Carl Menger – Vordenker der österreichischen Schule der Nationalökonomie
Während anderswo die sozialphilosophischen Werke der Aufklärung schon längst diskutiert wurden, war die österreichische Gesellschaftstheorie noch bis weit ins 19. Jahrhundert vom Leitbild einer zentralen Staatsmacht beherrscht. So waren in Österreich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum originelle Beiträge zu den Sozialwissenschaften zu finden. Erst als unter dem Druck liberaler Kräfte die Fesseln der Zensur gelockert und wesentliche Prinzipien des modernen Verfassungsstaates eingeführt wurden, begann sich dieser Zustand zu ändern. Als erstes grosses sozialwissenschaftliches Werk dieser Zeit erschien in Wien Carl Mengers Buch «Grundsätze der Volkswirtschaftslehre» (1871). Damit gelang es ihm, die klassische Werttheorie aus den Angeln zu heben.
Alle drei grossen Gelehrten, die damals fast gleichzeitig die Grenznutzentheorie formulierten, hatten zu kämpfen. Während sich der Franzose Léon Walras in Lausanne seiner mathematischen Darstellung wegen nur an einen kleinen Kreis Gleichgesinnter richten konnte, stiess William St. Jevons in England auf Gleichgültigkeit. Menger aber sah sich der mächtigen Jüngeren Deutschen Historischen Schule gegenüber. Unter Gustav von Schmollers Führung lehnte diese Schule nicht nur theoretische sozialwissenschaftliche Forschung ab, sondern beeinflusste auch die Berufungspraktiken österreichischer Rechts- und Staatswissenschaftlicher Fakultäten. Mengers bahnbrechendes Buch wurde daher weder in Wien noch in führenden deutschen Zeitschriften beachtet.
In der Regel wird beim Heranreifen einer neuen Disziplin dem Vordenker die verdiente Würdigung erst in der folgenden Generation gewährt. Dass Menger diesem Gelehrtenschicksal entging, ist seinen beiden Schülern Eugen von Böhm-Bawerk und dessen Schwager Friedrich von Wieser zu verdanken. Sie entwickelten sein Werk zum System weiter und trugen so zur Entstehung der österreichischen Schule der Nationalökonomie bei.
Carl Menger wurde am 23. Februar 1840 als dritter Sohn in die Familie eines Anwaltes in Neu-Sandez (Nowy Sacz, heute Polen) geboren und wuchs mit seinem älteren Bruder Max, dem späteren liberal-konservativen Reichstagsdelegierten, und Anton, einem sozialistischen Theoretiker, an der galizisch-schlesischen Grenze auf. Menger begann sein Jurastudium in Wien, schloss es in Prag ab und ging 1863 als Journalist nach Lemberg (Lvov). Nach dem Bankrott der Lemberger Zeitung übersiedelte er 1864 nach Wien. In den folgenden Jahren betätigte er sich als Herausgeber und Redaktor im Journalismus, veröffentlichte einige Lustspiele und Fortsetzungsromane und vergrub sich ins Studium der Erkenntnistheorie, Soziologie und Nationalökonomie. Nachdem er 1867 in Krakau promoviert hatte, trat er der Presseabteilung des kaiserlich-königlichen Ministerratspräsidiums in Wien bei, wobei es zu seinen Aufgaben gehörte, Marktübersichten zu verfassen.
Schon früher war ihm die Diskrepanz zwischen den Annahmen der klassischen Preistheorie und der tatsächlichen Preisbildung am Markt aufgefallen. Er begriff, dass die letzte Quelle der Preisbildung beim Austausch von Gütern immer die subjektive Wertschätzung der Konsumenten sein muss, weil deren Bewertung ihrer subjektiven Präferenz immer ihrer jeweiligen Nutzenerwartung folgt. Im Herbst 1867 schrieb er daher in sein Tagebuch: «Werfe mich auf Nationalökonomie. Studiere Rau, etc.» und begann an seinen «Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre» zu arbeiten.
Während die Klassik Begriffe wie «Arbeitswert», «Nützlichkeit» oder «Gebrauchswert» noch immer undifferenziert verwendete und sich dadurch in Widersprüche verstrickte, schaffte Menger einen intellektuellen Durchbruch: aus der Knappheit wirtschaftlicher Güter folgt, dass sich der Wert nicht aus dem Nutzen der ganzen Gütermenge, sondern aus dem subjektiven Nutzen einer konkreten Teilquantität des jeweiligen Gutes ergibt. Innerhalb der subjektiv definierten Bedürfnishierarchie einer gegebenen Gütermenge resultiert demnach der Wert aller Einheiten aus dem «Grenznutzen» (F.v.Wieser). Dies ist der Nutzenzuwachs der zuletzt befriedigend eingesetzten Teilmenge. Der Umfang des Gütervorrates wird zum bestimmenden Faktor des subjektiven Wertes, und somit bilden die kausal-genetischen Beziehungen zwischen den subjektiven Erwartungen, Wertungen und Handlungen der einzelnen Menschen im sozialen Umfeld den Mittelpunkt des theoretischen Interesses. Mengers systematische Begründung des Grenznutzenprinzips und sein methodologischer Ansatz wurden für das Verständnis aller Gesellschaftstheorie von entscheidender Bedeutung.
1871 wurde er zum Sekretär im k.k. Ministerratspräsidium unter Adolf Fürst von Auersperg bestellt und veröffentlichte neben kleineren Artikeln über 30 wissenschaftliche Beiträge in der offiziellen Zeitung der Regierung. 1873 machte Kaiser Franz Josef I. Menger zum ausserordentlichen Professor an der Universität Wien und berief ihn 1876 an den Hof, damit er den achtzehnjährigen Kronprinzen Rudolf in politischer Ökonomie unterrichte. Menger begleitete Rudolf auch auf Studienreisen, bis dessen vielversprechendes Leben 1889 in der Tragödie von Mayerling endete. Mengers Nachrufe zeugen von einer tiefen persönlichen Verbindung, und sein Einfluss zeigt sich in den politischen Essays, die Rudolf (zum Teil mit Menger), aufgrund der reaktionären Haltung des Hofes meist anonym, erscheinen liess. Aufsehen erregte die visionäre Kritik an der politischen Passivität des österreichischen Adels, die 1878 in München erschien. Obwohl der Autorschaft dieser Polemik verdächtigt, wurde Menger 1879 zum ordentlichen Professor befördert.
Mengers Talent, Klarheit mit philosophischer Tiefe zu vereinen, zog Studenten aus allen Teilen Europas, Englands und den USA an. Während man in Deutschland unter Schmollers Führung noch weitgehend in theorieloser Forschung verharrte und im «Abdrucke eines Archiv-Fascikels, in Excerpten aus Enquete-Berichten oder in der morphologischen Darstellung einzelner Wirtschaftserscheinungen … den Höhepunkt wissenschaftlicher Forschung» vermutete, entwickelte sich in Österreich die Grenznutzen- und subjektive Werttheorie zum System.
Mengers folgendes Buch, «Untersuchungen über die Methoden der Socialwissenschaften und der Politischen Ökonomie insbesondere», erschien 1883 in Wien und gilt als Meilenstein der Methodologie in den Sozialwissenschaften. Sein Verdienst ist es, den Erkenntnis- und Erklärungswert wirtschaftstheoretischer Forschung gegenüber der Empirie der wirtschaftshistorischen Methode klargemacht zu haben. Seine Einsichten in Ursprung und Wesen sozialer Institutionen und seine Betonung der strikten individualistischen Untersuchungsmethode waren ein Angriff auf Schmollers Lehre. Dort meinte man, ausschliesslich durch das Studium geschichtlicher Entwicklungen jene empirischen Gesetze entdecken zu können, mit denen dann soziale Erscheinungen zu erklären wären.
Auf Schmollers aggressive Rezension der «Untersuchungen» reagierte Menger 1884 postwendend mit einer brillanten Polemik über «Die Irrtümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie». Die daran anschliessende Debatte, die nicht nur von den Meistern, sondern auch von ihren Schülern ausgefochten wurde, ist später als «Methodenstreit» in die Bücher eingegangen. Sie trug entscheidend zur Festigung von Mengers Lehre und zum Weltruf der österreichischen Schule bei.
1892 nahm Menger eine führende Stellung in der Österreich-Ungarischen Währungskommission ein, in der neben Böhm-Bawerk und Sax noch mehrere seiner Schüler vertreten waren, und veröffentlichte bis 1893 eine ganze Reihe wichtiger geldtheoretischer Arbeiten. Besonders ist sein Beitrag über Geld hervorzuheben, in dem er seinen individualistischen Ansatz auf die Theorie des Geldes anwendet. Seine Darstellung des Ursprungs und der Entwicklung des Geldes als gesellschaftlich spontaner und nicht durch Verordnung entstandener Institution ist fundamental. Rund 20 Jahre später hat Ludwig von Mises diesen Ansatz erfolgreich in seiner Theorie des Geldes und der Umlaufmittel (1912) weiterentwickelt.
Nachdem Menger 62jährig Vater geworden war, zog er sich ab dem Wintersemester 1903/04 von seiner Lehrtätigkeit zurück und widmete sich dem Studium der Psychologie, der Philosophie, dem Angeln in der Donau und seinem heranwachsenden Sohn Karl. Das geplante Werk über Wesen und Methodik der Sozialwissenschaften blieb leider unvollendet. Carl Menger starb am 26. Februar 1921 in Wien.