Bürokraten haben die Schweiz verteidigungsunfähig gemacht
Die Stimmbürger haben sich immer wieder für die Schweizer Armee ausgesprochen; dennoch ist sie vom Verteidigungsdepartement krankgeschrumpft worden.
Die Welt staunt über den Wehrwillen der Ukraine. Zur Überraschung aller verteidigt sich das Land seit über einem Jahr gegen den russischen Angriff. Obwohl die russische Armee keine grösseren Geländegewinne mehr erzielt, tut sich die Ukraine schwer mit der Rückeroberung der besetzten Gebiete. Als die Ukraine im Februar 2022 angegriffen wurde, zählte ihre Armee etwa 260 000 Soldaten, die in mehreren Mobilisierungswellen auf mindestens 500 000 erhöht wurden. Die Ukraine verpflichtet Männer zwischen 18 und 60 Jahren zum Militärdienst und verbietet ihnen, das Land zu verlassen. Die westliche Welt hat sie erst nach monatelangem Zögern logistisch unterstützt. Ein Jahr nach Kriegsausbruch wollte auch der Schweizer Bundesrat über Umwege 25 Panzer beisteuern.
Das beweist mehrere Dinge: Erstens, dass es möglich ist, sich als kleines Land gegen einen überlegenen Aggressor zu verteidigen. Zweitens, dass nur demjenigen geholfen wird, der nicht sofort überrannt wird. Drittens, dass ein Verteidigungskampf über einen längeren Zeitraum geführt werden muss. Viertens beweist die Ukraine, welche Kraft in Milizarmeen steckt, und fünftens, dass die Verteidigung nicht freiwillig sein kann. Übrigens unterstreichen auch die russischen Truppen mit ihrer zähen Verteidigung der besetzten Gebiete die vorteilhafte Ausgangslage für einen vorbereiteten Verteidiger auch gegen einen inzwischen mit modernsten westlichen Waffen ausgerüsteten Angreifer.
Stetige Abrüstung seit 1989
Wie steht es um die Verteidigungsbereitschaft der Schweiz? Leider schlecht. Schon in den 1980er-Jahren kamen Teile der Linken zur Auffassung, eine militärische Landesverteidigung sei sogar im Erfolgsfall so zerstörerisch, dass eine Fremdbesetzung das kleinere Übel wäre. Nach dem Ende des Kalten Krieges verbreitete sich zudem in Teilen der bürgerlichen Politik die Vorstellung, dass Kriege der Vergangenheit angehörten. Seither ist die Schweizer Armee in einem stetigen Abrüstungsprozess. Die Armeeausgaben und die Dauer der Dienstpflicht wurden zurückgefahren. Truppenbestände, Bewaffnung, Ausrüstung und Geländeverstärkungen wurden abgebaut.
Noch 1994 verfügte die Armee über einen Sollbestand von 625 000 Mann, der auf heute 100 000 gesenkt wurde. Ähnlich dramatisch ist die Reduktion der verfügbaren Kampfmittel. Die Anzahl Kampfpanzer verringerte sich von 860 auf 230 (davon sind 96 ohne Kampfwertsteigerung eingelagert). Ähnlich sieht es aus bei den Artilleriegeschützen (von 473 auf 133) oder den Kampfflugzeugen (von 272 auf 86 Kampfflugzeuge, wovon nur die 30 F/A-18-Modelle von 1997 kampffähig sind). Nur Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden hierzulande aus Kostengründen Panzerhaubitzen verschrottet!
Aktuell besteht das sogenannte Heer nur noch aus drei mechanisierten Brigaden, von denen lediglich zwei Kampfpanzer haben. Die Infanterie gehört seit 2003 nicht mehr zum Heer und besteht aus aktuell noch 17 Bataillonen. Sie sind in vier Territorialdivisionen ohne Panzer und Artillerie eingeteilt, deren Hauptauftrag die Unterstützung der Behörden in ihrer Region ist. Insgesamt hat die Armee also nur knapp 30 000 Mann im Sollbestand, die am Boden kämpfen könnten. Genügend Ausrüstung ist aber nur für die Hälfte vorhanden, es mangelt auch an Munitionsvorräten.
Doktrinäre Verwirrung und Verzettelung der Kräfte
Aufgrund der faktischen Wahlfreiheit zwischen Militär- und Zivildienst seit 2009 leistet pro Jahrgang ein Viertel der wehrfähigen Männer keinen Militärdienst. Auch gediente Soldaten und Offiziere können sich vom Militärdienst befreien, indem sie ein Zivildienstgesuch stellen. Nehmen wir den Kriegsfall an – wer würde denn kein Zivildienstgesuch stellen? Im Militär zeigt sich als Resultat eine zunehmende Überkaderung der Verbände in den Wiederholungskursen, denn auf Stufe der Soldaten fehlt bis zur Hälfte des Sollbestandes.
Zudem werden der Armee immer mehr Aufträge zur Bewältigung von nichtkriegerischen Bedrohungen aufgebürdet: von der Unterstützung der Polizei bei zivilen Unruhen, der Abwehr von Cyberangriffen bis hin zur Unterstützung ziviler Grossanlässe. Selbstverständlich muss die Armee für alle diese Aufgaben Ausbildung betreiben, Richtlinien und Reglemente verfassen, Spezialmaterial anschaffen und Wehrpflichtige dafür ausheben.
Teilweise sind die Einsätze auch widersprüchlich. So liegt bei der Unterstützung der Polizei die Einsatzverantwortung bei der Polizei und die Truppen haben möglichst keine Gewalt anzuwenden – was der Situation im Kampfeinsatz diametral widerspricht. Das Resultat ist eine doktrinäre Verwirrung und eine Verzettelung der ohnehin immer knapper werdenden Mittel und der Ausbildungszeit.
Die intellektuelle Legitimation dieses Abbaus der Verteidigungsfähigkeit liefern die sogenannten «Sicherheitspolitischen Berichte», die dem Parlament seit Ende der 1990er-Jahre im Mehrjahresabstand vorgelegt werden. In diesen Berichten sollten jeweils die sicherheitspolitischen Risiken analysiert und dann in Empfehlungen umgemünzt werden. Sie orientieren sich aber leider eher an den finanziellen Sparzielen als an der zu erzielenden Sicherheitswirkung. Seit dem Bericht Brunner 1998 geht die ideologische Tendenz dahin, dass eine militärische Bedrohung unwahrscheinlich und eine autonome Verteidigung unmöglich sei.
Ausschluss von militärischen Positionen aus der Sicherheitspolitik
In letzter Instanz werden diese Berichte von einem Stab im Generalsekretariat des Verteidigungsdepartements (VBS) orchestriert, dem sogenannten «Bereich Sicherheitspolitik» (SIPOL), der als höchster Berater des Bundesrats in Fragen der Sicherheitspolitik gilt. Diese SIPOL besteht aus gut 20 zivilen Mitarbeitern und agiert losgelöst von der Armeeführung. Aktuell ist vorgesehen, diesen Bereich aufzuwerten und in den Rang eines Staatssekretariats zu heben. Womit die militärischen Positionen noch mehr unter administrativ-ideologische Räder zu kommen drohen.
Weder im Stab der SIPOL noch in den Kommissionen, die jeweils zur Herausgabe eines sicherheitspolitischen Berichts ernannt werden, scheinen sich Befürworter einer Gesamtverteidigung zu finden. Dies, obwohl sich das Stimmvolk in Volksabstimmungen immer wieder grossmehrheitlich für die Armee ausgesprochen hat. An den SIPOL-Berichten sind erstaunlicherweise auch die sicherheitspolitischen Kommissionen des Parlaments nicht beteiligt. Sicherheitspolitik ist heute mehr ein Primat der zivilen Verwaltung als der Politik.
«Sicherheitspolitik ist heute mehr ein Primat der zivilen Verwaltung als der Politik.»
Die Armeeführung ihrerseits verfasst immer wieder Berichte zur aktuellen Einschätzung der Schweizer Verteidigungsmöglichkeiten, so etwa zur «Zukunft der Bodentruppen»; auch auf diese Schriften nimmt die nichtmilitärische VBS-Führung massiv Einfluss. Es wird darin wortreich behauptet, dass eine kleinere, billigere, weniger gepanzerte und weniger auf Kampf ausgerichtete Armee in der aktuellen Situation ausreiche – begründet je nachdem mit Schlagworten wie «Konstabulisierung», «hybride Kriegsführung» oder «dynamische Raumverteidigung».
Dem massiven Abbau zum Trotz wurde die aktuelle Armee regelmässig als einsatztauglich angepriesen; es wurde gar behauptet, die Abbauschritte seien militärisch von Vorteil und die Armee dadurch besser einsatzbereit. So wurden die reichlich vorhandenen Bunkerstellungen und Festungsminenwerfer als militärisch unnötig deklariert, da sie leichte Ziele für Präzisionswaffen seien. Dass sie auch Feuerkraft hatten, die jetzt fehlt, blieb unerwähnt. Noch am 2. Juni dieses Jahres lobte sich das VBS selbst im bundesrätlichen Bericht zur «Weiterentwicklung der Armee» (WEA). Das Reorganisationsprojekt habe seine Ziele erreicht, die Armee «modern und flexibel auf die Zukunft auszurichten, die Bereitschaft zu erhöhen, (…) die Ausrüstung zu verbessern». Milizoffiziere waren irritiert.
Böses Erwachen
Unter Verteidigungsministerin Viola Amherd haben die Beziehungen zwischen VBS und Armee einen neuen Tiefpunkt erreicht. Über Amherds mangelndes Interesse an der Armee wurde in den Medien schon vielfach berichtet: Ausser zum Chef der Armee Thomas Süssli habe sie keinen Kontakt mit der Armeeführung. Sie sei auch der letztjährigen Grossübung «Pilum», mit 5000 Mann im Einsatz die grösste Übung seit 1989, ferngeblieben. Interesse an der Armee zeige sie nur, wo es um Frauenförderung oder Umweltschutz gehe.
«Unter Viola Amherd haben die Beziehungen zwischen VBS und Armee einen neuen Tiefpunkt erreicht.»
Doch nun, seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, gesteht sogar VBS-Vorsteherin Amherd ein, dass die Schweizer Armee nicht ernstfalltauglich sei. An der Delegiertenversammlung der Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG) in Brugg Windisch im März 2023 sagte sie: «Wir müssen die Verteidigungsfähigkeit der Armee verbessern (…) Seit dem Ende des Kalten Krieges wurde die Armee auf Einsätze zur Unterstützung ziviler Behörden ausgerichtet. Für den unwahrscheinlichen Verteidigungsfall ging man von längeren Vorwarnzeiten aus. Budget und Bestände wurden gesenkt, die Verteidigung auf Kernkompetenzen reduziert.»
Auch Armeechef Süssli hat in einem Referat in Glarus die spärlich vorhandene Ausrüstung beklagt. So gebe es nur genügend Material, Waffen und Fahrzeuge, um 8 Infanterie- und 2 Panzerbataillone vollständig auszurüsten. Bei Kampfhandlungen dürften die Munitionsvorräte nur für ein paar Tage ausreichen, denn seit Jahren wurde Munition nur noch für die Ausbildung beschafft. Ziemlich klar scheint, dass die Armee für den Ernstfall massiv ausgebaut und reorganisiert werden müsste. Unklar ist, wie dies geschehen würde.
Ende August verkündete Süssli in der Kaserne Bülach vor hochrangigen Offizieren eine neue Ausrichtung der Armeeplanung unter dem Titel «Die Verteidigungsfähigkeit stärken». Auch hier glänzte Bundesrätin Amherd durch Abwesenheit. Leider bleibt auch dieser Bericht im Bereich der Lippenbekenntnisse. Es ist nicht ersichtlich, wie man die zentralen Probleme zu lösen gedenkt. So sollen die bestehenden drei mechanisierten Brigaden zu zwei mechanisierten Divisionen mutieren, wobei die Anzahl Kampfpanzer immerhin so weit erhöht würde, dass alle sechs Panzerbataillone genügend Kampfpanzer hätten. Die Infanterie bleibt Unterstützungstruppe der zivilen Behörden und ist weiterhin nicht Teil der Kampftruppen.
Viele Fragen bleiben offen: Wären die aktuellen Verbände die Mittel der ersten Wochen, um daneben den Aufwuchs in die Wege zu leiten? Würden mit dem Aufwuchs gefallene Soldaten in den bestehenden Verbänden ersetzt oder neue Verbände gebildet werden? Gäbe es dann immer noch die Möglichkeit, durch ein simples Gesuch in den Zivildienst zu wechseln?
Allzeit bereit – aber wozu?
Im grellen Kontrast zur desolaten Situation steht aktuell die sogenannte Bereitschaft. Gemäss den «Vorgaben zur Bereitschaft von Formationen» der Armeeführung will man ständig in der Lage sein, bis zu 35 000 Soldaten innert zehn Tagen in den Einsatz bringen zu können; die Armeeführung scheint hier innert Tagen höchste Bedrohungen der inneren Sicherheit zu erwarten. Wie die Bereitschaft mit den aktuellen Unterbeständen und dem Material- und Munitionsmangel sichergestellt sein soll, ist unklar. Diese ständige Bereitschaft, im Jargon der Armeeführung «Perlenkette» genannt, schränkt natürlich den Ausbildungsbetrieb ein und führt zu unnötigen Härten für die Wehrmänner. So müssen deswegen auch WKs während der Schulferien und über Feiertage stattfinden.
All diesen Missständen zum Trotz sind die Miliztruppen und -kader motiviert, die in den Schulen und Wiederholungskursen gestellten Anforderungen zu erfüllen. Auch sind die Berufsmilitärs an der Ausbildungsfront meist mit Herz und Seele bei der Sache. Immer wieder erlebt der Schreibende Miliz- und Berufssoldaten mit ausserordentlichem Engagement. Das Problem der Unterbestände wird durch Zusammenlegen von Zügen abgefedert. Doch leider hilft der gute Wille auf unterer Stufe nichts, wenn das Gesamtsystem nicht taugt.
Es ist vermutlich richtig, von einer mehrjährigen Vorwarnzeit vor einem kriegerischen Konflikt in unserem Land auszugehen. Die Hauptaufgabe unserer Armee ist auch in diesen Zeiten nicht etwa die jederzeitige Einsatzbereitschaft, sondern lediglich die militärische Ausbildung und dazu die logistische und konzeptionelle Vorbereitung eines Aufwuchses. Dazu müssen Ausrüstung, Bewaffnung und Munition für eine bei Bedarf stark vergrösserte Armee existieren. Auch sind feste Waffenstellungen, Hindernisse und Anlagen vorzusehen.
Natürlich ist aktuell eine Entlastung der männlichen Bevölkerung durch eine Reduktion der Dienstdauer sinnvoll und die aktuell Eingeteilten könnten auch weniger als 100 000 umfassen. Jedoch sollte jeder fähige Mann Dienst leisten müssen und bei Eignung auch für eine Weiterausbildung verpflichtet werden. Dies erlaubt, das volle Potenzial der Miliz auszuschöpfen.
Es müsste auch bereits die gesetzliche Grundlage geschaffen sein, die im Ernstfall eine rasche Erhöhung der Bestände bis zu einer Truppenstärke von bis zu einer Million (80 Prozent der Männer zwischen 20 und 50 Jahren) erlauben würde. Die Armee sollte so organisiert sein, dass im Ernstfall mit dem Aufwuchs eine genügende Zahl an Kampfverbänden existiert. Von diesen wäre in Friedenszeiten jeweils nur ein kleiner Teil mit den aktiven Dienstleistenden zu bemannen, so dass diese aber in organisatorisch realistischen Verhältnissen trainieren können und vielleicht sogar als Mittel der ersten Stunden bereitstünden. Es wäre ein grosser Schritt, wenn die aktuell im Auftrag des VBS tagende «Studienkommission Sicherheitspolitik» Kenntnis nehmen würde vom desolaten Zustand unserer Armee und zugleich die realen Möglichkeiten zur eigenständigen Verteidigung unseres Landes anerkennen und ausloten würde.
«Die Armee sollte so organisiert sein, dass im Ernstfall mit dem Aufwuchs eine genügende Zahl an Kampfverbänden existieren.»