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Da hilft nur noch Zauberei
Rory Sutherland, zvg.

Da hilft nur noch Zauberei

Wenn Politiker die Welt verändern wollen, setzen sie auf Regulierung und Anreize. Doch in komplexen Systemen sind kreativere Mittel gefragt.

 

Read the english version here.

Wenn Elektroautos umweltfreundlicher sind, wie kann man dann am besten ihre Verbreitung erhöhen? Wenn Videokonferenzen Unternehmensabläufe effizienter machen, weshalb war dann eine Pandemie nötig, um sie flächendeckend einzusetzen? Wenn Politiker und Ökonomen über solche Fragen nachdenken, drehen sich ihre Vorstellungen regelmässig um zwei Strategien: Verbote und Anreize. Ich habe zeit meines Lebens die Meinung verfochten, dass die Politik sich zu sehr auf diese beiden Hebel stützt. Damit will ich nicht sagen, dass sie unnötig oder notwendigerweise falsch wären. Ich bin jedoch überzeugt, dass die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser zwei Ansätze kreativere Massnahmen verdrängt, die effektiver und weit günstiger sein können. Indem sie versucht, die Physik zu imitieren, lässt die Ökonomie dieses Potenzial ungenutzt: Im Newton’schen Modell der Welt ist die Wirkung von Massnahmen proportional zu ihrer Grössenordnung. In Wirklichkeit ist die Welt komplex, und in einer komplexen Welt gibt es Raum für Effekte, denen man mit der Newton’schen Ratio allein nicht beikommt – denken wir etwa an den Schmetterlingseffekt, bei dem sehr kleine Änderungen erhebliche Auswirkungen haben können.

Die Psychologie ist ein besonders fruchtbares Gebiet für Schmetterlingseffekte: In meinem neuen Buch «Alchemy» lege ich dar, wie ein besseres Verständnis menschlicher Wahrnehmung und Gefühle entscheidende Änderungen im Verhalten nach sich ziehen kann. Viele dieser Effekte wurden bereits in Tests belegt, mit oft überraschenden Resultaten, die für gewöhnlich unter dem Etikett Nudging abgehandelt werden. In Grossbritannien hat ein einfaches Experiment mit «Defaults» (Standardeinstellungen) – in diesem Fall für eine betriebliche Pensionskasse, die optional ist, zu der aber alle Mitarbeiter beitragen, wenn sie nicht aktiv aus dem System austreten – den Beteiligungsgrad von anfangs einstelligen Ziffern auf um die 90 Prozent ansteigen lassen.

Aber es gibt ein weiteres Feld wissenschaftlicher Forschung, das ebenfalls Potenzial für Magie bereithält: die Netzwerktheorie. Wie in der Psychologie können auch hier kleine Eingriffe zur richtigen Zeit und am richtigen Ort überproportionale Ergebnisse zeitigen. Wie beim Nudging müssen auch in der Netzwerktheorie Entscheidungsträger Newton’sche Modelle der Welt zugunsten komplexerer Zusammenhänge aufgeben.

It’s the network, stupid!

Um dies zu verdeutlichen, werde ich mit einer kurzen Sprachlektion beginnen.

Immer mal wieder hört man bei Tischgesprächen der oberen Mittelschicht in Grossbritannien die Klage, dass die Briten, oder englische Muttersprachler im allgemeinen, so schlecht Fremdsprachen lernen. Dies hat für den Sprechenden den Vorteil, seinem Publikum subtil zu signalisieren, dass er oder sie selbst eine Fremdsprache spricht und damit zur kultivierten und kosmopolitischen Elite gehört, die nichts lieber tut, als die Engstirnigkeit und Dummheit ihrer weniger gebildeten Mitbürger anzuprangern.

Aber indem sie diesen Mangel Faulheit oder Dummheit zuschreiben, offenbaren sich solche Leute selber als eher unterbelichtet. Sie stellen die denkfaule Behauptung auf, dass die Gründe für das Defizit in der Einstellung oder Motivation der Menschen selbst lägen, nicht in der umfassenderen Komplexität der Gegebenheiten.

Jeder, der sich nur ein wenig Mühe macht, systematisch – in einer Netzwerklogik – über das Problem nachzudenken, wird erkennen, dass es mehrere unvermeidliche Gründe gibt, weshalb englische Muttersprachler im Vergleich zu anderen weniger motiviert sind, Fremdsprachen zu erlernen.

  1. Englisch zu lernen hat für einen niederländischen Muttersprachler viel mehr Vorteile als für einen Engländer, Niederländisch zu lernen.
  2. Ein Niederländer lernt viel leichter Englisch als ein Engländer Niederländisch.
  3. Ein niederländischer Muttersprachler profitiert von Anfang an von seinen Englischfortschritten, während umgekehrt ein Engländer unter Umständen nie einen Nutzen aus dem Erlernen des Niederländischen ziehen wird.

Was meine ich mit «leichter»? Nun, wenn Sie ein gebürtiger Niederländer sind (aber auch, wenn Ihre Muttersprache Deutsch, Mandarin, Spanisch, Arapaho oder Tagalog ist), ist die erste Frage «Sollte ich eine Fremdsprache lernen?» für gewöhnlich schnell beantwortet. Lautet die Antwort Ja, dann ist die zweite Frage «Welche Sprache sollte ich zuerst lernen?» eher trivial, ist doch Englisch die weltweit mit Abstand am häufigsten gesprochene Sprache. Wichtiger noch ist aber die Tatsache, dass es bei weitem die weltweit gebräuchlichste Zweitsprache ist, so dass ihre Verwendung nicht auf ein bestimmtes geografisches Gebiet oder Menschen bestimmter Ethnien oder Nationalitäten beschränkt ist. Ein Schwede erklärte mir einmal: «Wir Skandinavier lernen nicht Englisch, um uns mit Ihnen zu unterhalten, sondern um uns untereinander zu verständigen.»

Spricht man aber bereits Englisch, ist die zweite Frage – Welche Sprache soll ich zuerst lernen? – bereits eine echte Hürde. Die Antwort darauf wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Vor vierzig Jahren, also vor dem Zeitalter günstiger Fernreisen und des Internets, war es einfacher. «Lerne die Sprache eines grossen Nachbarlandes», hiess es da. Also lernten gebildete Briten bis vor relativ kurzer Zeit meist Französisch, manche dazu noch Deutsch oder Spanisch. Heute spielt die geografische Nähe eine geringere Rolle. Auch Portugiesisch, Arabisch und Mandarin wetteifern um die Gunst der Sprachschüler, sind aber in grossen Teilen der Welt vollkommen nutzlos. Im Alter, in dem die meisten Menschen Sprachen lernen, wissen die Menschen von heute nicht, welche Teile der Welt für ihre Zukunft massgeblich sein werden.

Hinzu kommt, dass es für Englischsprechende, unabhängig von den grammatikalischen und lexikografischen Unterschieden zwischen Sprachen, immer schwerer ist, Niederländisch zu lernen als umgekehrt. Ein Niederländer lernt jeden Tag Englisch, wenn er mit niederländischen Untertiteln englischsprachige TV-Serien schaut oder online geht. Ich erinnere mich dagegen nicht, jemals eine Fernsehsendung auf Niederländisch mit englischen Untertiteln gesehen zu haben.

Schon bruchstückhafte Kenntnisse des Englischen sind für einen Niederländer nützlich, schon nur, um eine amerikanische Webseite durchzusehen oder im Ausland ein Bier zu bestellen. Von jeder weiteren Verbesserung der Sprachbeherrschung profitiert er entsprechend. Für einen Engländer, der Niederländisch lernt, gilt das nicht: Hier stellen sich die Vorteile weder sofort noch linear ein, und eine hohe Schwelle ist zu überwinden, um den Spracherwerb überhaupt nutzbringend einzusetzen. Abgesehen von allen anderen Faktoren wird jeder Niederländer, den Sie treffen, in Ihren ersten Lernjahren sehr viel besser Englisch sprechen als Sie Niederländisch. Warum also ein Gespräch in stockendem Niederländisch führen, wenn flüssiges Englisch auch möglich ist?

Ich sage nicht, dass die Briten nicht etwas besser Fremdsprachen lernen könnten. Aber dieses Defizit mit Faulheit und Dummheit zu begründen, ist ungerecht: Die Wurzel des Problems liegt in Netzwerkasymmetrien.

«Das weltweit einzige Faxgerät zu besitzen,

entspricht in etwa dem Nutzen für einen Inder,

Bretonisch zu lernen.»

Weshalb sich Handys schneller verbreitet haben als Faxgeräte

Wenn wir die heutige Welt auch nur ansatzweise verstehen – und verbessern – wollen, müssen wir diese Asymmetrien besser erforschen und verstehen. Wenn wir Menschen zum Einbau von Solaranlagen, zum flächendeckenderen Gebrauch von Videokonferenzen oder Elektroautos bringen wollen, wäre es höchst fahrlässig, dies einfach auf eine Frage des individuellen Willens herunterzubrechen. Das Problem kann im Netzwerk selbst liegen, nicht in den einzelnen Knoten.

Der Ökonom Douglas McWilliams schreibt viel darüber in seinem Buch «The Flat White Economy». Er erklärt darin, warum solche Netzwerkeffekte die Verbreitung vieler Schlüsseltechnologien erschweren, weil es Zeit braucht, die Schwelle der Verbreitung zu erreichen, an der diese Technologien wirklich wertvoll werden. Doch die meisten Ökonomen schenken diesem Forschungsgebiet wenig Beachtung – obwohl es hochrelevant ist.

Ich habe eingangs bereits von den Problemen im Zusammenhang mit «Skalierung» und «Schwellen» gesprochen, die jeder Englischsprechende beim Lernen des Niederländischen erfährt. Genau wie bei der Aneignung neuer Sprachfertigkeiten stösst man auch bei der Verbreitung neuer Technologien auf diese Probleme. Das weltweit einzige Faxgerät zu besitzen, entspricht in etwa dem Nutzen für einen Inder, Bretonisch zu lernen.

Einige Technologien können sich von Verbreitungsstufe zu Verbreitungsstufe organisch entwickeln. Aber was ist mit jenen Technologien – das Faxgerät ist ein typisches Beispiel –, deren Nutzen sich erst ab einer bestimmten Verbreitungsstufe wirklich einstellt?

Das erste Faxgerät war nutzlos. Aber Faxgeräte verbreiteten sich dennoch nach und nach, da sich einige wenige Menschen ganz zu Beginn des Faxzeitalters zwei Geräte zulegten. Ein Freund von mir tat dies in den 1970er Jahren: Seine Firma hatte zwei Standorte, einen in den USA und einen in London, die sich untereinander Daten zufaxten. Damals nutzte er die Geräte nur selten, um mit anderen Anschlüssen zu kommunizieren. Aber das genügte, damit die Technologie (die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden worden war) sehr langsam wuchs. Als der Besitz eines Faxgeräts dank schnelleren Übertragungsraten und dem Ende des Fernschreibers zunehmend üblicher wurde, stieg die Attraktivität der Geräte exponentiell an.

Aber es war immer noch ein langsames Wachstum. Hätten Telekommunikationsunternehmen mit besseren Kenntnissen von Netzwerkdynamiken vielleicht nachhelfen können, indem sie ausgewählten Personen kostenlos Faxgeräte zur Verfügung gestellt hätten?

Man stelle sich nur einmal vor, wie langsam sich Mobiltelefone verbreitet hätten, wenn nur Anrufe auf andere Mobiltelefone möglich gewesen wären. Bei seiner Einführung war das Handy ein Nischenprodukt. Ich erinnere mich, wie ich in den späten 1980er Jahren in Londons Oxford Street damit telefonierte und mich Menschen aus vorbeifahrenden Autos lautstark beschimpften. Aber die Verbreitung des Mobiltelefons war eben durch seine zweisprachige – in Tech-Sprache ausgedrückt: kompatible – Natur begünstigt: Man konnte damit auch Anrufe auf Festnetzanschlüsse tätigen und empfangen. In meinen frühen Jahren als Mobiltelefonbesitzer habe ich sehr wenige Anrufe von Handy zu Handy getätigt.

Eine Antwort auf das Rätsel, weshalb Videotelefonie sich nur relativ langsam verbreitete, liegt also in Netzwerkeffekten begründet. Sie ähnelte diesbezüglich mehr dem Faxgerät als dem Mobiltelefon. Um ein physisches Meeting durch einen Videoanruf zu ersetzen, musste eine grosse Gruppe von Menschen bereit sein, das bis dahin übliche Standardkommunikationsmedium zu wechseln. Da das bewährte Verfahren in einem physischen Meeting bestand, waren die Teilnehmer nur selten dazu bereit, anberaumte Besprechungen durch eine Remoteversion zu ersetzen.

«Die meisten Menschen haben kein Problem damit,

eine Maske zu tragen – sie wollen nur nicht die Spinner sein,

die im Bus als einzige eine tragen.»

Das Free-Rider-Potenzial

Das ist es, was die Covid-19-Krise hinsichtlich der Auswirkungen auf Videokonferenzen so interessant macht. Da sie, wenn auch nur vorübergehend, andere Formen menschlicher Begegnung abgeschafft hat, könnte sie die Verbreitung einer nützlichen neuen Technologie um zehn Jahre beschleunigt haben. Es war, als hätte die ganze Welt während vier Monaten ausschliesslich auf Niederländisch kommuniziert.

Vorzüge traten unvermutet rasch zutage, weil wir gezwungen waren, die Schwelle der flächendeckenden Verbreitung sehr viel schneller zu erreichen, als wenn wir die Dinge individuellem Handeln überlassen hätten. Wir haben viel früher einen Ausblick auf eine Welt erhalten, in der wir weniger pendeln, effektiver arbeiten und weniger Energie verbrauchen, als es bei einer klassischen Verbreitungskurve der Fall gewesen wäre.

Werden wir am Ende dieses Ausnahmezustands unsere Niederländischkenntnisse wieder verlieren? Ich vermute nicht.

Damit stellt sich eine interessante Frage. Ich will nicht vorschlagen, einmal im Jahr eine Pandemie zu fabrizieren, um die Verbreitung von Technologien zu beschleunigen. Aber gibt es Wege, mit denen diese Verbreitung durch bestimmte Eingriffe schneller erfolgen kann? Was wäre beispielsweise geschehen, hätte die britische Regierung 2018 jeden Bürger mit einem Zoomaccount ausgestattet?

Mein Freund, der australische Ökonom Nicholas Gruen, hat zu diesem Thema interessante Erkenntnisse parat. In den meisten ökonomischen Warenkategorien, so schreibt er, gebe es ein Risiko, das Wirtschaftswissenschafter das «Free Rider»-Problem nennen, also dass Menschen versuchen, von den Vorteilen öffentlicher Güter unentgeltlich zu profitieren. In Netzwerkgütern hingegen, so Gruen, könnte eine Free-Rider-Chance liegen. Stattet man etwa den ländlichen Raum mit subventionierten schnellen Breitbandverbindungen aus, übersteigt der Nutzen für alle die Kosten um ein Vielfaches.

Die Netzwerktheorie legt nahe, dass signifikante Effekte oft eher durch punktuelle staatliche Eingriffe mit eingeschränktem Geltungsbereich erzielt werden können als durch dauerhafte Gesetze, die für jeden und alles gelten, oder durch kurzfristige Anreize, die ein bestimmtes Verhalten fördern sollen.

Deshalb verstehe ich zum Beispiel nicht, weshalb Regierungen das Tragen von Gesichtsmasken nicht schon früher in der Pandemie empfahlen. Neben ihrem direkten gesundheitlichen Effekt helfen Masken psychologisch ebenso wie physiologisch. Es ist nicht verwunderlich, dass die Menschen später, als die Empfehlung endlich ausgesprochen war, unwilliger darauf reagierten. Die meisten Menschen haben kein Problem damit, eine Maske zu tragen – sie wollen nur nicht die Spinner sein, die im Bus als einzige eine tragen. Wenn der Anteil an Menschen mit Gesichtsmasken 10 oder 15 Prozent übersteigt, wird ihr Tragen normal und sogar gesellschaftlich erwünscht. Das Überschreiten dieser Schwelle kann leicht auf kreativerem Wege als durch gesetzlichen Zwang erfolgen.

Oder nehmen wir das Beispiel der Elektroautos: Anstelle von Subventionen für den Kauf der Fahrzeuge könnte der Staat dazu beitragen, die Anzahl der Ladestationen zu erhöhen, etwa durch entsprechende Auflagen für Neubauten oder Kostenübernahmen für Restaurants und Clubs, die entsprechende Parkplätze reservieren. Menschen sind eher bereit, sich ein Elektroauto zuzulegen, wenn sie ihre Nachbarn oder Gäste mit einem solchen Auto an ihrem Haus oder Lieblingsrestaurant vorfahren sehen, als wenn sie finanzielle Kaufanreize erhalten.

Puristen unter den Ökonomen mögen dies nicht gerne hören. Aber wenn die Wissenschaft effektiv in eine vernetzte Welt einwirken soll, müssen wir als erstes die Dogmen abschütteln, die wir in einer weniger vernetzten Welt entwickelt haben.

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