Blattkritik über die Juli/August-Ausgabe
Die Juli/August-Ausgabe des Schweizer Monats wird von Tommaso Manzin beurteilt.
Der Covertitel «Europas Asylsystem tötet» verweist auf die Tragödie, dass viele Menschen beim Versuch, aus ihrem Land nach Europa zu fliehen, statt eines neuen Lebens den Tod finden. Im Interview fordert der Migrationsforscher Ruud Koopmans, dass Personen aus als sicher geltenden Ländern und daher ohne Aussicht auf Asyl schneller zurückgeschafft werden können. Dies würde die Anziehungskraft Europas für illegale Flüchtlinge mindern und damit ihr Risiko, auf dem Weg dorthin ums Leben zu kommen. Tatsächlich bedrohte Menschen könnten so zudem leichter legal einwandern.
Man hätte die Argumente womöglich für sich sprechen lassen und auf eine Kritik linker Politik verzichten können. Dies umso mehr, als die EU Anfang Juni nach Jahren erfolgloser Verhandlungen eine relativ breit abgestützte Asylreform beschlossen hat, die in die Richtung der von Koopmans skizzierten Mechanismen geht. Die Thematisierung humanitärer Katastrophen könnte sonst als Aufhänger oder schlimmstenfalls als Alibi verstanden werden, um durch die Hintertür den typisch konservativen Punkt machen zu können: Überfremdung, Verlust traditioneller Werte.
Noch apropos Titel: Eine der Interviewfragen setzt mit der Behauptung ein, die deutsche Migrationsforschung sei moralisch aufgeladen. Der Titel «Unser Asylrecht ist eine moralische Schande» zeigt nicht nur, dass das auch das Interview ist, sondern wohl auch, dass eine solche Debatte letztlich immer eine moralische sein dürfte und vielleicht auch sein muss.
Der Artikel «Der Nährboden der AfD» signalisiert zunächst Vorbehalte gegenüber der Alternative für Deutschland (AfD) (von Nährboden wird selten gesprochen, wenn Positives auf ihm gedeiht), ist dann aber eine Warnung vor linker Asylpolitik. Die Sorge des Autors Erol Özkaraca gilt integrationsunwilligen Migranten und den Parallelstrukturen islamischer Einwanderer, die zur Äusserung ihrer illiberalen und antidemokratischen Propaganda Rechte nutzen (oder eben missbrauchen), die sie in ihrem Land gerade nicht haben: freie Meinungsäusserung, freie Information und Religionsfreiheit. Ausserdem sieht Özkaraca eine Allianz zwischen Linken und Islamisten im Kampf gegen den Kapitalismus. Vieles trifft einen wahren Kern. Leider hat man aber beim Lesen das Gefühl, der Artikel gerate im Ton zunehmend alarmistisch, und einiges klinge selbst nach AfD. Nebenbei bemerkt ist Özkaraca im Schwerpunktthema «Migration» der zweite Ex-Linke, der gegen linke oder eben rot-grüne Politik schiesst.
Im Interview «Der Föderalismus ist die einzige Chance auf ein friedliches Nebeneinander» sieht Michael Wolffsohn in der Föderalisierung der Ukraine eine Möglichkeit, um den Konflikt mit Russland zu beenden. Zu den Szenarien gehört eine «konföderative Verbindung» mit Russland «jener Gebiete, die die Ukraine kaum wiedergewinnen dürfte». Man muss wohl zu 100 Prozent Realpolitiker pur et dur sein wollen, um derlei Zugeständnisse an Russland vorzuschlagen. Auf der eher pessimistischen Seite auch das Menschenbild von Wolffsohn, wenn er im Staat primär den «organisierten Schutz des Menschen vor dem Menschen» sieht. Ganz nach Thomas Hobbes: Homo homini Lupus.
Auf die Frage, wie man den Ukrainekonflikt am besten versteht, antwortet Wolffsohn mit der «strukturellen Ursache» für den Konflikt: die Kunstkonstruktion des ukrainischen Staates. Trotz Nachhaken fällt zwar der Ausdruck «strukturelle Spannungen», und man erahnt ethnische oder religiöse Sollbruchstellen – über die «Konstruktion» erfährt man aber nichts. Weiter unten wird dann zwar in einer Frage seine Theorie ausgeführt, wonach künstlich gezogene Staatsgrenzen, die nicht mit der «Demografie» übereinstimmen, zu weiteren Konflikten führen würden. Abgesehen davon, dass hier wohl nicht «Demografie», sondern «Ethnie» gemeint ist (Wolffsohn spricht in der Antwort von Stämmen), ist das erste Land, das dabei einfällt, die Schweiz: Trotz Föderalismus werden hier dauerhaft romanischsprachige Bevölkerungen von deutschsprachigen – jedenfalls potenziell – majorisiert, und dies an der Grenze zu grösseren Ländern, die just deren Sprache sprechen. Der Schweizer Föderalismus ist zudem nicht um Sprachgrenzen herum gebaut. Sind Sprache und Ethnie zwingend Spaltkeile? Und wenn ja: Ist es in der Schweiz allein der Föderalismus, der sie stumpf macht? Oder ist der Wohlstand ebenso wichtig? Der Grund, wieso so viele andere Länder nicht föderalistisch sind, ist für Wolffsohn dennoch kristallklar: Sie sind denkfaul.
Die Frage bleibt, ob es andere strukturelle Gründe gab für den Krieg in der Ukraine – oder andere Gründe als strukturelle. Putins sowjetischer Restaurationsfuror wird zwar erwähnt, erscheint aber fast als logische Konsequenz dieser «Kunstkonstruktion». Auf die Frage nach dem Zerfall von Staaten wegen föderativer Fliehkräfte (den Gegenbeweis liefern Staaten wie die Schweiz, Deutschland und die USA), gibt Wolffsohn Antworten auf ganz andere Fragen, etwa jene nach dem Sinn des Staates (die unabhängig ist vom Föderalismus): Müllabfuhr, Sicherheit nach innen und aussen – kurz: der gute alte Nachtwächterstaat. Und ergänzt mit den mahnenden Worten aus dem liberalen Fundus, der Staat dürfe nicht in alle Lebensbereiche eindringen.
Originell ist das Interview mit dem Direktor des europäischen Ayn-Rand-Instituts Nikos Sotirakopoulos. Aus dem Spannungsfeld Mensch-Natur schwingt für einmal statt des erwarteten Schuldgefühls die so kaum je gehörte und unerhörte Forderung: Der Mensch darf und soll in die Natur eingreifen, um sie sich zu Nutzen zu machen. Die Frage steht im Raum: Wo endet der Mensch, wo beginnt die Natur? Der Mensch ist Teil der Natur, der Biologie – und ist die Natur nicht längst auch eine Art Extension der Existenz des Menschen in dem Ausmass, wie er sie sich zu eigen macht?
Etwas gar flott dann der philosophische Parforceritt: Sartre, die Griechen, die USA als deren Bewunderer wegen dem klassizistischen Kapitol (dessen Name allerdings Rom imitiert), Faschismus, Kommunismus, Frankfurter Schule, Christentum und Mutter Natur – uff. Dem liberalen Hellenen scheint fast alles sehr klar: Klar haben wir einen freien Willen, selbstverständlich können wir dem Leben selbst einen Sinn geben, entscheiden, ob wir Schlechtes oder Gutes tun. Letzteres steht dabei in keinerlei Spannungsverhältnis zur eigenen Optimierung: Die unsichtbare Hand des Markts maximiert mit unserem eigenen Kalkül auch das der Gemeinschaft (denn wie Adam Smith sagt, wollen wir gar nicht, dass der Bäcker um unseretwillen gutes Brot backt, sondern um seinetwillen). Für Sotirakopoulos ist dieses «Gute» als by-product des eigenen Nutzens nicht nur gleichwertig mit dem, was unter Verzicht für andere geschaffen wird – diese ganze Opferbereitschaft ist für ihn eine fixe Idee des Christentums, eine Art Pathologie. Braucht Moral keine Absicht? Sogar das Strafrecht unterscheidet in Graden von Schuld, je nach dem, ob Absicht, Vorsatz oder nur Fahrlässigkeit im Spiel ist. Ist fahrlässig Gutes umgekehrt gleichwertig Gutes? Aus der vitalistischen Sicht von Sotirakopoulos sind das nichts als lebensfeindliche Fragen, die Zeit kosten. Seine Bewunderung gilt dem grossen Individuum, das keine Sekunde an Verzicht denkt, sondern sich entfalten will und soll, und dann doch irgendwie das Gute schafft (auch wenn er dabei wenigstens nicht unbedingt – wie Mephisto – das Böse will).
Übrigens: Sotirokopoulos ist nach Koopmans und Özkaraca der dritte Ex-Linke, der gegen seine Ex-Genossen schiesst. Spätestens jetzt könnte man auf die Idee kommen, das sei kein Zufall, sondern Dramaturgie. Bekehrte «Falschgläubige» als Zeugen für liberale Positionen aufzurufen, verleiht diesen nicht nur mehr Objektivität dank zusätzlichem Triangulationspunkt einer «Aussensicht», sondern auch mehr Kraft: «Der wird ja schon wissen, warum der die Seiten gewechselt hat.»
Lesenswert und leserfreundlich ist der Überblick «Bankenkrisen gehören zum Kreditwesen». Man möchte anfügen: Obwohl bereits an den Bankenrettungen in der Finanzkrise vor 15 Jahren einsehbar, hat es das vom Bundesrat bei der Universität St. Gallen in Auftrag gegebene und Anfang Juni veröffentlichte Gutachten gebraucht, um zu zeigen, dass eine temporäre Verstaatlichung eine Option sein muss bei der Rettung einer Grossbank – und womöglich besser gewesen wäre als die Zwangsübernahme der Credit Suisse durch die UBS. Ideologie hat eben Kosten. Sie schliesst a priori Möglichkeiten aus und somit den Raum, innerhalb dessen man optimieren kann. Eine Verstaatlichung – obwohl in liberalen Demokratien wie USA und Grossbritannien Standard – bringt ein Bundesrat oder ein SNB-Präsident nicht über die Lippen. Klar ist nur, dass die UBS jetzt noch grösser ist, um fallengelassen zu werden, und es statt zwei nur noch eine Grossbank gibt. Dass die Schweiz zumindest in diesem Punkt schon immer ein besonderes Verständnis von Liberalismus hatte, indem sie vor allem die Privatautonomie hoch bewertete und weniger den Wettbewerb, ist eine andere Geschichte, die an den epochalen Mühen der Schweizer Kartellgesetzgebung abgelesen werden kann.
Das Dossier «Aufbruch von 1848» war auch ein Aufbruch für mich selbst: Ich hatte nur noch eine vage Vorstellung des damaligen Chaos in Europa. Geblieben ist mir, was mir mein Vater erzählte: dass man auf Italienisch bist heute sagt «es ist ein 48 passiert», wenn man tumultartige Zustände beschreiben will. Ich komme aber auch hier auf die «Kerben» zurück, in die gehauen wird (im Bewusstsein, dass ich damit nichts Anderes tue): Das Intro ist eine weitere Hymne auf die Schweiz – als einziges Land, in dem die liberale und nationale Bewegung von damals erfolgreich gewesen sei (den Musterschüler findet man auch im Artikel «Das freiheitliche Utopia» und in der Grafik des Monats «Forschungseuropameister Schweiz»): Die Texte im Dossier sind dann allerdings differenziert und zeigen, dass die plebiszitären Elemente der Verfassung erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen, während davor breite Kreise im eidgenössischen Parlament nicht vertreten waren. Was mir zu kurz kam: Die Voraussetzungen für die Modernisierung der Schweiz schuf Frankreich, Napoleon hat die Ideen der französischen Revolution in ganz Europa verbreitet. Das liberale Gedankengut im Code Civil prägte unser Zivilgesetzbuch, insbesondere in der Ausgestaltung der individuellen Rechte. Auch bezüglich Überwindung der Aristokratie war Frankreich für die Entwicklung der Schweiz entscheidend.
Der Schweizer Monat will das Denken herausfordern, zu Debatten anregen. Beides, vor allem letzteres, gelingt in einer Vielzahl von Artikeln. Ich würde insbesondere sagen, der Schweizer Monat verpflichtet zu Qualität in den Argumenten. Unverkennbar ist auch sein Beitrag zur Vermittlung von Wissen und Standpunkten. Schwerer fällt ihm – wie uns allen – das eigene Denken herauszufordern. So wie in der Kirche die Psalmen im Lobpreis Gottes enden, hat man zuweilen hier das Gefühl, in so gut wie jedem Artikel mindestens ein bekanntes liberales Mantra zu lesen – und ein Lob auf die Schweiz.
Es braucht einen liberalen Leuchtturm, dessen Licht sich langsamer dreht als das einer Tageszeitung und längere Belichtungszeiten erlaubt. Es braucht eine kritische Stimme in einem Mainstream, der stetig exkommunikativer und hermetischer wird. Und es gehört bis zu einem gewissen Punkt zur intellektuellen Redlichkeit, seine ideelle Verortung offen zu zeigen und Position zu beziehen. Ab diesem gewissen Punkt gehört es aber auch zur selben Redlichkeit, das eigene Revier verlassen zu können. Ergebnisoffen heisst gerade, dass man in Kauf nimmt, einmal woanders zu landen als bei sich selbst.