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Broadway nach Stundenplan

«Der Prozess» von Franz Kafka war mein Lieblingswerk während der Gymnasialzeit. Mich faszinierte das Absurde, und zugleich belustigte mich die Tatsache, dass sich sowohl der Protagonist Josef K. als auch die Leserschaft das Spiel mit der falschen Realität und das Tappen im dunkeln ein ganzes Buch lang gefallen lassen. Dass ich mich eines Tages selbst in […]

«Der Prozess» von Franz Kafka war mein Lieblingswerk während der Gymnasialzeit. Mich faszinierte das Absurde, und zugleich belustigte mich die Tatsache, dass sich sowohl der Protagonist Josef K. als auch die Leserschaft das Spiel mit der falschen Realität und das Tappen im dunkeln ein ganzes Buch lang gefallen lassen.

Dass ich mich eines Tages selbst in einem solchen Spiel mit Phantomen und Scheinrealitäten wiederfinden würde, hätte ich nie für möglich gehalten. Die Raffles Institution, so viel wusste ich, hatte mich angestellt mit dem Wunsch nach mehr «Phantom of the Opera» in Singapur. «Am besten wie im Westen», hiess das Credo: Ich sollte mit einem eigenen Schulmusical zur Broadwayisierung des Musikdepartements beitragen. Ein tolles Unterfangen, war ich überzeugt, denn schliesslich stand ja die ganze Schule dahinter.

Was es aber bedeutete, den gesamten Schulapparat zu involvieren, wurde mir erst bewusst, als ich erfuhr, wie sich die Räder in einer Institution mit rund 5000 Schülern drehen: Der Rektorin stehen etwa ein Dutzend Prorektoren zur Seite, diesen ebenso viele Vizeprorektoren und noch mehr Fachverantwortliche. Weiter unten im Organigramm warten die sogenannten Leadteachers, die für jedes gelehrte Fach hinzugezogen werden, gefolgt von mehreren hundert Lehrern. Und ab und zu trudeln dann noch die Projektverantwortlichen der einzelnen Departemente ein. Ich zum Beispiel mit «meinem» interdisziplinären Musikdepartement, dem Ende der Nahrungskette.

Ich musste mich also erst daran gewöhnen, dass es hier Mitarbeiter gibt, die man niemals persönlich ansprechen würde – und auch nicht ansprechen sollte, geschweige denn sich mit Bitten oder Aufträgen direkt an sie zu wenden. Die Macht der Lizenzgeber liegt letzten Endes bei den Unantastbaren. Unantastbare, von denen man nicht einmal das Gesicht zu sehen bekommt. Unantastbare, die nur als Namen existieren, deren Namen im Gespräch auf dem Korridor oder in den offiziellen Beschlüssen fallen. Wer sie besuchen will, braucht die goldene Karte – den «Passierschein A 38».

Den habe ich nicht, könnte ihn aber gut gebrauchen, denn nicht nur die Kommunikation in Singapur ist so undurchsichtig wie der Dschungel vor der Stadt, sondern auch die Organisation: Um einen Requisitentisch zu organisieren, will ein anderes Departement angefragt werden als für die Bestuhlung einer Leseprobe. Wer die Theatersaal-Reservationsprozedur hinter sich hat, hat noch nicht dafür gesorgt, dass für die Probe auch die Klimaanlage in Betrieb ist. Und wer für eine Vorstellung den Theatersaal reserviert, muss andernorts die Reservation des Foyers in die Wege leiten. Für allgemeine Erleichterung dabei sorgt immerhin: Wenn die Bewilligung kommt, dürfen die Veranstaltungsbesucher legal die Toiletten mitbenützen. Diese, so erfahre ich, gehören glücklicherweise in den gleichen Zuständigkeitsbereich wie das Foyer selbst.

Nach Drehung einiger bürokratischer Pirouetten war es dann so weit: Proben überstanden, Theatersaal und Foyer (inklusive Toiletten) gebucht, Einladungen an die Gäste verschickt. Die kafkaeske Stimmung im Saal liess sich durch extragrosse, rote Schleifen an den Sitzen der Ehrengäste – der Unantastbaren – vertreiben: Unternehmen Broadwayisierung geglückt! Nachdem sich jedoch herausgestellt hatte, dass die Rektoren und die Prorektoren tatsächlich Menschen mit Augen, Ohren und schmerzenden Rücken sind, letzteres, weil ihnen die Stuhldeko das Sitzen verunmöglichte, liess ich den Zierat umgehend wieder entfernen – über den offiziellen Weg und durch das Saalpersonal. Natürlich.

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