Das alles und noch viel mehr
Dorothee Elmiger: «Aus der Zuckerfrabrik»
Notizen sind die leichteste Gattung. Rasch hingeworfen, lassen sie sich im glücklichen Fall für den gedachten Zweck entziffern. Aber systematisch und über lange Zeiträume gesammelt, entfalten sie ein kompliziertes Eigenleben. Sie bilden Netze, in denen immer neue Varianten anspruchsvoller Gedanken miteinander ins Spiel kommen. Und sie bilden stabile thematische Bündel, aus denen mit der Zeit ein Gedankenstrang nach dem anderen sich löst.
Henning Ritter: Notizhefte
Über wenige Kulturerzeugnisse habe ich so oft und gern nachgedacht wie über den Film «Lucky» von 2017. Die Schwierigkeit dabei, anderen diese Begeisterung zu vermitteln, ist, dass es nicht viel «Handlung» zu berichten gibt: Der 90jährige Titelheld und Cowboy, gespielt von Harry Dean Stanton, tut jeden Tag exakt dasselbe: morgens Sit-ups und rohe Eier, dann ins Café, Zigaretten kaufen, nachmittags Quizshows gucken, abends in die Bar (eine Bloody Mary, bitte). Nach einem Zusammenbruch kommt er ins Grübeln, die Tresengespräche werden tiefschürfender, und doch geht es nicht um «Vergänglichkeit». Es geht eben um das Menschliche überhaupt, darum, wie Menschen leben und warum. Ich habe dann jeweils gesagt, «Lucky» sei ein Film über alles.
Mit Dorothee Elmigers neuem – ja, was denn eigentlich? – verhält es sich ähnlich. Die Chancen stehen gut, dass ich noch lange oft und gern an dieses Buch denken werde. «Aus der Zuckerfabrik» bietet schier unendlich viele Anknüpfungspunkte – an aktuelle Debatten ebenso wie an zeitlose Fragen. Worum geht es? Zum Beispiel um einen verarmten Lottomillionär, um Menschen, die auf unterschiedlichste Art Hunger haben und diesen nicht stillen können, um das Kapital (auch das von Marx) und die Sklaverei auf karibischen Plantagen, um Leipziger Kohleöfen und das Licht auf Zürcher Balkonen, um eine suizidale Psychiatriepatientin, um Adam Smiths «unökonomischen» Zuckerkonsum.
Zum Glück erklärt die Autorin uns nicht, wie all diese Dinge zusammenhängen, presst ihren Gegenstand nicht in eine «Erzählung», sondern montiert die einzelnen aus einer Art Forschungstagebuch entnommenen Fragmente unmoderiert aneinander. Ihre mal flüchtige, mal tiefe Verbindung erschliesst sich dennoch jederzeit.
Das erinnert an die Reportagen von Gabriele Goettle oder Helmut Höge aus Ostdeutschland nach der Wende – bis heute die beste Lektüre, wenn man diese Zeit und ihre Wehen (Stichwort Produktionsverhältnisse!) verstehen will. Beide lassen (nebst Fakten) ausschliesslich andere sprechen und verzichten völlig auf eigene Bewertungen. So legen sie ihren Gegenstand frei, aber ohne vermeintlich klare Schlussfolgerungen vorzugeben, die letztlich nur verkürzen. Ein Buch, das so vieles verbindet wie «Aus der Zuckerfabrik», kann vielleicht gar nicht anders funktionieren.
Dass Dorothee Elmiger nicht «klassisch erzählt», ist keine Neuigkeit. Dass sich das so exzellent liest, ist Ausdruck eines aussergewöhnlichen Sinns für das Grosse im Kleinen, für das Allgemeingültige im Beliebigen – und für Struktur und Strukturen. Sprachwitz à discrétion gibt’s obendrauf. Wenn am 8. November der Schweizer Buchpreis verliehen wird, gibt es an diesem Buch kein Vorbeikommen. Es will viel und schafft es sogar, ein Buch über «alles» zu sein. Lucky me.
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Hanser, München 2020.