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Blattkritik: Francis Cheneval über die Februar-Ausgabe des «Schweizer Monats»
Francis Cheneval, zvg

Blattkritik: Francis Cheneval über die Februar-Ausgabe des «Schweizer Monats»

Die Ausgaben des «Schweizer Monats» werden jeweils von einem eingeladenen Gast beurteilt. Diesmal vom Philosophen Francis Cheneval.

Ich bin weder Medien- noch KI-Experte: In der Folge handelt es sich also um «Beobachtungen eines Inkompetenten»: Insgesamt ist dies eine sehr gehaltvolle Nummer; eigentlich enthält sie genügend Stoff für zwei bis drei Nummern. Die Frage könnte gestellt werden, ob hier nicht zu viel Pulver auf einmal verschossen wird. Aber wenn es sich die Zeitschrift leisten kann, ist dies umso eindrücklicher. Ich habe von jedem Artikel etwas gelernt und wurde durch die Kurzgeschichte angeregt; die Kolumnen sind grösstenteils inspirierend. Die Fotos sind mir zu gross (gilt auch für meine wenn ich selbst schreibe), und ich hätte gern mehr Graphiken und Tabellen.

Struktur, Aufbau:

Man erwartet von Anfang an mehr Fokus auf das Kernthema «Künstliche Intelligenz» (KI), bekommt aber anderes zuerst. Wer die Nummer von Anfang an durchliest, wird dadurch irritiert. Aber der Blattkritiker ist sehr wahrscheinlich der einzige, der die Nummer komplett gelesen hat. Normalerweise pickt man sich das heraus, was einen anspricht. So gesehen, spielt die Anordnung eine untergeordnete Rolle.

Inhalte:

  • Michael Wiederstein: Starker Anfang mit dem Rosa-Luxemburg-Zitat und Editorial (Wettbewerb der Ideen in der sachlichen Debatte). Warum hier nichts über die KI?
  • Bernhard Pörksen: «Die Hölle der Desinformation»: Es beginnt mit einem Artikel zu „fake news“; ist m.E. aber eher schon etwas abgegriffen; spannende Hauptthese dann leider erst am Schluss und ohne weitere Ausführungen: Wir müssen von der digitalen Gesellschaft, in der wir heute leben, zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden: hervorragend formuliert; könnte schneller auf den Punkt gebracht und viel breiter ausgeführt werden.
  • Laura Clavadetscher: «Das unentschuldigte Fehlen der Vernunft»: Erhellend! Es stören mich (wie fast immer) die Aufhänger: „Ende des homo logicus“: eben nicht, nur Klärung, was die Logik leistet und was sie nicht leistet. Sie bleibt unverzichtbar, sie ist eine, aber eben nur eine von sieben artes liberales. Logik soll gar nicht überzeugen und das Geschäft der Rhetorik oder Grammatik übernehmen, nur Widersprüche verhindern, Irrtümer ausmerzen. Die Logik ist ein negatives aber nicht minder notwendiges Geschäft.
  • Ronnie Grob: «Ich.Muss.Jetzt.Reden.»: Ganz stark!!! Einer meiner (vielen) Lieblingsartikel im Heft.
  • Christian P. Hoffmann: «Bindungsängste» (Kolumne): Hier werden die EU-Probleme gebetsmühleartig dargelegt; nichts Neues; positive Wirkung der EU einmal mehr ausgeblendet; Brexit ist in der Tat eine neue Konstellation, EU bleibt ohne liberales Gegengewicht eines mächtigen Nettozahlers. Geht es im Rahmenabkommen aber wirklich um eine ewige Bindung? Übertreibungen sind auch eine Art „fake news“!
  • Christine Brand: «5-Sterne-Sitterin» (Kolumne): stark!!! Freiheit ganz in meinem Sinn; ich hätte einen Job für sie in meinem Ferienhaus mit Hund.
  • Fabio Andreotti: «Nach dem Geld ist vor dem Geld»: Guter und sachlich richtiger Einstieg bezüglich Geldtheorie und dann sehr starke Analyse. Digitalisierung des Geldes und Blockchain bringen eine Rückkehr auf Realwerte und Tokens (im Gegensatz zu Types). Digitalisierung ermöglicht moneyness von Waren und neue Formen der Deckung, allerdings nicht nur durch Gold. Etwas vom Besten, was ich zu dem Thema Geld und Digitalisierung bis jetzt gelesen habe! Die Tokenisierung könnte noch etwas erklärt werden; für den Laien ist sie immer noch eine Blackbox. Und die Frage bleibt im Raum: Wie werde ich wissen, wieviel Geld ich zur Verfügung habe, was die Kaufkraft all dessen ist, das ich zur Verfügung habe?
  • Alexander Fink: «Zahl des Monats – 3,4»: Diese Kolumne zu Migration und Wirtschaft ist eher unoriginell. Remittances nicht erwähnt!
  • Narayana Murthy: «Ich habe immer versucht, Leute ­einzustellen, die smarter sind als ich»: Für mich einer der Höhepunkte der Nummer. Sowohl in Bezug auf den Inhalt, als auch auf die Glaubwürdigkeit des Unternehmers. Warum nicht er als Titelseite und Aufhänger? Ist ein wirklich grosser Fisch!
  • Ronnie Grob: «Ein Glas Wein mit Alexander Gapp»: Grossartiges Statement zu den Lehrlingen!: «Wir arbeiten darauf hin, dass einer unserer Lehrlinge eines Tages den CEO-Posten übernimmt.» – Bravo!
  • Bruno S. Frey: «Lächerliche Staatsbesuche» (Kolumne): etwas peinlich, negativ, verbittert, besonders der Satz, dass Frauen keine Ehrengarde abschreiten sollten, weil sie nie Militärdienst geleistet hätten. Die wenigsten männlichen Präsidenten weltweit haben dies getan. Herr Frey scheint auch nicht zu wissen, was bei Staatsbesuchen in der Schweiz alles auf dem Programm steht. Unnötiges Gegeneinander-Ausspielen von kompatiblen Dingen. Alle Achtung vor dem Kollegen als Ökonom, aber diese Kolumne ist eventuell so überflüssig wie Ehrengarden.
  • Christoph Luchsinger: «Rekorde» (Kolumne): erhellend und witzig; was man intuitiv spürt, kann auch errechnet werden.
  • Niko Stoifberg: «Dort» (Kurzgeschichte): irgendwie fast unglaubwürdig dramatisch. Aber es kann immer alles schiefgehen.
  • Stephan Bader: «Nacht des Monats mit dem inneren Schweinehund»: der Schlusstext des Hefts. Toller existenzieller Finish der Nummer. Anstrengen kann sich nur der Mensch, Maschinen können sich nicht anstrengen! Als Marathonläufer kann ich vieles hier beim Lesen miterleben. Aber im Marathon sind im Gegensatz zum Fussmarsch Baders solch wunderbare Studien der Mitläufer nicht möglich, jedenfalls mir nicht.

Zum Dossier über «Künstliche Intelligenz»:

Dem Dossier hätte ein Grundsatzartikel darüber, was eine Entscheidung ist, gutgetan. Maschinen, die aufgrund von Impulsen eine Funktion ausüben, entscheiden nicht, sie können gar nicht anders funktionieren. Eine Maschine, die mich am Zoll hereinlässt, weil mein Pass gültig ist und meine Fingerabdrücke und Fotos mit dem Pass übereinstimmen, entscheidet nicht. Sie reagiert nur in vorprogrammierter Weise auf Impulse. Die Entscheidung fällt ein Zollbeamter, der mich trotz dieser Übereinstimmungen nicht hereinlässt und unter dem Tisch 50 Dollar verlangt. Bei den meisten maschinellen «Entscheidungen» wird genau das ausgeblendet und vermieden, was Entscheidungen zu solchen macht: eine Marge von Ermessen, Willkür, etc. Was bedeutet es also genau, wenn künstliche Intelligenz entscheidet? Dass sie wieder menschlich wird, sich also irren kann, willkürlich etwas bestimmen kann etc. Wenn dem so wäre, dann wäre künstliche Intelligenz auch künstliche Dummheit, künstliche Willkür, künstliche Parteilichkeit, etc.

  • Douglas Rushkoff: «Suvival of the Richest»: bedenkenswerter Kontrapunkt – der digitale Vollgaskapitalismus von ein paar Billionären. Das Dystopische darf nicht fehlen. Hier ist es sogar der Realität entnommen.
  • Dileep George: «Unsere Intelligenz ist in jeder Hinsicht suboptimal»: sehr spannendes Interview. Mein Eindruck: KI-Forscher sollten Kant lesen. Die Verstandeskategorien als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung (e.g. Kausalität, etc.) werden beim Programmieren helfen.
  • Adam Gazzaley: « Unkonzentriert, einfallslos, deprimiert »: sehr gehaltvoll und lehrreich. Wie umgehen mit Infoflut und Hyperkonnektivität, die zu Depression, Agression etc. führen? Durchaus konstruktiver Artikel, der Lösungswege aufzeigt: Nicht nur das Verhalten, sondern auch die Software und Geräte entsprechend anpassen! Der Artikel ist aber für Laien, die den Psychologenjargon nicht intus haben, etwas schwer verständlich.
  • Rachel Botsman: «Der Klebestoff unserer Gesellschaften»: Passt thematisch zum ersten Artikel von Pörksen, fokussiert aber auf Vertrauen. Am Anfang viel Rhetorik und alles auf einmal, kommt der Text dann aber auf den Punkt: Das neue Vertrauen in der sharing economy vs. den Verlust von institutionellem Vertrauen. Hervorragend dargestellt und reflektiert. Wie weiter mit dem institutionellen Vertrauen, das durch das Interpersonale nicht ersetzt wird?
  • David Gugerli: «Fragen zur zukünftigen Vergangenheit des Computers»: Ich habe nicht verstanden, was die Botschaft dieses Beitrags ist. Ausser, dass immer alles anders kommt, als man denkt, und die Schweiz hoffnungslos rückständig und folkloristisch ist – was sich aber widerspricht, denn wenn alles anders kommt, als man denkt, gewinnt am Schluss vielleicht der Rückständige.
  • Christian H. Hoffmann: «Künstliche Panik statt künstlicher Intelligenz»: Endlich etwas Präzision! Erst hier wird in der Nummer gesagt, was KI genau ist. Luzide Analyse der Arbeit und KI; KI als Ersatz für repetitive, tendenziell entfremdende Arbeit. Fundierte und konkrete Aussagen über den sinnvollen Einsatz von KI.
  • Laura Clavadetscher: «Die dritte Revolution»: starke und umsichtige Analyse. Anstatt irrationaler Angstmacherei bietet der Beitrag viele sachliche Informationen und mit leiser Stimme eine These, dass Roboter-Kriege eventuell auch weniger leidvoll werden. Erneut bleibt die Frage im Raum, was genau eine maschinelle Entscheidung ist und inwiefern überhaupt von einer Entscheidung gesprochen werden kann, wenn die wesentlichen Elemente menschlichen Entscheidens herausgefiltert werden: eine Kausalkette spontan zu beginnen oder beenden. Gerade das will man bei Maschinen vermeiden, oder?
  • Rolf H. Weber: «Dürfen Maschinen über Menschen entscheiden?»: sehr seriöser und umsichtiger juristischer Beitrag. Aber auch hier bleibt die Frage im Raume stehen, was genau eine Entscheidung von Maschinen ist. Entweder ist es eine Funktion, für die die Maschinenprogrammier und Betreiber verantwortlich sind (nichts Neues unter der Sonne), oder es ist eine Handlung, in die menschliche Eigenschaften hineinprogrammiert werden? Dann geht aber der Vorteil maschinellen Funktionierens verloren, und die Maschinen werden allzumenschlich, etwa willküranfällig, parteiisch, selektiv, etc.
  • Rafaello D’Andrea: «Die künstlerische Intelligenz»: Für einen unverbesserlichen Optimisten wie mich ein wundervolles Schlussbouquet des Dossiers! Gern würde man eine Debatte zwischen diesem Autoren und Herr Gugerli lesen und dazu die maschinelle Version von Beethovens 10. Sinfonie hören.

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