Blütenlese
Viele Auswüchse des Gutgemeinten mögen auf den ersten Blick erheiternd sein. Am Schluss geht es aber um Freiheit und Diskussionskultur.
Eine Reise ins Reich der politischen Korrektheit ist ein bisschen wie ein Tauchgang im Roten Meer. Wohin man nur blickt, herrscht ein buntes und üppiges Treiben, eine blühende und wimmelnde Artenvielfalt – nur eben leider nicht von allerlei Fischen und Korallen, sondern von Tabus und Denkverboten. Im Unterschied zu all dem Meeresgetier ist die politische Korrektheit leider auch alles andere als bedroht. Sie steht in voller Pracht. Sie ist ausserdem ein steter Quell der Unterhaltung, denn die Verletzung ihrer ungeschriebenen Gesetze bringt immer wieder Erfrischung in den langweilig-korrekten Diskurs.
Als der bayerische Innenminister Joachim Herrmann im Jahr 2015 in der ARD-Talkshow «Hart, aber fair» bemerkte, der Schlagersänger Roberto Blanco sei «immer ein wunderbarer Neger» gewesen, war die Aufregung gewiss. Die öffentliche Entrüstung über die verbale Ungeheuerlichkeit des Jahres folgte mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre sie bestellt gewesen. Neun Monate später dann ein weiterer Höhepunkt: Ein Karlsruher Gericht entschied, dass es in diesem Fall ein Recht auf eine Retourkutsche gibt. Das bedeutet, es ist rechtens und straffrei, Innenminister Herrmann als «wunderbares Inzestprodukt» zu bezeichnen. Genau dies hatte – ebenfalls in einer Fernsehsendung – der Anwalt David Schneider-Addae getan. Der Deutschghanaer hatte sich von Herrmanns Ausspruch verletzt gefühlt und sich damit das «Recht auf Gegenschlag» erworben. Wer braucht schon Satire, wenn es solche Tatsachen gibt! Schade nur, dass der Steuerzahler dafür herhalten muss.
Roberto Blanco selbst fühlte sich übrigens von Herrmanns Äusserung überhaupt nicht beleidigt. Blanco hat sich nach eigenen Aussagen in Deutschland auch nie diskriminiert oder herabgesetzt gefühlt. Selbst dann nicht, als ihn das Satiremagazin «Titanic» 2003 aufs Cover hob und ihn mit der Schlagzeile «Warum nicht mal ein Neger?» als Bundespräsident vorschlug. «Das ist Satire», sagte Blanco, «da stehe ich drüber.»
Korrekt an 365 Tagen
Eines der Kennzeichen der politischen Korrektheit ist die Predigt von der hohen Kanzel und das Urteil aus hoher Warte. Sie zu pflegen und die Verletzung ihrer Gesetze zu geisseln und zu sühnen, ist grundsätzlich ein Privileg jener, die Diskriminierung meistens nicht aus eigener Erfahrung kennen, sondern vielmehr das Gegenteil davon. Die gutbesoldete Jusprofessorin beklagt sich lauter über ihre vermeintliche Diskriminierung als Frau, als dies das quasi rechtlose und ausgebeutete philippinische Hausmädchen in Hongkong jemals tun wird. Und noch etwas: die Wächter – und Wächterinnen – der politischen Korrektheit weisen fast immer einen beträchtlichen, mitunter fast schon zwanghaften Mangel an Humor auf. So darf heute nicht einmal mehr die Fasnacht unkorrekt sein, obschon sie doch genau zu diesem Zwecke erfunden wurde: einmal im Jahr die Welt kopfstehen lassen, den Sklaven zum Herrn machen und umgekehrt. Zwar gab es schon im Mittelalter hie und da Vermummungsverbote, vor allem nach Ausschreitungen und Schlägereien. Im grossen und ganzen aber duldete die mittelalterliche Kirche ihre Verspottung durch die Fasnacht und nutzte diese sogar als didaktisches Mittel. Denn an Aschermittwoch war mit dem gotteslästerlichen Zeugs, mit den Narrengerichten, den Kinderbischöfen und den Eselsmessen Schluss; der Teufel war besiegt.
Heute jedoch herrscht das ganze Jahr über der bittere Ernst, denn unsere Sittenwächter sehen die Sache nicht so gelassen. An den jüngsten närrischen Tagen empörte sich die SP des Kantons Zug pflichtschuldigst über rassistische und sexistische Fasnachtswagen, reichte sogar eine Interpellation ein, damit «Rassismus und Sexismus im öffentlichen Raum» mit neuen Gesetzen und Regeln endlich überwunden würden. Als gebürtige Zürcherin versteht die Schreibende vielleicht nicht viel von den tollen Tagen. Gleichwohl: es gibt wohl nichts Spiessigeres als eine politisch korrekte Fasnacht.
Wegbereiter für eine Kultur der Denunziation
Political Correctness ist eine ernste Sache. Ja mehr noch: eine der grössten Gefahren für die Redefreiheit und damit auch für die Demokratie. Die Bereitschaft zur vorauseilenden Selbstzensur vieler Politiker und Journalisten ist erschreckend. Wo politische Korrektheit über die Köpfe herrscht, entsteht eine Welt voller Tabus und eine von Sozialingenieuren hergestellte ideale – und gleichwohl höchst fragile – Wirklichkeit. Tabus bereiten den Boden für eine üble Denunziationskultur. Zwar stirbt heute bei uns niemand mehr wegen einer ketzerischen Meinung auf dem Scheiterhaufen. Aber wenn ein Schnupperlehrling einen anderen Lehrling beim Chef anschwärzt, nur weil dieser verbotenerweise eine Zigarette in der Pause geraucht hat, und wenn dieser Schnupperlehrling seine Tat auch noch als eine gute versteht, weil man es ihm in der Schule beigebracht hat, dass das Rauchen immer schlecht sei, dann sollte das zu denken geben. Was heute der Raucher ist, war gestern ein ganz anderer – und könnte auch morgen wieder ein ganz anderer sein.
Denunziation funktioniert immer nach derselben Methode, anders ist lediglich der gerade geltende Kanon an Grundwerten. Das Ziel der Denunziation ist stets das Gleiche: sie will das Denken und Verhalten kollektivieren und alles Andersartige ausgrenzen und bestrafen. Wohin uns diese Maschine führen kann, hat uns die Geschichte mehrfach gelehrt, im Osten wie im Westen, im 15. Jahrhundert wie im 20.
Am Literaturgymnasium Rämibühl wurde 2009 der Lehrer Daniel Saladin in die soziale Verbannung geschickt. Dabei hatte er nur das getan, was vor ihm schon Tausende seiner Berufskollegen getan hatten: er hatte mit seinen 15jährigen Schülern Frank Wedekinds «Frühlings Erwachen» gelesen. Nach einer Anzeige durch eine Mutter, die ihm vorwarf, ihre Tochter im Unterricht mit Pornografie zu bedienen, wurde er abgeführt und erlebte – bis zu seinem Freispruch vom Vorwurf der Pornografieverbreitung im Unterricht – ein psychisches und soziales Martyrium. Der Mann verlor nicht nur seine Stelle, sondern auch seinen Status und seine Würde, er floh nach Deutschland. Noch Jahre nach seinem Freispruch wurde er vom «Blick» als «Grüsel-Lehrer» diffamiert. Im Buch «Aktion S.: Eine Hetzjagd nimmt ihren Lauf» arbeitete er die Geschehnisse 2014 auf. Der Fall fördert nicht nur die eklatante Doppelmoral einer vordergründig «korrekten» und «gerechten» Gesellschaft zutage, er zeigt auch, welche Hysterie um die Begriffe «Pornografie» und «Pädophilie» in so einem Umfeld gedeihen kann. Es waren ausgerechnet seine Schülerinnen und Schüler, die vermeintlichen Opfer also, die ein paar Jahre später versuchten, ihren Lehrer zu rehabilitieren und den Schaden, den eine Mutter und eine schlampig ermittelnde Staatsanwältin angerichtet hatten, wiedergutzumachen. Sie führten an ihrer Maturafeier das Stück «Frühlings Erwachen» auf.
Die wilhelminische Sexualmoral kehrt also zurück, allerdings nur in Teilen – was einmal mehr die ganze Doppelmoral der vermeintlich Korrekten entblösst. Auf Geheiss aus Strassburg müssen heute schon Kindergartenkinder und Primarschüler an explizitem Sexualunterricht teilnehmen. Mit 15jährigen Teenagern jedoch kann man keinen Klassiker deutscher Jugendliteratur mehr lesen, ohne Gefahr zu laufen, in einen Strudel von zwielichtigen Anschuldigungen zu geraten.
Schönsprech und Neopuritanismus
Eng mit der politischen Korrektheit verbunden ist das Phänomen des «Schönsprechs», des vermeintlich korrekten Redens, das niemandem zu nahe tritt. Doch was ist damit gewonnen? In der Realität ist es nur eine Verschleierungstaktik. Wer aus dem «Krüppel» zuerst einen «Invaliden», dann einen «Behinderten», dann einen «Menschen mit Behinderung» und schliesslich einen «Menschen mit besonderen Bedürfnissen» macht, darf sich zwar selbst bei den Guten wähnen, hat damit aber keine einzige Schwelle überwunden und kein Hindernis beseitigt. Der flächendeckende Einsatz von Rollkoffern hat schliesslich mehr für die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum getan als jeder Sprach- und Gleichstellungsbeauftragte.
Gesundheitsfragen stehen eh hoch im Kurs bei jenen, die anderen nur «Gutes» wollen. Wer heute nicht mindestens zwei Liter Wasser pro Tag trinkt, bekommt ein schlechtes Gewissen, obwohl es dazu gar keine medizinische Empfehlung gibt. Ein Glas Wein zum Businesslunch bringt derweil den seriösesten Geschäftsmann in Verruf, während eine Runde Joggen in der Mittagspause exakt dem neopuritanischen Gesellschaftsideal unserer Zeit entspricht. Kein Übergewicht zu haben ist eine Bürgerpflicht. Das Verzehren einer Banane, so lernt es heute jedes Kindergartenkind, ist nicht nur eine unverhältnismässige Zuckerzufuhr, sondern eine schwere ökologische Schweinerei, im Prinzip ein aggressiver imperialistischer Akt. Die Verschwendung von Lebensmitteln – zu Neudeutsch: Food Waste – ein Übel des Kapitalismus. Wenn aber zeitgleich eine Luzerner Hotelière im Frühstücksraum ihres Hotels ihre chinesischen Gäste mit einem Schildchen auf Chinesisch bittet, nur so viel vom Buffet zu nehmen, wie sie auch wirklich zu essen planen, entlädt sich ein Sturm der Entrüstung über sie – und der Vorwurf des Rassismus steht im Raum.1
Wer inklusiven Unterricht nicht gut findet und angesichts der stets wachsenden Staatsausgaben für Bildung die Meinung nicht teilt, dass Bildung kaputtgespart wird, gilt als reaktionärer Menschenfeind. Wer «Ja» zur Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren sagt, ist «rechts» und «verbissen». Wer den gemeinnützigen Wohnungsbau kritisiert, weil er gar nicht jenen zugutekommt, für die er eigentlich gedacht wäre, schürt eine Neiddiskussion und ist demagogisch. Wer – vor allem als Frau – der offiziellen Lesart zur Lohndiskriminierung nicht folgen will und der obersten Gleichstellungshüterin im Lande zu ihrem Lohnrechner kritische Fragen stellt, ist polemisch, eine Verräterin der guten Sache und erhält keine Antworten. Wer sich nicht bedingungslos der Meinung anschliesst, dass regional produzierte Agrarprodukte besser sind als importierte, und wer nicht in das Loblied auf die angebliche Nachhaltigkeit unserer Landwirtschaft einstimmt, ist ein Nestbeschmutzer und ein «Spin-Doctor». Weitere Beispiele modernen Tugendterrors gäbe es noch Hunderte.
Empfindsamkeit, Verletzung, Abbitte
Sagen wir es klar: Wir haben uns in ein neues Zeitalter der Empfindsamkeit katapultiert. Mit jeder unbedachten Aussage, die nicht zu 100 Prozent der Mehrheitserwartung entspricht, fühlt sich einer oder eine verletzt. Worauf Abbitte geleistet werden muss. Es gibt so viele Tretminen auf dem Feld der politischen Korrektheit, dass wir ohne obrigkeitliche Anleitung kaum mehr den richtigen Weg durchs Leben finden. Deshalb wird jetzt auch den Parlamentariern im Bundeshaus erklärt, was sexuelle Belästigung und was ein Flirt ist – unter der Bundeskuppel ist eine Anlaufstelle für parlamentarische Opfer sexueller Gewalt eingerichtet worden. Hier kann man vermeintliche Übeltäter jederzeit anonym anzeigen, ein veritabler Aufruf zur subventionierten Denunziation. Das ritzt am Grundsatz der Unschuldsvermutung und bedroht somit eine der wichtigsten Institutionen des demokratischen Rechtsstaats.
Was für Schlüsse können wir aus dieser Bestandsaufnahme ziehen? Politik gepaart mit Hypermoral und der Angst, jemanden zu verletzen, mag den meisten Menschen irgendwann zum Hals raushängen. Wo Sprech- und Denkverbote herrschen, gärt es unter der Oberfläche. In einer Demokratie ist es legitim, solches Unbehagen politisch zu bewirtschaften, auch wenn dies als «populistisch» beschimpft und abqualifiziert wird. Dass sich aufgestauter Frust in einer Demokratie dann an der Urne entlädt, sagt weniger über die «populistische» Veranlagung einer Bevölkerung aus als über die Selbstgefälligkeit und Unverbesserlichkeit einer übermoralisierenden politischen Elite.
Kurzum: der politisch korrekte «starke Staat» ist nicht stark. Im Gegenteil, er ist ein Getriebener. Es fällt ihm zwar leicht, 500 000 brave Hundehalter kollektiv abzustrafen und Bussen für den ruhenden Verkehr auszustellen. Gleichzeitig aber lässt er sich von jedem jugendlichen Handschlag- oder Weihnachtsliedverweigerer trefflich international vorführen. Im Diskurs um Hypermoral und Meinungsdiktat geht es letztlich also um nichts weniger als unsere Freiheit und Kultur. Es sei deshalb zum Schluss das berühmte Zitat des evangelischen Theologen Martin Niemöller ans Herz gelegt – in einer von der «Titanic»-Redaktion leicht modernisierten Version: «Als sie die Zigarettenreklame untersagten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Raucher. Als sie die Alkoholwerbung unter Strafe stellten, habe ich nicht protestiert, ich war ja kein Alkoholiker. Als ich an der Reihe war, war keiner mehr da, der protestieren konnte.»
1 Diese Episode war übrigens nicht nur in den hiesigen, sondern auch in den chinesischen Medien ein Thema. Interessanterweise wurde die Aktion der Hotelière dort einstimmig begrüsst und von chinesischen Hotels sogar nachgeahmt.