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Blut, Schweiss und Tränen
Michail Schischkin. Bild: Isolde Ohlbaum/Laif.

Blut, Schweiss und Tränen

Der russische Krieg gegen die Ukraine war vorhersehbar. Der Westen hat in den vergangenen Jahren jedoch alle Warnsignale ignoriert und ist nun mit einem aggressiven Gegner konfrontiert.

 

In meinem Roman «Briefsteller» habe ich 2012 geschrieben: «In der heutigen Zeitung auf der ersten Seite der Krieg, auf der letzten ein Kreuzworträtsel.» Kurz nach dem Ukraine-Überfall fuhr ich im Zug und hatte plötzlich das Gefühl, in meinem vor zehn Jahren veröffentlichten Roman zu sein. Vor mir las jemand die Zeitung, auf der ersten Seite war der Krieg, auf der letzten ein Kreuzworträtsel. Nun, mit der Zeit, verschwindet der Krieg allmählich von den Titelseiten. Die Kämpfe werden jeden Tag grausamer, was man jedoch nicht mehr wahrnehmen will. Man ist müde von den dort verübten Greueltaten und von den hier bekundeten Solidaritätsforderungen. Man will keine Preiserhöhungen, sondern Frieden, Ruhe, schöne Ferien. Alles so wie früher.

Im März 2014, kurz nach der Annexion der Krim, entladen russische Soldaten in der Nähe der Stadt Simferopol neue, modifizierte russische T-72-Panzer.
Bild: Sergei llnitsky/EPA/Keystone.

Vor vielen Jahren, noch vor der Annexion der Krim, habe ich einen Essay über die Zukunft Europas veröffentlicht. Ich verglich sie mit dem kurzen russischen Volksmärchen «Teremok»: In diesem geht es darum, dass in einem Wald einst Tiere in einem kleinen, schönen, gemütlichen Haus lebten – dem Teremok. Eines Tages klopfte ein Frosch an die Tür: «Tock, tock, wer wohnt im Teremok? Lasst mich hinein, ich möchte auch bei euch wohnen.» Man liess ihn hinein. Später kamen noch der Hase Lampe und Reineke Fuchs hinzu – auch für sie gab es Platz. Doch dann kam der Bär. Alle Versuche von Meister Petz, ins Haus einzudringen, misslangen. Da wurde der Bär wütend und setzte sich einfach auf den Teremok. Das war dessen Ende, und so endet auch das Märchen.

Kurz nach dem Krim-Anschluss schrieb ich 2014: «Im 21. Jahrhundert gibt es keine lokalen, weit entfernten Kriege mehr. Jeder Krieg wird ein europäischer sein.» Und dieser europäische Krieg hat schon begonnen – er tobt bisher in der Ukraine. Sie wollte ins europäische Märchenhaus, doch die russische Realität hinderte sie daran. Die wichtigste Konsequenz, die der Alleinherrscher im Kreml aus dem Lehrbuch des Maidan 2013/14 gezogen hat, ist folgende: Wenn die Ukrainer es geschafft haben, ihre eigenen Herrscher zu verjagen – warum sollte das nicht auch den Russen gelingen?

 

«Der Kreml wird alles daransetzen, dass Kiew der Einlass ins europäische Märchenhaus verwehrt bleibt.»

 

Der Kreml wird alles daransetzen, dass Kiew kein Einlass ins europäische Märchenhaus gewährt wird. Er lässt auch nicht zu, dass sich die Ukraine Aschenputtels Schuh überzieht. Im grimmschen Märchen nützte es den Stiefschwestern nicht einmal, sich die Zehen oder die Fersen abzuschneiden. Doch das Märchenreich bleibt der Ukraine verschlossen: Es hilft auch nicht, den Donbass oder die Krim abzuschneiden: «Rucke di guh, rucke di guh, Blut ist im Schuh!» Das putinsche Regime hat die Ukraine mit einem Krieg und mit Blut an sich gefesselt.

Mit dem Anschluss der Krim 2014 löste Putin in Russland eine Welle des Patriotismus aus. Damals wäre es noch möglich gewesen, den Aggressor durch eine auf Jahre angelegte politische Isolation zu stoppen, doch die europäischen Politiker verschlossen die Augen vor der Realität, denn sie wollten ihren Wählern gefallen. Und die Wähler wollten eben Frieden, Arbeitssicherheit und schöne Ferien statt Preiserhöhungen. Korrupte Russland-Experten erklärten beharrlich: «Putin muss verstanden, es müssen Zugeständnisse gemacht werden! Sanktionen werden in erster Linie uns Europäer treffen, deshalb sind sie schädlich! Es sind die Amerikaner, die einen Keil zwischen uns und die Russen treiben wollen! Und übrigens, vielleicht hat Putin recht und in der Ukraine sind wirklich Nazis an der Macht? Und wir brauchen Frieden!»

Wer hört derweil schon auf Schriftsteller? Wer nimmt deren Kassandrarufe ernst?

Das konservierte Zarentum

Nun befinden wir uns alle inmitten eines europäischen Krieges, haben eine immense Flüchtlingswelle aus der Ukraine zu bewältigen und wundern uns über die Blindheit der Politiker. Aus der Geschichte ist offenbar nur zu lernen, dass Geschichte nichts lehrt.

Deutsche Intellektuelle sammeln Tausende Unterschriften unter einem Aufruf, der sich an die eigene Regierung richtet: «Keine Waffenlieferungen in die Ukraine! Das könnte zu einem Dritten Weltkrieg führen! Friedenspolitik statt Krieg!» Aber wir sind längst in einem Weltkrieg, und das seit 2014. Putins Regime führt hybriden Krieg gegen die freie Welt, was in dieser aber kaum jemand wahrnehmen will. Wie kann man die Blindheit auskurieren, wenn jemand blind sein will?

Wie und wann wird dieser Krieg enden? Der Krieg gegen Nazideutschland endete nicht durch Einsicht, sondern mit der militärischen Niederlage des «Dritten Reichs» nach Hitlers Tod. Der Tod Putins ist axiomatisch, nicht jedoch die Niederlage Russlands. Selbst wenn eine Entputinisierung kommen sollte, wird sie nicht automatisch zum Frieden führen.

Es gibt echte und unechte Zaren. Wenn das Territorium Russlands erweitert wird und sich die Bevölkerungen anderer Länder vor dem Moskauer Alleinherrscher verneigen, so will dessen eigene, geknechtete Bevölkerung, die sich abrackert und heldenhaft ihr Blut fürs sakrale Vaterland vergiesst, darin einen Segen Gottes erkennen. Deshalb ist es ihr nicht so wichtig, wie der Zar an die Macht gekommen ist und wie er seine Untertanen regiert. Er kann sie zu Millionen niedermetzeln, Kirchen zu Tausenden zerstören, Priester erschiessen. Wichtig ist nur, dass der Zar echt ist, weil dann sowohl die Feinde zittern als auch das Heilige Land wächst. So war es mit Stalin. Und umgekehrt: Kriegerische Missgeschicke, Verlust auch nur eines kleinen Teils des Heiligen Landes, sind für die Untertanen ein klares Indiz, dass der Zar nicht gesegnet, unecht und ungesetzlich ist. Den Japanischen Krieg verpatzt, die Tschetschenen nicht zu bezwingen vermocht – da muss wohl ein als Zar verkleideter Betrüger auf dem Thron gesessen haben, siehe Nikolaus II. und Jelzin.

Die Legitimität, die Putin mit der Krim-Annexion erwarb, verpufft durch den ausbleibenden Sieg gegen die Ukraine, und der nächste Zar wird der Welt seine Legitimität abermals mit einem kriegerischen Sieg beweisen müssen. Und wenn die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, für den jetzigen Putin nur ein Teil hybrider Kriegsführung ist, so könnte dieser Einsatz für den nächsten Putin ein notwendiges Mittel zu dessen Machterhalt werden können.

Auch der nächste Putin wird nur ein Schauspieler sein, der seine Rolle nicht verändern kann. Seine Rolle wird vom Regime, von der ganzen Machtstruktur vorgeschrieben. Und für diese Struktur hat es keine Bedeutung, wie viele Menschen in der Ukraine oder in Russland oder irgendwo anders sterben werden. Unwichtig ist die Höhe der ausgegebenen Mittel, der eingesetzten Waffen, der Opfer beim russischen Militär. Belanglos ist der Rückgang der Lebensqualität der russischen Bürger. Die Zufriedenheit der Bevölkerung war dem Regime schon immer egal.

Wer Teil dieser Machtstruktur ist, hat keine Angst vor dem Angriff auf den Westen. Vor wem soll er Angst haben? Der Herrscher wird eine Rakete auf das Territorium eines Nato-Mitglieds fliegen lassen – und was nun? Weitere Treffen, Statements, Erklärungen, Aufrufe zum Frieden? Wir brauchen ja Frieden, Arbeitsplätze, keine Preiserhöhungen, schöne Ferien. Friedenspolitik statt Krieg!

Lehren aus dem 20. Jahrhundert

Die freie Welt muss endlich einsehen, dass sie nicht gegen einen verrückten Diktator zu kämpfen hat, sondern gegen ein autonomes, sich selbst regenerierendes aggressives Machtsystem. Dieser Krieg kann nur durch die Zerstörung des russischen Machtsystems beendet werden. Die uralte Gesellschaftsform der russischen Autokratie wurde jahrhundertelang im Reservat der Geschichte konserviert. Sie wirft ihre Haut ab und kehrt mit einem neuen Avatar zurück, mal als Ulus der Goldenen Horde, mal als das Moskauer Zarentum, als Romanows Imperium, als Stalins kommunistische Sowjetunion, unlängst als Putins «gelenkte Demokratie». Nun wird die Haut der putinschen Russischen Föderation abgestreift. Darunter bleibt eine unbesiegte kriegerische Diktatur. Was sicher nicht zum Vorschein kommt, ist ein freier demokratischer Rechtsstaat, der freiwillig auf Nuklearwaffen verzichten wird. Auch vor dem Zweiten Weltkrieg wollten Menschen Frieden, keine Preiserhöhungen, schöne Ferien. Die Wähler erhofften sich von ihren eigenen, demokratischen Regierungen in Frankreich und Grossbritannien Friedenspolitik gegenüber Hitler statt Krieg!

 

«Die freie Welt muss endlich ­einsehen, dass sie nicht gegen einen verrückten Diktator zu kämpfen hat, sondern gegen ein autonomes, sich selbst regenerierendes aggressives Machtsystem.»

 

Was folgte, steht in den Geschichtsbüchern. An die Wähler gingen 1940 die schonungslos ehrlichen, tragischen Worte: «I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat.» Früher oder später wird ein neuer Churchill kommen müssen, der den Wählern keine schönen Ferien versprechen wird, sondern grosse Opfer an Anstrengung und Leiden, denn das wird der Preis für den Frieden sein: «Blut, Mühsal, Tränen und Schweiss».

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