Cyborg? Ja, bitte!
Auch die modernste Prothese kann einen menschlichen Körperteil nur teilweise ersetzen. Dennoch sind solche Prothesen für Direktbetroffene eine hochwillkommene Unterstützung.
Der grosse Zeh aus Holz geschmeidig gehobelt und geschliffen, die Konstruktion sorgfältig mit Leder und Leinenfäden am menschlichen Fuss befestigt: So sieht sie aus, die wahrscheinlich älteste Prothese der Welt. Archäologen haben im Jahr 2000 einen künstlichen Zeh an der Mumie einer ägyptischen Priestertochter entdeckt und ihr Alter auf knapp 3000 Jahre geschätzt. Ein internationales Forscherteam bildete die Prothese im Anschluss originalgetreu nach. Das Ergebnis ist erstaunlich: Die älteste Prothese der Welt funktioniert einwandfrei und wird von Testpersonen als «besonders bequem» beschrieben.
Moderne Prothesen hingegen bieten sogar mehr als Tragkomfort: Mit eingebauten Motoren und Elektroden reagieren sie auf die Muskelimpulse des Trägers und imitieren die Bewegungsmuster eines menschlichen Körperteils. Für Prothesenträger ist die Erweiterung des eigenen Körpers durch eine Maschine weder unheimlich noch furchterregend: Sie ist eine willkommene Alltagserleichterung.
Die Ästhetik der Prothese
Aimee Mullins liebt und führt ein vielseitiges Leben: Als 21-Jährige erprobte sie sich an Olympischen Spielen im 100-Meter-Lauf und im Weitsprung. Mit 23 eröffnete sie als Model auf dem Laufsteg eine Modeschau von Stardesigner Alexander McQueen. Mit 26 lancierte sie ihre Laufbahn als Schauspielerin: Man kennt die Amerikanerin zum Beispiel als Terry Ives aus der bekannten Netflix-Serie «Stranger Things». Noch häufiger als ihren Beruf wechselt Mullins aber ihre Beine: Die heute 45-Jährige wurde mit einer Fehlbildung der Wadenbeine geboren, im Alter von einem Jahr wurden die Unterschenkel bis zu den Knien amputiert – sie läuft seit ihrer frühen Kindheit beidseitig auf Prothesen.
In ihrem Kleiderschrank stehen unterschiedliche Prothesenpaare: Für ein möglichst menschliches Aussehen zum Beispiel wählt sie Silikonprothesen, auf längeren Spaziergängen läuft sie auf Kohlenstofffaserprothesen, die dank Abfederung eine schonende Wirkung auf die Hüftgelenke haben. Auch hier zeigt Mullins sich experimentierfreudig: Während ihrer Modelkarriere präsentierte sie sich auf hölzernen, mit Ornamenten verzierten Prothesen, bei renommierten Forschern stellt sie sich als Testperson für neueste Kunststoffprothesen zur Verfügung. Mullins regt zum Nachdenken an: «Wieso gilt eine gemachte Nase als Schönheitsideal, während die Prothese häufig noch immer kritisch gemustert wird? Wer bestimmt, was als schön gilt?»
Mullins sieht sich als Versuchskaninchen einer neuen Generation, in welcher Menschen dank den Möglichkeiten der Technologie ihren Körper selber designen: «Jeden Morgen wählen wir unsere Kleider und stylen unsere Haare so, wie es uns gefällt. Wo liegt das Problem, wenn wir das auch mit unseren Beinen machen? Menschen werden bald ihren eigenen Körper auf das persönliche Optimum ausrichten können. Für manche wird das Ideal der menschliche Körper bleiben – für andere wird es darüber hinausgehen.» Sie hat grosse Hoffnungen auf den technologischen Fortschritt: «Ich hätte wahrscheinlich nie die Möglichkeit gehabt, eine professionelle Balletttänzerin zu werden. Aber wer weiss schon, ob das in 50 Jahren nicht trotz einer körperlichen Behinderung möglich sein könnte?» Das Wichtigste sei jedoch, dass man sich im eigenen Körper wohlfühle: «Wenn jemand eine Prothese nicht als Teil seines Körpers akzeptiert, wird er sie auch nicht tragen», meint Mullins.
Superheld mit Handprothese
Michel Fornasier ist 42 Jahre alt und kam ohne rechte Hand zur Welt – er brauchte lange, bis er sich mit seinem Schicksal abfinden konnte. «Mit 7 Jahren erhielt ich zum ersten Mal eine Patschhand aus Silikon – der Besuch beim Orthopäden war ziemlich traumatisierend: Wie in einem Horrorfilm stapelten sich dort im Schrank Beine und Hände», erzählt er mir. Mit den rudimentären Handprothesen wurde Fornasier nie warm – erst vor fünf Jahren fand er mit der bionischen Handprothese des schwedischen Herstellers Össur endlich ein Modell, das ihn auch ästhetisch anspricht. Dessen Funktionsweise überzeugt: Mit dem Smartphone wählt man aus insgesamt 25 Bewegungsmustern aus, touchiert mit den Muskeln im Unterarm die Felder von zwei Elektroden und gibt so den Befehl zur Ausführung. Hände schütteln, eine Wasserflasche öffnen oder im Kino Popcorn naschen – die Maschine macht es möglich. Zu einem Preis von knapp 55 000 Euro gewinnt ein Träger ungefähr 15 Prozent der Mobilität einer menschlichen Hand zurück. Eine Ernüchterung? Fornasier trainierte vier Monate lang, bis er mit seiner neuen Prothese einen Ball werfen konnte. Er kam dabei zur Einsicht, dass der menschliche Körper bis anhin unerreicht sei: «Es hat mich extrem dankbar gemacht, eine menschliche linke Hand zu haben.»
Michel Fornasier hat die Prothese als Teil seines Körpers akzeptiert – und es sich zur Vision gemacht, dass möglichst viele Kinder es ihm gleichtun. Mit seiner Stiftung «Give Children a Hand» finanziert er ihnen eine Handprothese. In Zusammenarbeit mit SwissProsthetics und der ETH wird die Prothese mit einfacher Grifffunktion in einem 3D-Drucker hergestellt und von den Kindern eigenhändig designt – der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Während die Mädchen vor allem für Motive aus dem Disneyfilm «Frozen» schwärmen, eifern die Jungen ihren Comicidolen nach. Wieso also nicht gleich eine Hulk-grüne Zauberhand, die im Dunkeln sogar leuchtet? Mit dem richtigen Look wird die Prothese plötzlich zur grossen Pausenplatzattraktion.
Gemeinsam mit dem Comiczeichner David Boller hat Fornasier die Trickfigur Bionicman geschaffen – einen Superhelden mit Armprothese, der sich gegen Ungerechtigkeiten und Mobbing einsetzt. Regelmässig schlüpft Fornasier selber in ein Bionicman-Kostüm, besucht Schulen oder Kindergärten und vermittelt den Kindern, dass ihre persönlichen Eigenheiten keine Schwäche, sondern eine Stärke sind. Als WarnerBrothers im vergangenen Jahr die Rechte an Bionicman erwerben und aus dem Superhelden eine Actionfigur machen wollte, lehnten Fornasier und Boller ab; es war nie ihre Absicht, dass die Figur à la Batman auf Rachestreifzügen durch die Strassen zieht. Doch vielleicht erlebt Bionicman schon bald sein nächstes Abenteuer: Fornasier möchte die Trickfigur zum Serienhelden ausbauen und führt aktuell Gespräche mit Netflix.
Mensch oder Maschine?
Die Supermenschen bleiben bis anhin in den Comics oder auf der Kinoleinwand: Stand heute würde wohl niemand freiwillig eine gesunde Hand für eine Roboterhand eintauschen. Zweifelsohne hat die Prothetik massive Fortschritte erzielt: Eine Prothese kann gegenwärtig dank Muskelimpulsen eine Handgelenkrotation simulieren oder eine Öffnung der Handfläche ausführen. Es ist durchaus denkbar, dass in absehbarer Zukunft weitere Bewegungsmuster dazukommen und den Unterschied von Maschine und menschlichem Körper verringern. Erste Forscher tüfteln sogar an Anwendungen, die einer Steuerung «über Gedanken» gleichkommen sollen.
Oskar Aszmann ist Professor an der Medizinischen Universität Wien und Spezialist für die Wiederherstellung von menschlichen Extremitäten. Er ist ein Pionier der Targeted Muscle Reinnervation, bei der in aufwendigen Operationen neue sensomotorische Schnittstellen zwischen Maschine und Mensch geschaffen werden. Nach einer Amputation sucht Aszmann im Stumpf die Nerven, die zuvor den Arm und die Hand gelenkt hatten, und verpflanzt sie an einen Muskel im intakten Körperbereich, zum Beispiel den Bizeps oder die Brustmuskulatur. «In Folge etablieren sich in diesem Muskel dann Bewegungssignale, die eigentlich für die Hand verantwortlich sind. Durch den neuen Nerv wird er intelligenter und kann plötzlich Dinge, die er vorher nicht konnte», erklärt Aszmann. Der Patient denkt also an eine Bewegung seines Daumens – und über die muskelbedingte Steuerung der Prothese setzt sich der Daumen des Roboters dann in Bewegung. Der Informationsaustausch von Gehirn zu Maschine wird so fluider, differenzierter und effizienter.
Doch eine menschliche Hand ist viel mehr als nur ein Empfänger, der die Befehle des Gehirns gefügig wie eine Puppe ausführt. Die Verkehrsachse Hand–Gehirn ist nämlich keine Einbahnroute: Auf einer Fläche von einem Quadratzentimeter befinden sich auf jeder einzelnen unserer Fingerbeeren knapp 1 Million Mechanorezeptoren, die elektrische Signale an unser Gehirn senden. «Sie können sich so blind ein ziemlich genaues Abbild Ihrer Hosentasche machen», erzählt Aszmann: «Wir betrachten hier eine Komplexität, die eine Maschine unmöglich reproduzieren kann.» Eine umfassende Feedbackfunktion von Hand zu Gehirn bleibt auch den Trägern der modernsten Handprothese bis heute verwehrt. Erste Prothesen experimentieren mit Kompressionen oder Vibrationen im Unterarm, die dem Träger ein Indiz über das Ausmass von Druck auf der Maschinenhand liefern können. Zweifellos ist das aber nach wie vor nicht das Gleiche, wie wenn man mit dem menschlichen Zeigefinger sanft über samtweiche Watte oder die Stacheln eines Kaktus streichelt.
Oskar Aszmann glaubt, dass schon bald kerngesunden Menschen Sensoren im Körper implantiert werden, um so Herzfrequenz und Blutzuckerspiegel messen und in Echtzeit an unser Smartphone in der Hosentasche rapportieren zu können. Auch die Prothetik wird vom steigenden Innovationsdruck durch die fortschreitende Technologisierung profitieren: Es scheint realistisch, dass wir den Informationsaustausch zwischen Mensch und Maschine in den kommenden Jahren massiv verbessern werden und die kommende Prothesengeneration noch alltagstauglicher wird. Aber werden Menschen jemals freiwillig eine natürliche Hand amputieren und sie durch eine Roboterhand ersetzen? Die komplette Aufgabe des menschlichen Körpers wird nach der Meinung des Mediziners immer die skurrile Träumerei einiger Technologieoptimisten bleiben: «Diese Menschen haben die Komplexität biologischer Organismen nicht verstanden. Die Technologie kann kein Refugium für das Phänomen Mensch werden.» Die Zukunft wird also in absehbarer Zeit menschlich bleiben – zumindest aus biologischer Sicht.