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Carl Lutz

Ein Appenzeller, der 60’000 Juden das Leben rettete «Man muss der neuen Generation die Wahrheit in ihrer ganzen Bedeutung zur Kenntnis bringen. Aber: wird diese Erkenntnis auch tatsächlich zur Folge haben, dass künftig zwischen
den Menschen kein Unterschied mehr gemacht wird? Wird je die Zeit kommen, in der Humanität – Menschenliebe – Näch-stenliebe – nicht bloss Schlagworte zweifelhaften Wertes sind?»

Die Zahlen sind im einzelnen schwer bestimmbar, als gesichert gilt jedoch: der aus Walzenhausen in Appenzell Ausserrhoden stammende Carl Lutz hat 1942 bis 1945 in Budapest mehr als 60’000 Menschen vor dem Tod bewahrt. Seine Rettungstat zählt zu den erfolgreichen Fällen von Widerstand gegen den nationalsozialistischen Rassenwahn. Dabei setzte der damalige Schweizer Konsul in Ungarn auch sein eigenes Leben aufs Spiel. Er täuschte ungarische Behörden und deutsche Besatzer in grossem Stil, befreite einen drangsalierten Juden aus den Fängen ungarischer Faschisten, identifizierte eine Vielzahl von Ausweispapieren Verfolgter wider besseres Wissen als authentisch. Lutz inspirierte durch sein mutiges Wirken auch andere Diplomaten in Ungarn zu ähnlichen Aktionen. Raoul Wallenberg etwa, Spross einer der reichsten Familien Schwedens, gelangte im Jahre 1944 unter diplomatischem Schutz nach Budapest, um mit Lutz in Kontakt zu treten. Wallenberg verteilte an die Juden Schutzpässe, die sie als schwedische Staatsbürger auswiesen und ihnen erlaubten, in ihre «schwedische Heimat» zurückzukehren. Während der Schwede nach seinem 1945 in sowjetischer Gefangenschaft erfolgten Tod weltbekannt wurde, blieb es in seiner Heimat um Lutz eigentümlich still.

Carl Lutz war im Jahre 1942 mit der Emigration ungarischer Juden nach Palästina in Berührung gekommen. Die Schweiz war damals völkerrechtliche Schutzmacht des Vereinigten Königreichs und vertrat dessen Interessen in Ungarn. Die Emigration in das von den Briten verwaltete Völkerbunds-Mandatsgebiet Palästina fiel in Lutz’ Zuständigkeit, der in der schweizerischen Gesandtschaft die «Abteilung für fremde Interessen» leitete.

Im Kern bestand Lutz’ Aktion aus der massenhaften unerlaubten Abgabe von reisepassähnlichen Dokumenten an Juden. Ihren Anfang nahm sie im März 1944 mit der deutschen Besetzung Ungarns. Bis zu jenem Zeitpunkt war das mitteleuropäische Land mit Deutschland verbündet gewesen, wobei seine Souveränität im wesentlichen respektiert worden war. Judenverfolgungen hatten sich – trotz einem verbreiteten und kruden Antisemitismus – einigermassen in Grenzen gehalten.

Nach der Besetzung Ungarns waren die Juden unmittelbar von Deporta-

tion in Vernichtungslager bedroht. Lutz, der sich Jahre zuvor einmal erfolgreich für deutsche Interessen eingesetzt hatte, erlangte in einer günstigen Stunde die Auswanderungserlaubnis für mehrere tausend Juden. Diese Zusage bildete die Grundlage für seine Täuschungsaktion. In der Vereinbarung war von 7’800 «Einheiten» die Rede gewesen – «Mensch» und «Einheit» bedeutete in der nationalsozialistischen Sprachregelung dasselbe. Allerdings konnte man darunter auch «Familie» verstehen. Als in den Frühjahrs- und Frühsommermonaten 1944 fast eine halbe Million ungarischer Juden in Polen ermordet wurden, entschloss sich Lutz zur grosszügigen Auslegung der Vereinbarung. Er begann, von ihm erfundene, sogenannte «Schutzbriefe» zur Ausreise nach Palästina abzugeben.

Die auf Papier der schweizerischen Gesandtschaft gedruckte Urkunde – Wallenberg imitierte dann dieses Prinzip – erweckte den Eindruck, der Inhaber stehe unter diplomatischem Schutz der Schweiz. Jeder Schutzbrief wurde mit einer Nummer zwischen 1 und 7’800 versehen, der Zahl der genehmigten Ausreisen. Die einzelnen Nummern wurden vielfach vergeben; so blieb die Inflation der Dokumente eine Weile unentdeckt. Lutz’ Vorgesetzte in Bern wussten von alledem nichts.

In den meisten Fällen schützte das Papier tatsächlich vor Übergriffen. Dabei spielte auch die Stellung der Schweiz als eines neutralen Landes eine Rolle; sie wurde, mit steigender Absehbarkeit des Kriegsendes – und damit einer möglichen Vergeltung –, zusehends wichtiger. Insbesondere die Ungarn wollten die Schweiz nicht unnötig vor den Kopf stossen. Dies verschaffte Lutz zeitweilig einen gewissen Schutz. Tausende von Juden brachte er zudem in Gebäuden unter, die unter schweizerischer Verwaltung standen. Deren Rechtsstatus der Exterritorialität – nach damaligem Gesandtschaftsrecht – verbot ungarischen Behörden und Deutschen den Zutritt. Die Verfolgten waren hier in der Regel sicher.

In den letzten Monaten des Jahres 1944 und anfangs 1945 schwebte Lutz selbst in ständiger Lebensgefahr. Die Deutschen hatten entdeckt, dass er falsche Schutzbriefe in Umlauf gebracht hatte. Um dem ein Ende zu setzen, ersuchte der Reichsbevollmächtigte in Ungarn, Edmund Veesenmayer, um die Erlaubnis, Lutz zu liquidieren. Der Diplomat hat es wohl den Kriegswirren um die Zeit des Jahreswechsels zu verdanken, dass es nicht soweit kam. Im Januar 1945 flohen die Deutschen. Budapest wurde von den Truppen der Sowjetunion besetzt.

Lutz folgte bei seinem Rettungsunternehmen gemäss eigener Darstellung seinem Gewissen. Da er der Schweiz gegenüber stets Loyalität bewies, dürfte ihm das Beiseiteschieben von Hierarchien und internationalem Recht nicht leichtgefallen sein. Seinen Aufstieg hatte er seiner Zuverlässigkeit im Staatsdienst zu verdanken. Nach dem Überschreiten der roten Linie zu Rechtsbruch und Widerstand, entwickelte er als Retter freilich geradezu unternehmerische Qualitäten. Er pflegte fiebrig Kontakte zu Entscheidungsträgern, log Ungarn und Deutsche an, wo ihm dies opportun erschien, unterschlug Bern gegenüber Informationen. Körperlich bewegte er sich an den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit.

In Budapest sprach sich sein Name unter den Verfolgten bald herum; er soll Zeugen zufolge unter Ungarns Juden einen nahezu messianischen Klang gehabt haben. Nach dem Krieg und seiner Rückkehr in die Schweiz hoffte Lutz auf offizielle Anerkennung. In seinem Heimatland, wo ihm dies am wichtigsten gewesen wäre, wurde ihm die Erfüllung dieses Wunsches jedoch zu Lebzeiten weitgehend versagt. Lutz starb 1975.

Über die Gleichgültigkeit der offiziellen Schweiz Lutz gegenüber, ist schon einiges geschrieben worden. Fälschlicherweise wurde dabei behauptet, er sei für seine Aktion gerügt oder gar bestraft worden. Richtig ist: seine Vorgesetzten verhielten sich weitgehend indifferent. Sie interessierten sich nicht für seine Berichte, reagierten kaum, was Lutz persönlich schwer traf. Interessante Posten wurden ihm vorenthalten, und die Ernennung zum Generalkonsul – Abschluss einer erfolgreichen Konsularlaufbahn – erfolgte erst in den 1960er Jahren. Auf eine Gehaltserhöhung wurde verzichtet. Man behandelte Lutz wie einen, dessen Karriere wegen Kompetenzüberschreitungen ins Stocken geraten war.

Der Kampf um Anerkennung wurde für Lutz mit der Zeit zur Obsession. Der von Natur aus unsichere Mann fiel in Depressionen, die zusehends schwerer wurden. Auch die Verleihung des Ehrenbürgerrechts durch die Gemeinde Walzenhausen in den 1960er Jahren brachte nur punktuelle Linderung. Sein persönliches Umfeld litt schwer unter seiner Bitterkeit. Im Ausland dagegen fand seine Tat mehr Beachtung. Mehrere Regierungen, unter ihnen jene der Vereinigten Staaten und Deutschlands, ehrten ihn; in der jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem wurde für Lutz und seine erste Frau Gertrud je ein Baum gepflanzt, in der «Allee der Gerechten unter den Völkern».

In den 1990er Jahren nahm das Interesse der Schweiz an Lutz sprunghaft zu. Behördenvertreter reisten seither mehrfach zu Gedenkveranstaltungen nach Budapest, Bundesrat Flavio Cotti hielt 1995 eine Rede zu Lutz’ hundertstem Geburtstag, und in den letzten Jahren erinnerten zwei von der Schweiz unterstützte Ausstellungen an dessen Wirken in Ungarn. Seit kurzem widmet ihm ein Lehrmittel des Kantons Zürich gar zwei Seiten. Trotz dieser Aufmerksamkeit ist allerdings bemerkenswert: der Name des Retters von mehr als 60’000 Juden ist den meisten Schweizerinnen und Schweizern weiterhin unbekannt.

Wie kam es, dass eine Tat von solchen Dimensionen jahrzehntelang ignoriert wurde? Thesen des Historikers Thomas Maissen bieten eine plausible Erklärung. Die Schweizer Wahrnehmung der Kriegsjahre von 1939 bis 1945 sei bis Mitte der 1990er Jahre durch eine reine Binnenperspektive geprägt gewesen. Als relevant betrachtete man nur, was spezifisch schweizerische Themen und Interessen betraf: Landesverteidigung, Lebensmittelknappheit, Angst vor den Deutschen. Lutz’ Rettungsaktion lag, so gesehen, zweifach jenseits des schweizerischen Wahrnehmungshorizonts. Sie hatte mit Landesverteidigung und -versorgung nichts zu tun; vor allem aber betraf sie Opfer, die in keiner Verbindung zur Schweizer Geschichte standen.

Psychologisch war die Sache komplexer. Man konnte Lutz nicht als Held wahrnehmen, weil dies den emotionalen Gewinn in Frage gestellt hätte, den die nach 1945 dominierende helvetische Weltkriegserinnerung abwarf: die Kriegsperiode war ein Höhepunkt der Schweizer Neutralitätsgeschichte. Die Rolle des Zuschauers beim Weltgeschehen wurde in dem Zusammenhang nicht nur als lebensnotwendig empfunden. Wegen ihrer Unvereinbarkeit mit einer Aggressorenrolle schrieb man ihr zugleich besondere moralische Qualitäten zu. Eine solche Vorstellung der Überlegenheit des Passiven war mit dem Brennpunkt von Lutz’ Geschichte nicht kompatibel: diese erzählte von innerem Imperativ zu Anteilnahme, gar um den Preis des eigenen Lebens. Wenn ein einzelner so viele retten konnte, was wäre nicht alles möglich gewesen, hätte man nur gewollt?

Mit dem schweizerischen Weltkriegsbild war die Budapester Geschichte noch aus einem anderen Grund nicht vereinbar. Das Leid der Juden liess die Leistungen der Schweiz, als einer von Kriegstoten verschonten Nation, verblassen. Unter normalen Umständen sind Entbehrungen und Standhaftigkeit Gründe für legitimen Stolz. Doch gebot hier der Takt nicht eine andere Haltung als eine solche ostentativer Freude an der eigenen Erfolgsgeschichte?

Lutz’ «Entdeckung» hatte sehr handfeste Hintergründe. In der Debatte über nachrichtenlose Vermögen – geführt vor dem «Tribunal» einer aggressiven internationalen Medienöffentlichkeit – stand die Schweiz als angeblich ruchloser Holocaust-Profiteur am Pranger. Einer wie Lutz kam hier wie gerufen. Dass man ihn ein halbes Jahrhundert lang totgeschwiegen hatte, spielte angesichts der unangenehmen Situation keine Rolle mehr.

Kommt hinzu, dass das Deutungsmonopol der sogenannten Aktivdienstgeneration hinsichtlich der Weltkriegsjahre in jener Zeit bröckelte. Einer grossen Anzahl der Meinungsbildenden fehlte in den 1990er Jahren die biographische Prägung durch die Kriegsjahre. Ein Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung der etablierten Deutung bestand zusehends weniger. Der Blick auf jene Zeit wurde freier und kritischer. Im nun möglichen, nuancierteren, auch relativierten Bild entstand – neben Anerkennung für Geleistetes – auch Platz für jene, die sich der Rolle des neutralen Zuschauers verweigert hatten: Paul Grüninger etwa oder Louis Häfliger – und eben Carl Lutz.

Carl Lutz freilich hätte als strahlender Schweizer Held nicht getaugt. Ernst, gewissenhaft und scheu, wie er war, fiel ihm der Umgang mit Menschen schwer. Bereits mit 18 Jahren war er, in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg, in die USA ausgewandert. Unter grossem Heimweh hielt er sich zunächst fünf Jahre lang im rauhen Milieu einer Emailfabrik in der Nähe von St. Louis über Wasser. Nach einer Collegeausbildung gelang ihm der Einstieg in den konsularischen Dienst der Schweiz, der ihn in den 1930er Jahren nach Palästina führte. Daselbst wurde er Zeuge eines Lynchmordes, der für sein späteres Engagement für Verfolgte möglicherweise entscheidend war.

Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass Carl Lutz, der spätere Retter mehrerer zehntausend Juden, in frühen – und teilweise auch nicht mehr ganz jungen Jahren – einer ganzen Reihe von Rassestereotypen anhing. Nach dem Besuch eines Schwarzenquartiers in den USA etwa schrieb er angesichts dort angetroffenen Elends und sexueller Freizügigkeit: «Es scheint mir, der Teufel liebt die Schwarzen mehr als die Weissen.» Solche Äusserungen sind freilich im damaligen Kontext zu sehen. Und sie schmälern auch seine Leistung während des Zweiten Weltkriegs nicht. Im Gegenteil – derselbe gebrechliche und unsichere Mann stemmte sich wenig später mit aller Kraft gegen den Rassenwahn.

OLIVER DIGGELMANN, geboren 1967, ist Professor für Völkerrecht, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Andrássy-Universität Budapest.

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