Bundesräte als Abstimmungskämpfer
Wieviel Führung braucht der Souverän?
Die politische Macht ist vielfach geteilt im Schweizer Bundesstaat; einerseits noch immer vertikal, zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden; anderseits aber auch funktional, zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Behörde und dem in letzter Instanz entscheidenden Souverän. Auch in der Politik empfindet man zuweilen das Bedürfnis nach Führung, obwohl der Begriff in der Bundesverfassung sorgsam ausgespart ist. Anders als in den Kantonen vermied man es auch in der 1999 erneuerten Verfassung, den Bundesrat, die «oberste leitende und vollziehende Behörde», Regierung zu nennen. Die gelebte Wirklichkeit unterscheidet sich vom staatsbürgerlichen Understatement jedoch erheblich. Die Kritik an der lähmenden Kompromiss- und Konsenskultur wird begleitet vom Ruf nach stärkerer Führung. Versucht die Regierung allerdings, vorsorglich zu handeln, wird der Führungsanspruch gleich wieder verdächtig und alsbald zurückgestutzt.
Die Frage der Führung stellt sich einerseits zwischen Bundesrat und Parlament. Ohne die Sachkompetenz der Verwaltung – und damit der Regierung – kann Gesetzgebung nicht seriös betrieben werden. Das Parlament hat in letzter Zeit mehrmals eigene Akzente gesetzt, zuweilen gegen den Widerstand des Bundesrates. Auch wenn es dafür die Verantwortung trägt – die allerdings nicht eingeklagt werden kann – , so bleibt das Regieren mit dem Erlass und dem Vollzug von Gesetzen dennoch die gemeinsame Sache beider Behörden, zumindest aus der Sicht der Bürgerschaft.
Und damit kommt die Frage ins Spiel, wie mit dem Souverän umgegangen wird, wenn dieser zum Entscheid über Initiativen und Referenden aufgerufen wird. Zu den Inhalten der Erlasse hat er nichts zu sagen, er kann sie nur gutheissen oder ablehnen. Darf er, will der Souverän dabei «geführt» werden? Ihm liegt immer ein Antrag des Parlamentes vor, und für die vollziehende Behörde übernimmt es die Bundeskanzlei, dafür die nötigen Informationen und die Begründung zu liefern. So nüchtern formuliert, ist das wohl unbestritten. Schwieriger wird es, wenn es um die Abstimmungskampagnen geht, die mit propagandistischen Mitteln geführt werden. Da Referenden in der Regel dann stattfinden, wenn schon im Parlament die gegensätzlichen Interessen nicht unter einen Hut gebracht werden konnten, ist es Sache der Parteien und Interessengruppen, die hinter der Mehrheit und der Minderheit stehen, diesen Kampf in der Öffentlichkeit auszutragen. Der Bundesrat gehört, auch wenn er ein legitimes Interesse an der vorgeschlagenen Lösung hat und dies durchaus darlegen soll, nicht in ein «Lager» von Partei- und Interessenvertretern, sondern hat eine übergeordnete Sicht zu vertreten.
Es ist deshalb zu begrüssen, dass die in den letzten Jahren entwickelte «Arena»-Kultur, die den zuständigen Bundesrat immer stärker in die Rolle des ersten Abstimmungskämpfers versetzte, nun plötzlich in Frage gestellt wird, auch wenn dies zunächst eher persönliche und parteipolitische Gründe hatte. Die Entwicklung war lange Zeit in die andere Richtung gelaufen; die behördlichen Informationsaktivitäten hatten immer öfter den Charakter von Public-Relations-Kampagnen angenommen. Die Verwaltung hatte ihre «Interessen» ziemlich ungeschminkt vertreten, und die Bundesräte schienen an dieser Art persönlicher Publizität zunehmend Gefallen zu finden. Es ist noch keine zwanzig Jahre her, dass sich die Bundesräte die strikte Regel gaben, an kontradiktorischen Abstimmungs- und Diskussionssendungen des Fernsehens nicht teilzunehmen. Das Pendel hat in der Zwischenzeit auf die andere Seite ausgeschlagen und schwingt nun möglicherweise wieder etwas zurück. Es lohnte sich, die Informationspraxis auf Regierungsebene grundsätzlich zu überdenken und nicht fallweise von politischer Taktik und persönlichen Empfindlichkeiten abhängig zu machen.
Ulrich Pfister, geb. 1941, ist Publizist in Zürich.
(ulrich.pfister@bluewin.ch)