Bohren, hämmern, blasen
Corinna T. Sievers: Propofol
Corinna T. Sievers ist für Romane bekannt, in denen es nicht zimperlich zugeht – und zumeist so direkt zur Sache, dass ihre Prosa in der deutschschweizerischen Literatur die kalte Nahaufnahme von sexueller Drastik als Alleinstellungsmerkmal für sich reklamieren kann. Allerdings macht das ihre Arbeiten keineswegs pornografisch, sind sie doch zu explizit und zu beklemmend, um überhaupt erotisch zu sein, wie Alicia Romero 2019 zur Publikation von «Vor der Flut» im «Literarischen Monat» treffend anmerkte.
Nun liegt mit «Propofol» Sievers’ neuestes Werk vor, das in bewährtem Stil fortfährt, gleichwohl aber mit einer erheblichen Neuerung aufwartet, denn die Hauptfigur ist diesmal keine Frau, sondern Bernhard Rohr, ein über 60jähriger Chirurg, der von der Erkenntnis gekränkt wird, dass die besten Jahre vorüber sind, was sowohl seine Männlichkeit wie auch seine Karriere meint, und der dennoch zielgenau mit dem Renommee zu locken weiss, das seiner Profession gesellschaftlich vorauseilt. Lüstern und machtgeil benutzt er Frauen wie austauschbare Güter, was die Autorin mit bewährter Indolenz schildert, während der sprechende Name ihres zweifelhaften Helden wie selbstverständlich um eine psychoanalytische Deutung bettelt: «Von einer Frau verlassen zu werden, gleich welcher Klasse, kommt einer Vernichtung gleich, vor mir steht die Widerwärtigste aller Schlampen (in gewissen Momenten empfand ich etwas für sie), und sie kastriert mich, es ist wider die Natur, wenn überhaupt hat Gott gewollt, dass der Mann die Frau verlässt, früher oder später hat jede ihren Zweck erfüllt, das ist die Ordnung der Dinge.»
Rohr ist abhängig von Propofol, einem Narkosemittel, das im Ärztemilieu eine beliebte Droge ist, solange man um die richtige Dosierung weiss – «ein paar Milligramm zu viel, und man hört auf zu atmen, mit anderen Worten, man erstickt, glücklicherweise tief entspannt und manche sogar mit Latte». Doch auf «Milch», wie er die Substanz nennt, verspricht ein nahender Triumph noch grandioser auszufallen: die ihm angetragene Trennung siamesischer Zwillinge aus dem Kongo – vermutlich die leibliche Folge des ungeschützten Kontakts mit Uran, das ihr Vater mit blossen Händen abgebaut hat –, die eine Hilfsorganisation mit der Lufthansa nach Europa brachte. Der anrückende Operationstermin gemahnt zunehmend daran, dass ein geglückter Eingriff zwar die eigene Karriere verewigen würde, dass das eigene «Verfallsdatum» jedoch von keiner Hand korrigiert werden kann – «ich bin längst verrottet», gesteht sich Rohr ein, als er vor seiner philosophischen Bibliothek steht: «Ich brauche eine Anleitung zum schmerzarmen Abkratzen und greife nach Feuerbach.»
Dass in dieser Situation nichts mehr Trost spendet, versteht sich von selbst. Apropos: Dass Sievers hauptberuflich dem Beruf der Kieferorthopädin nachgeht, ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich zu erwähnen. Die Wucht ihres neuen Romans gemahnt unweigerlich an den Drill des Bohrers, der sich um das Loch kümmert (ja, Sie lesen mit Freud) – nur, dass es hier nicht in die Zahnzwischenräume geht, sondern direkt ins Bewusstsein.