat dieses Problem treffender zusammengefasst als der amerikanische Politologe Patrick J. Deneen in seinem Buch «Warum der Liberalismus gescheitert ist». Wir seien, so der Wissenschafter, «autonom und frei und doch genau den Technologien unterworfen, die uns das Gefühl der Unabhängigkeit vermitteln».

Mit der Digitalisierung liegt erstmals eine Technik vor, die die Möglichkeit bietet, uns als Person zu verändern, unser Denken, unsere Gefühle, unsere Wünsche. Natürlich griffen schon Dampfmaschine, Elektrizität oder Verbrennungsmotor massiv in die Gesellschaft, unsere Arbeitswelt und unser Wertesystem ein. Doch letztlich blieben diese Techniken uns Menschen immer äusserlich. Sie machten unser Leben bequemer und luxuriöser. Sie beeinflussten unser Handeln, unseren Tagesablauf, unsere Lebensideale. Aber sie manipulierten nicht unser Denken. Anders die digitalen Technologien: Sie steuern unsere Gedanken und entwerfen unsere Träume.

Damit unterminiert diese Entwicklung langfristig die Basis liberaler Demokratien, indem sie den Menschen als Person, als Kunde und Staatsbürger entmündigt und sein Denken und Fühlen steuert. Zwar versuchte auch traditionelle Werbung und Propaganda durch die Dauerberieselung mit Parolen oder indirekter Wertevermittlung das Denken und die Weltanschauung der Menschen zu prägen. Dennoch war diese Art der Beeinflussung vergleichsweise platt, leicht zu durchschauen und unpräzise.

Anders in einer vollständig durchdigitalisierten Welt. Schon heute ist es möglich, quasi jede Lebensäusserung des Einzelnen vollständig zu erfassen und so seine zukünftigen Wünsche und sein zukünftiges Verhalten zu antizipieren. Programme erfassen unsere Cursorbewegungen auf dem Bildschirm, unsere Zahlungsweise und Bestellungen, unsere kulturellen, sozialen und medialen Präferenzen, unsere Reisen und alltäglichen Bewegungen. Mit Hilfe der so gewonnenen Daten ist es ein Leichtes, Wünsche gezielt zu generieren und politische Grundüberzeugungen zu manipulieren. Die Menschen haben den Eindruck autonomer, individueller Willensbildung, faktisch jedoch gehorchen sie den Einflüsterungen der Algorithmen.

Die Digitalisierung kann nur dann ein Gewinn für die Demokratie werden, wenn wir gleichzeitig das analoge Leben stärken und schützen. Und das bedeutet: analoge Bildung, analoge Sozialkontakte, analoges Bezahlen, analoges Einkaufen, analoge Debatten und Diskussionen. Nur die analoge Wirklichkeit bietet dem Einzelnen jenen Lebensraum, der es ihm ermöglicht, die Einflüsterungen des Digitalen immer wieder mit der Realität abzugleichen. Nur das wirkliche Leben kann jene Widerstandsfähigkeit herstellen, die vor dem manipulativen Charakter des Digitalen bewahrt. Digitale Technologie und künstliche Intelligenz dürfen immer nur Hilfskrücken sein, um unseren Alltag, unser Privatleben, unsere Gesellschaft effizienter und smarter zu machen. Sie dürfen jedoch niemals die Realität ersetzen oder so tun, als seien sie die Realität.

Alexander Grau, zvg.

«Nur das wirkliche Leben kann jene Widerstandsfähigkeit herstellen, die vor dem manipulativen Charakter des Digitalen bewahrt.»

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