Blocher war Avantgarde
Anlässlich seines 85. Geburtstags vom «Blick» nach dem Erfolgsrezept für seine Karriere gefragt, sagte Christoph Blocher: «Das tun, was man für richtig hält, und nicht aus Angst vor anderen stets fragen: Was denken die anderen?»
In der Tat ist der gelernte Bauer und spätere Industrielle, Politiker, Kunstsammler und Familienvater geradezu unfassbar erfolgreich: Vieles, was er anpackt, macht er nicht nur zu einem Erfolg, sondern zu einem Grosserfolg – und das in der Regel aus dem Nichts.
Industrieller: Gestartet als kleiner Sekretär im Halbtagspensum, hört er auf mit zwei Industriefirmen, die nun im Besitz seiner Kinder sind: Ems-Chemie und Dottikon ES haben gemeinsam eine Marktkapitalisierung von fast 18 Milliarden Franken.
Politiker: 1975 wird die SP mit 24,9 Prozent Wähleranteil die stärkste Partei, die SVP fällt mit 9,9 unter die 10-Prozent-Marke. Blocher übernimmt 1977 das Präsidium der Zürcher Kantonalsektion. Seit 1999 ist die SVP stärkste Partei.
Kunstsammler: Schweizer Maler wie Albert Anker und Ferdinand Hodler sind wenig beliebt, als Blocher sie zu sammeln beginnt. Weshalb er seine inzwischen bedeutende Kunstsammlung mehrheitlich zum Schnäppchenpreis ersteht – ChatGPT glaubt an einen heutigen Wert von 500 bis 800 Millionen Franken.
Familienvater: Vier Kinder, die alle mehr oder weniger unternehmerisch tätig sind. Gemeinsam mit seiner Frau Silvia, deren Rolle an seinem Erfolg sträflich unterschätzt wird, baut er nicht weniger als eine Dynastie auf.
Alle diese Erfolge hätte der Freisinn mitfeiern können: Rechtsanwalt und Lokalpolitiker Kurt Gysin wollte ihn zur FDP holen. Doch dann starb dieser 1971 bei einem Zugunglück, Blocher holte ihn eigenhändig aus dem Wrack. Weniger später trat er der SVP bei.
Während es mit der SVP bald aufwärts ging, ging es mit der FDP bald abwärts: 1914 noch bei 56 Prozent Wähleranteil, sackte sie 1999 erstmals unter 20 Prozent und verliert seither kontinuierlich (Ausnahme: 2015 unter Philippe Müller). Wirtschaftliche Debakel wie Swissair oder Credit Suisse werden von den Wählern ziemlich direkt mit der FDP in Verbindung gebracht.
Gemeinsam mit der Mitte, die einen ähnlichen Niedergang erlebte, bilden die Freisinnigen nun eine vage Mitte, die nicht mehr weiss, was sie will. Sie haben die Werte vergessen, für die sie einst angetreten sind. Die Leidenschaft fehlt, weil keine klare Mission besteht. Den tatsächlichen Gegner der Bürgerlichen, die Linke, sehen sie mehrheitlich nicht.
Dagegen kommt die grosse Stärke von Blocher zu tragen, nämlich, dass er ein Mann der Prinzipien ist: Er hält eisern fest an allem, was er als richtig erkennt. Zwar betreibt er taktische Spiele mit Freude, doch seine Strategie ändert praktisch nie. Weil er seit fünfzig Jahren mehr oder weniger das Gleiche erzählt, ist er zu einem seltenen Gegenmodell geworden zum heute üblichen opportunistischen Politiker, der seine Haltungen wechselt wie Unterhosen.
Aber kann ein Konservativer überhaupt Avantgarde sein, also jemand, der mutig vorangeht und Neues wagt, bevor es alle anderen tun? Blocher hat es gleich mehrfach bewiesen.
In der Europafrage setzt er den eigenständigen Weg der Schweiz durch – mit bahnbrechendem Erfolg: Trotz den angeblich riesigen Nachteilen, weder in der EU noch im EWR zu sein, entwickelt sich die Schweiz erfolgreicher als die Nachbarländer: stärkere Wirtschaft, weniger Schulden, höhere Lebenszufriedenheit etc.
In der Ausländerfrage erkennt er zuerst, dass Zuwanderung nicht masslos sein darf. Ab einem gewissen Anteil nicht-integierter Ausländer reagieren die Menschen und wählen Politiker, die dagegen etwas unternehmen wollen. «Blocher war Trump vor Trump», sagt Steve Bannon 2018 in Oerlikon.
In der Parteiorganisation setzt er auf eine betont dezentrale Organisation, was rasches Wachstum fördert. Unter Parteipräsident Ueli Maurer werden von 1996 bis 2008 zwölf neue Kantonalparteien sowie 600 lokale Sektionen gegründet. Aus einer verschnarchten Partei wird eine Bewegung geformt, die Dauerwahlkampf betreibt.
Die FDP war einst selbst Avantgarde, im 19. Jahrhundert. Nur die Freisinnigen schafften es, den Kampf für individuelle Freiheit in Europa mit einer Staatsgründung erfolgreich abzuschliessen. Während Monarchien in ganz Europa die bürgerlichen Revolutionen niederschlugen, gründeten sie 1848 den modernen, freiheitlich-demokratischen Schweizer Bundesstaat.
Und nun? Stimmt die Mehrheit der FDP-Delegierten für eine Anbindung an die Europäische Union – eine Gründung der ehemaligen Monarchien, die auf mich wirkt, als wäre sie kurz vor dem Auseinanderbrechen. Nicht einmal eine Mehrheit der Kantone soll darüber entscheiden dürfen. Doch Vorsicht! Bis zu den Wahlen 2027 dürfte das Volk in den wichtigen Fragen entscheiden: Personenfreizügigkeit (10-Millionen-Schweiz), Neutralität, EU-Verträge. Denkt es so wie die FDP-Funktionäre – oder eher so wie Blocher? Die nächsten Jahre werden richtungsweisend sein.
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