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Bitte einmal Minimalismus
Christine_Brand

Bitte einmal Minimalismus

Man muss es sich leisten können, Geld auszugeben, um mit wenig auszukommen.

Minimalismus ist in der westlichen Welt gerade schick. Im Internet finden sich Ratgeber wie «Minimalismus für Dummies» oder «In sieben Tagen zum Minimalisten». Bebildert sind die Seiten mit karg ein­gerichteten Wohnungen, in denen teure Designobjekte stehen. Wenig zu besitzen hat hier wenig mit Askese zu tun, aber viel mit der Selbstinszenierung von Menschen, die sich Minimalismus leisten können.

In Sansibar, meiner zweiten Heimat, spricht keiner von ­Minimalismus, obwohl fast jeder ihn lebt, allerdings un­freiwillig. Kürzlich war ich zu meinem Taxifahrer Suleiman eingeladen. In seinem Haus standen ausser den Betten ­keine Möbel, weil er sie sich nicht leisten kann. Dabei ist ­Suleiman einer meiner wohlhabenderen afrikanischen Freunde. Eine Brautparty führte mich in ein Dorf, in dem es etwa dreissig Häuser und eine Toilette gab: Ein quadratisches Loch in einer Betonplatte neben dem Dorfplatz. Die Klotür bestand aus einem Vorhang mit einem Loch darin, damit man nachschauen konnte, ob gerade besetzt ist.

Selbst wer sich etwas leisten kann, kriegt in Sansibar nicht, was er will. Mein Dorfladen an der Sandpiste, die sich Hauptstrasse nennt, ist klein wie ein Kiosk. Zu kaufen gibt es, was vorhanden ist. Mal gibt es Eier, mal nicht, mal hat es Cola, dann wieder zwei Wochen lang nicht. Erstaunlich ist, wie schnell man sich daran gewöhnt und fast nichts vermisst. Verständlich ist, dass die Menschen hier gerne mehr hätten, als sie sich leisten können. Bizarr erscheint, dass die Menschen in Europa Geld ausgeben, um zu lernen, mit weniger auszukommen.

«Freiheit leben – mit Minimalismus», wirbt ein Minimalismuscoach in der Schweiz, den man gegen Honorar buchen kann. Die japanische Bestsellerautorin Marie Kondo, mit Tips zu Minimalismus und Aufräumen reich geworden, ­verkauft in ihrem Onlineshop so unverzichtbare Dinge wie einen Leinenbezug für Papiertaschentuchboxen oder Aufräumkörbe in Apfelform. Scheinbarer Verzicht ist zum Geschäft geworden. Der Begriff «Minimalismus» wurde von der Werbeindustrie gekapert und hat seine Bedeutung verloren, wenn nicht gar seinen eigentlichen Sinn.

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