Bürgerliche Blasenwirtschaft
Das Bürgertum, eigentlich Garant von Tradition und Kontinuität, leidet an Gedächtnislosigkeit. Der Glaube an das Ende der Geschichte machte es blind für die neuen Konflikte und Krisen. Wo bleibt die Vernunft?
Grosse Wirtschaftkrisen wie jene, die wir gerade durchmachen, kommen nicht irgendwann von irgendwoher; sie sind mit Geschichte gesättigt. Es sind Krisen des kapitalistischen Ethos.
Als Max Weber den Calvinismus zum Ursprung der Moderne erkor, nahm er zu Unrecht bloss die protestantische Ethik in den Blick; anderseits tat er zweifellos gut daran, auf kollektive moralische Verpflichtungen hinzuweisen, die hinter den Marktmechanismen stehen. Mit dem Ersten Weltkrieg jedenfalls machte der vorsichtige, sparsame Bourgeois dem umtriebigen, verschwenderischen Bourgeois Platz. «Der Krieg hat allen die Möglichkeit des Genusses und vielen die Nutzlosigkeit der Entbehrung gezeigt», schrieb der Ökonom John Maynard Keynes im Jahre 1920. «Die arbeitenden Klassen sind vielleicht nicht länger willens, auf soviel zu verzichten, und die kapitalistischen Klassen, die nicht mehr voll Vertrauen in die Zukunft sehen, suchen vielleicht rücksichtsloser ihre Freiheit zu geniessen, auszunutzen, solange sie leben.»
Später führte das Erstarken des braunen und roten Totalitarismus zur Entstehung eines Bürgertums, das sich seiner Endlichkeit bewusst war. Wie der New Deal, so war die europäische Idee der sozialen Marktwirtschaft der Versuch einer Antwort auf die von Hitler und Stalin ausgehende Gefahr einer Auslöschung der grundlegenden Freiheiten.
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus folgte dann die letzte und vielleicht folgenreichste Verwandlung. Es entstand das «performative» Bürgertum, für welches Sagen und Tun zusammenfallen.
Die Berliner Mauer ist gefallen – lang lebe die neue, die wiederversöhnte, die harmonische Welt! Die performative Ethik liess alle Ängste und Vorhaltungen hinter sich und klammerte sich an das postmoderne Credo, dass alle Gespenster tot seien. Es hat stets zur Marktwirtschaft gehört, den Wert von Gütern durch deren Austauschbarkeit und das Gute durch dessen Vervielfältigung zu relativieren. Aber unser Zeitalter war das erste, das über die Macht zu verfügen glaubte, das Risiko auf Null zu reduzieren, indem es dasselbe streute. Es war das lachende Reich des «positiven Denkens» – mit verheerenden Folgen.
Was zur gegenwärtigen Krise führte, waren nicht so sehr fehlerhafte Finanztechniken, die wir von nun an bloss besser zu kontrollieren bräuchten; es war vielmehr der allgemeine Geisteszustand, der einen unbedarften Gebrauch davon machte.
Kapitalismus, daran sollten wir uns erinnern, bedeutet zugleich vernünftige Regulierung wie auch die unvernünftige Überschreitung alter Regeln, zugleich das Aufteilen von Risiken und den Mut, erfolgreicher als andere zu riskieren. Industrieller Fortschritt ist keineswegs friedlich; Fortschritt verläuft vielmehr zwischen Schöpfung und Zerstörung, wenn alte Produktionskräfte überwunden und neue Wohlstandsquellen erschlossen werden. Doch seit dem Ende des Kalten Krieges schien das Versprechen einer friedlichen Welt den Segen einer postmodernen Geschichte ohne Herausforderungen, ohne Konflikte und ohne Tragödien anzukündigen, einer Geschichte, in der alles erlaubt und alles möglich war. Wir haben nun mit den Folgen eines Übermasses an blindem Glauben zu kämpfen und wären froh, es hätte eine Kassandra gegeben. Nichts ist originell in den (Sprech-)Blasen, die die Implosion der globalen Wirtschaft ankündigten, ausser die sorgenfreie Haltung, die zu deren Aufblähung beitrug.
Eine spekulative Blase beruht auf einer Wette, die gleichsam in sich selbst gründet. Sie ist eben «performativ», um es in der Begrifflichkeit des Sprachphilosophen John Austin auszudrücken. «Diese Sitzung ist eröffnet», verkündet der Vorsteher der Sitzung. Das ist wahr, weil er es sagt: hier gründet die Wirklichkeit in der Rede, während im Normalfall die Rede in der Wirklichkeit gründet – sie ist nicht «performativ», sondern «indikativ». Analog dazu wird die Finanzblase, indem sie Kredit auf Kredit anhäuft, zu einer Verkörperung von Selbstaffirmation. Sie ist gefangen in dieser Selbstbeziehung, die sie eben zu einer Blase macht. So wird das Realitätsprinzip schrittweise ausgehebelt; nichts anderes gilt mehr als die durch meine Investments erfundenen Finanzprodukte.
Diese Allmachtsphantasie beseelt nicht nur den Trader, sondern auch jene, die ihn diesen Weg gehen liessen; nicht nur die Führer der Finanzinstitutionen, sondern auch die politischen, akademischen und publizistischen Autoritäten, die darin kein Problem erkannten. Die performative Ideologie – «es existiert, weil wir es sagen» – hat die Verwestlichung der Erde seit dem Ende des Kalten Krieges beherrscht. Man sagte sich: Nun, da das Feindbild in sich zusammengefallen ist, gehört die Zukunft uns, und alle Gefahren haben sich in Luft aufgelöst.
Die Postmoderne, die sich jenseits von Gut und Böse, jenseits von Wahr und Falsch situiert, bewohnt eine kosmische Blase. Es wäre gut, wenn die Angst vor einer allgemeinen Krise die Gelegenheit böte, die mentale Blase der Postmoderne zu verlassen – wenn sie die Euphorie unserer frommen Wünsche wegspülte und uns zu einer klaren Sicht verhülfe. Aber auch das ist wohl nicht viel mehr als ein frommer Wunsch. Dennoch sollten wir nicht, wie viele Menschen in den 1920er Jahren, vor einer umsichgreifenden Katastrophenstimmung kapitulieren. Gewiss, Geschichte ist tragisch, wie uns Aeschylus und Sophokles lehrten und lehren. Und ja, sie ist sie dumm, wie Aristophanes und Euripides wussten. Kein Würfelwurf, kein göttlicher Akt und keine mathematisch neudefinierten Finanztechniken können Chance, Korruption und Unglück aus der Welt schaffen; die Vorsehung des Aktienmarktes kann uns nicht eher retten als jene des Staates.
Dieser Satz von Platon sollte über der Eingangstüre aller künftigen G20-Treffen stehen: «Die einzig richtige Münze, gegen die man alles eintauschen muss, ist die Vernünftigkeit.»
aus dem Englischen übersetzt von René Scheu