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Blattkritik über die September-Ausgabe 2022
Christoph Luchsinger, zvg.

Blattkritik über die September-Ausgabe 2022

Die September-Ausgabe des «Schweizer Monats» wird von Christoph Luchsinger beurteilt.

 

Ich habe mir zum ersten Mal für diese Blattkritik Zeit genommen, eine ganze Ausgabe des «Schweizer Monats» von vorne bis hinten durchzulesen. Ich war überrascht von der Vielfalt, den bis jetzt übersehenen Leckerbissen, von bisher mir unbekannten eigenen Neigungen und Interessen. Im September laden zwei gewichtige Schwerpunkte ein: der Steuerstaat und neue Konfliktlinien der Weltpolitik.

Im Steuerdossier beschreibt Andrea Opel die Ausgangslage mit der neuen OECD-Mindeststeuer. Auch wenn sie die richtigen strategischen Antworten bereithält, es wird auf jeden Fall ungemütlich: «Der Startschuss für ein globales Steuerkartell ist mit der Mindeststeuer von 15 Prozent gefallen. Ist das System erst installiert, lassen sich die Schrauben problemlos anziehen.»

Ihr sachlicher Artikel kontrastiert mit dem wohltuend angriffigen Praktiker aus der Politik: Heinz Tännler beschreibt die Konsequenzen aus Sicht des in der Verantwortung stehenden Finanzdirektors des in diesen Fragen zentralen Kantons Zug. Weil die Mindeststeuern erst einmal mehr Geld beim Staat bedeuten, warnt er zu Recht: «Ein Verdunsten der zusätzlichen Erträge in sozialromantische Fantastereien wäre brandgefährlich.»

Kristian Niemietz bricht eine Lanze für den Steuerwettbewerb. Dass er die Schweiz als «Bremsklotz» bezeichnet, hören wir gerne, denn es gilt ja bekanntlich: man kann gar nicht genug langsam in die falsche Richtung gehen. Treffend bei der berühmten Metapher vom «Race to the bottom» ist das Beispiel der Gastronomie: «Wettbewerb ist allerdings mehrdimensional, und der Preis ist nur ein Parameter von vielen. In der Gastronomie etwa führt Wettbewerb keineswegs dazu, dass sich alle Anbieter auf dem Niveau einer Imbissbude einpendeln. Hochpreisige Restaurants können sehr wohl wettbewerbsfähig sein – sie müssen aber für den hohen Preis auch etwas bieten.»

Lukas Leuzinger, Stellvertretender Chefredaktor dieser Zeitschrift, erinnert an das Problem, dass Otto Normalverbraucher beruhigt verdrängt, dass Unternehmenssteuern auch ihn etwas angehen. Es sind am Schluss immer Menschen, die den Preis zahlen: Konsumenten in Form von höheren Preisen, Aktionäre in Form von tieferen Dividenden und Angestellte in Form von tieferen Löhnen.

Eine Frage, der man sich in diesem Schwerpunkt noch hätte widmen können: Wie kann man Unternehmenssteuern philosophisch überhaupt rechtfertigen? Ein Unternehmen ist ja einfach nur ein Bündel von Verträgen.

Machen wir zum Schluss noch ein Gedankenexperiment: Wenn der Staat gut und hocheffizient arbeitet, dürfte es in den reichsten Ländern mit Staatsquoten bei 50 Prozent eigentlich keine Armen, keine schlechten Schulen, keine Gesundheitskrisen und so weiter geben. So ist die Welt aber nicht, womit klar ist: es braucht nicht mehr Geld für den Staat, sondern Reformen beim Staat.

Unangenehmer Themenwechsel: Ich hatte mich immer wieder (naiv) gefragt, wie lange es wohl dauert, bis dieses «Woke»-Thema endlich einfach verschwindet. Oder gehofft, dass das nur die USA betrifft (ähnlich wie die Opioid-Krise oder die massive Fettleibigkeit). Ein Grund, warum das Thema nicht verschwindet, ist wohl, dass es auf neue Gebiete ausgeweitet und mit neuen Methoden angewendet wird. Da kann man froh sein, wenn die NZZ und der «Schweizer Monat» mit Analysen und Gegenargumenten aufwarten. Vojin Saša Vukadinović fragt im Interview den Unternehmer und Autor Vivek Ramaswamy denn auch zu Recht: «Denken Sie, dass Liberale und Konservative das Problem unterschätzt haben?» – Ja, ich auch.

Eine Stärke des «Schweizer Monats» sind die vielen kurzen und längeren Texte aus den diversesten Genres:

  • Claudia Franziska Brühwiler bricht eine Lanze für Mostindien, auch bekannt als Kanton Thurgau – gut gemacht. «Provinz ist kein geografischer, sondern ein geistiger Zustand.»
  • Bari Weiss konstatiert: «Wer das Wesen des Hasses auf Juden nicht begreift, wird nichts zu seiner Bekämpfung beitragen können.» Das klingt zwar logisch, ist aber womöglich zu optimistisch. Es ist aber ein Artikel, der so voll von für mich neuen Gedanken war, dass ich ihn mit Kennern der Materie noch diskutieren werde. «Der Antisemitismus ist eine sich ständig wandelnde Weltanschauung, die sich in dem Moment verflüchtigt, in dem man glaubt, sie fest im Griff zu haben. Dadurch ist sie ihren Verfolgern immer ein paar Schritte voraus.»
  • Gefallen hat mir auch der Artikel von Nikolaus Jilch zum US-Dollar – ein hervorragender Überblick: «Die Probleme in der Eurozone zeigen sehr gut, warum internationale Währungen schwierig zu gestalten und zu verwalten sind. In der Theorie sollten sie zwar besser funktionieren als das System, das wir heute haben. In der Praxis zeigt sich aber ein ganz anderes Bild.»

Vielen Dank für die vielfältigen Beiträge aus verschiedenen Blickwinkeln im Kulturteil. Da werden vergessene Schweizer Schriftsteller wie Franz Böni vorgestellt und Adelheid Duvanel wird so sympathisch eingeführt, dass ich Lust bekommen habe, mal etwas von ihr zu lesen.

Im Dossier geht es um die neuen Konfliktlinien der Weltpolitik: Gerhard Pfister, Präsident der Mitte-Partei, erinnert daran, dass Sicherheit Voraussetzung ist für Freiheit. «Souveräne Demokratien, deren Souveränität auch von Grossmächten anerkannt und respektiert wurde, sind die Ausnahme in der Weltgeschichte.» Er vertritt die These, dass der kalte Krieg vielleicht gar nicht vorbei war, sondern nur unterbrochen und jetzt wieder auf uns zukommt. Ich war politisch interessierter Teenager in den 1980er-Jahren, als Reagan, Thatcher, Kohl, Gorbatschow und der polnische Papst Weltgeschichte im Zeitraffer schrieben. Welch Optimismus zu Anfang der 1990er-Jahre herrschte! Und jetzt diese Ernüchterung, Ent-Täuschung …

Der Beitrag von Maxim Kantor scheint mir, trotz sehr interessanter Thesen, unausgegoren; eine derart falsche Verwendung des Begriffs «Neoliberalismus» darf aus meiner Sicht im «Schweizer Monat» nicht durchgehen. Eine ernstzunehmende Debatte über einen EU-Beitritt der Ukraine gibt es nicht wirklich, und die These, dass der Westen Putin in der Ukraine in eine Falle gelockt habe, ist nicht haltbar.

Michail Schischkin erteilt danach allen naiven Hoffnungen auf einen raschen Wandel nach Putin eine klare Absage: «Die freie Welt muss endlich einsehen, dass sie nicht gegen einen verrückten Diktator zu kämpfen hat, sondern gegen ein autonomes, sich selbst regenerierendes aggressives Machtsystem.»

Weiter nach Osten blickt Glacier Kwong. Im Interview mit Ronnie Grob beeindruckt die Hongkongerin durch Mut und Entschlossenheit. Ich würde den Mut der Dissidenten selber nicht aufbringen.

Simona Grano analysiert gekonnt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Verhältnis von Russland zur Ukraine und jenem der Volksrepublik China zu Taiwan.

Zum Schluss etwas, das es nur im «Schweizer Monat» gibt: Elena Leontjeva denkt überzeugend gegen den Mainstream und sieht die positiven Impulse, die (auch aktuelle) Knappheiten auslösen können: «Der Mensch neigt dazu, die negative Seite der Knappheit zu sehen. Mangel kann aber auch als Potenzial gesehen werden – als Motor, der den Menschen zum Handeln anregt.» Was für ein wohltuend tiefgründiger Kontrast zur oberflächlichen Meinung des Generalsekretärs der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) in der NZZ: «Die zentrale Raison d’être der Ökonomie, die Knappheit von Gütern, ist obsolet geworden: Knappheit ist heute nicht mehr Folge mangelnder Produktivität, sondern die Folge einer ungleichen Verteilung.» Bei Leontjeva hingegen: «Die Menschheitsgeschichte kann als eine Abfolge menschlicher Reaktionen auf die verschiedenen Erscheinungsformen des Mangels wahrgenommen werden», mit der korrekten Handlungsempfehlung für liberale, offene Gesellschaften: «Wenn Wandel unvermeidlich ist, dann liegt in der Reaktionsfähigkeit der Schlüssel zur Erhaltung des Lebens.»

Im Wissen, dass diese hervorragende September-Ausgabe keine Ausnahme ist, bleibt anzumerken: Mit dem grossen Themenspektrum, der Tiefe und den neuen Gedanken, die er anregt, hat der «Schweizer Monat» viel mehr Leser verdient.


Wir danken Christoph Luchsinger herzlich für das ausführliche Feedback.

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