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Blogs, Rede & Widerrede

Zwei Leserbriefe zu Ausgabe 980

Virgilio Masciadri

Leserbrief zu Ursula Pia Jauch «Wider die Verschleierung» (Ausgabe 980, S. 9) Oktober 2010

Ursula Pia Jauch versucht, für ein Verbot der Burka zu argumentieren, ohne in die Klischees jener Moslemfresser zu verfallen, die derzeit die öffentliche Debatte beherrschen; gerade damit legt sie freilich deren Kurzschlüsse offen. Das beginnt mit dem oftbemühten Argument, dass der Koran den Schleier nicht vorschreibe – als hätten nicht alle Buchreligionen über die Jahrhunderte eine religiöse Praxis entwickelt, die sich nur zum Teil aus ihren heiligen Schriften herleiten lässt. Wer als Grundlage der Religion nur die reine «Schrift» gelten lässt, die sich dem verständigen Leser offenbart, projiziert jedoch ein protestantisches Vorverständnis von Religion. Das setzt sich fort, wenn allenthalben Praxis und Glaubensüberzeugungen (Frau Jauch schreibt philosophischer vom «Denken») in eins gesetzt werden. Undenkbar erscheint so, dass ein strenges Ritual auch einmal mit Freiheit der Spekulation einhergehen könnte. Dabei war und ist gerade dies in einzelnen traditionellen Gesellschaften Realität (wenn auch nicht unbedingt bei unseren Islamisten, die vom Westen allzuviel und nur das Übelste gelernt haben). Und noch ein beliebtes Argument bringt Ursula Pia Jauch auf den Punkt: «Der Dialog setzt ein Gesicht … voraus.» Selten funkelt der Zauber Platons, der festgenagelt hat, was ein richtiger Dialog sei, heute noch so hell wie hier. Als gäbe es nicht alte, auch religiöse Formen von Dialog, deren Tiefe und Wirksamkeit gerade daraus entspringt, dass die Sprecher ihr Gegenüber nicht von Angesicht sehen – vom Beichtgespräch bis zur Telefonseelsorge der «Dargebotenen Hand». Und so feiert denn am Ende von Frau Jauchs Artikel die josephinische Religionspolitik des 18. Jahrhunderts fröhliche Urständ, «unvernünftige» religiöse Praktiken einer obrigkeitlichen Reglementierung zu unterstellen, um das tumbe Volk zum Glück der Aufklärung zu zwingen. Schleierhaft, warum derlei nur für Muslime gelten soll, während der grobe Unfug, den Freikirchen oft mit der Bibel anstellen, straflos bleibt. Klüger wäre es zuzugeben, dass es Individuen beiderlei Geschlechts gibt, die gerade in der Unterwerfung unter eine rigide religiöse Observanz ihre persönliche Freiheit finden, und ebenso, dass in einer freiheitlichen Gesellschaft auch erlaubt sein muss, solange man die öffentliche Ordnung nicht gravierend stört, von seiner Freiheit einen unvernünftigen Gebrauch zu machen.

Roland Wagner

Leserbrief zu Suzann-V. Renninger «Die Kunst ist befreit, der Betrachter verwirrt» (Ausgabe 980, S. 4) Oktober 2010

Herzliche Gratulation und Danke für den Text «Die Kunst ist befreit, der Betrachter verwirrt». Endlich ein Beitrag über Kunst, der Lust zum Nachdenken macht. Etwas, was das schöngeistige «Du» längst nicht und immer weniger schafft. Es ist wahr, dass Beuys und Warhol nach wie vor die Kunst überschatten. Doch eigentlich ist es etwas anderes, das die Kunst seit nun 40 Jahren schlafen lässt. Es ist eine vermeintliche Freiheit, die eingeführt wurde. Eine wirkliche Befreiung aus dem längst überholten Kunstkontext heraus hat noch nicht richtig stattgefunden. Dazu muss man nur das peinliche YouTube-Projekt des Museum of Modern Art in Betracht ziehen, das derzeit ausgeschrieben ist. Was sich in den letzten paar hundert Jahren als Kunst stipuliert hat (in der Antike war Kunst ja Teil des Alltags, erst die Renaissance und die Moderne haben sie eingesperrt), müsste, um wirklich befreit zu sein, endlich total aufgelöst werden. Kunst müsste nicht definierbar sein. Sie müsste nicht existieren als solche. Das Wissen der Betrachter müsste reichen, dass es so etwas wie Kunst gibt. Der wirklich souveräne Kunstbetrachter müsste im Idealfall auf sich selbst zurückgeworfen sein. Er müsste selbst, ohne elitäre Vorbeter wie Kuratoren, Galeristen oder sogenannte Künstler, für sich festlegen, was Kunst ist oder nicht. Die grosse Überraschung dabei: davon sind wir gar nicht weit entfernt. Nur haben es die elfenbeinturmkunstinteressierten Art-Basel-Touristen noch nicht gemerkt, dass Lady Gaga die grösste zeitgenössische Künstlerin ist. Bei ihr weiss man nämlich nicht mehr, was sie ist: eine Künstlerin, ein Mensch, eine postfeministische Politaktivistin oder eine Firma? (Übrigens haben die Dadaisten den Weg für Warhol, Beuys und Frau Gaga geebnet.) In diesem Feld sehe ich den Ansatz zur Auflösung und Neupositionierung einer neuen Kunst. Das neue «Du» müsste eigentlich «Ich» heissen.

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