
Blut, Schweiss und Tränen
Der russische Krieg gegen die Ukraine war vorhersehbar. Der Westen hat in den vergangenen Jahren jedoch alle Warnsignale ignoriert und ist nun mit einem aggressiven Gegner konfrontiert.
In meinem Roman «Briefsteller» habe ich 2012 geschrieben: «In der heutigen Zeitung auf der ersten Seite der Krieg, auf der letzten ein Kreuzworträtsel.» Kurz nach dem Ukraine-Überfall fuhr ich im Zug und hatte plötzlich das Gefühl, in meinem vor zehn Jahren veröffentlichten Roman zu sein. Vor mir las jemand die Zeitung, auf der ersten Seite war der Krieg, auf der letzten ein Kreuzworträtsel. Nun, mit der Zeit, verschwindet der Krieg allmählich von den Titelseiten. Die Kämpfe werden jeden Tag grausamer, was man jedoch nicht mehr wahrnehmen will. Man ist müde von den dort verübten Greueltaten und von den hier bekundeten Solidaritätsforderungen. Man will keine Preiserhöhungen, sondern Frieden, Ruhe, schöne Ferien. Alles so wie früher.

Bild: Sergei llnitsky/EPA/Keystone.
Vor vielen Jahren, noch vor der Annexion der Krim, habe ich einen Essay über die Zukunft Europas veröffentlicht. Ich verglich sie mit dem kurzen russischen Volksmärchen «Teremok»: In diesem geht es darum, dass in einem Wald einst Tiere in einem kleinen, schönen, gemütlichen Haus lebten – dem Teremok. Eines Tages klopfte ein Frosch an die Tür: «Tock, tock, wer wohnt im Teremok? Lasst mich hinein, ich möchte auch bei euch wohnen.» Man liess ihn hinein. Später kamen noch der Hase Lampe und Reineke Fuchs hinzu – auch für sie gab es Platz. Doch dann kam der Bär. Alle Versuche von Meister Petz, ins Haus einzudringen, misslangen. Da wurde der Bär wütend und setzte sich einfach auf den Teremok. Das war dessen Ende, und so endet auch das Märchen.
Kurz nach dem Krim-Anschluss schrieb ich 2014: «Im 21. Jahrhundert gibt es keine lokalen, weit entfernten Kriege mehr. Jeder Krieg wird ein europäischer sein.» Und dieser europäische Krieg hat schon begonnen – er tobt bisher in der Ukraine. Sie wollte ins europäische Märchenhaus, doch die russische Realität hinderte sie daran. Die wichtigste Konsequenz, die der Alleinherrscher im Kreml aus dem Lehrbuch des Maidan 2013/14 gezogen hat, ist folgende: Wenn die Ukrainer es geschafft haben, ihre eigenen Herrscher zu verjagen – warum sollte das nicht auch den Russen gelingen?
«Der Kreml wird alles daransetzen, dass Kiew der Einlass ins europäische Märchenhaus verwehrt bleibt.»
Der Kreml wird alles daransetzen, dass Kiew kein Einlass ins europäische Märchenhaus gewährt wird. Er lässt auch nicht zu, dass sich die Ukraine Aschenputtels Schuh überzieht. Im grimmschen Märchen nützte es den Stiefschwestern nicht einmal, sich die Zehen oder die Fersen abzuschneiden. Doch das Märchenreich bleibt der Ukraine verschlossen: Es hilft auch nicht, den Donbass oder die Krim abzuschneiden: «Rucke di guh, rucke di guh, Blut ist im Schuh!» Das putinsche Regime hat die Ukraine mit einem Krieg und mit Blut an sich gefesselt.
Mit dem Anschluss der Krim 2014 löste Putin in Russland eine Welle des Patriotismus aus. Damals wäre es noch möglich gewesen, den Aggressor durch eine auf Jahre angelegte politische Isolation zu stoppen, doch die europäischen Politiker verschlossen die Augen vor der Realität, denn sie wollten ihren Wählern gefallen. Und die Wähler wollten eben Frieden, Arbeitssicherheit und schöne Ferien statt Preiserhöhungen. Korrupte Russland-Experten erklärten beharrlich: «Putin muss verstanden, es müssen Zugeständnisse gemacht werden! Sanktionen werden in erster Linie uns Europäer treffen, deshalb sind sie schädlich! Es sind die Amerikaner, die einen Keil zwischen uns und die…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1099 - September 2022 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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