Vertrauen ist gut – verifizieren ist besser
Erstmals in der Geschichte können Menschen die vollständige Kontrolle über ihre Vermögenswerte übernehmen. Banken müssen sich dieser Entwicklung anpassen – oder sie riskieren die eigene Bedeutungslosigkeit.

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Wir schreiben das Jahr 2008. Ein strahlender Septembermorgen in New York. Als junger Analyst mache ich mich auf den Weg zur Wall Street. Die Märkte befinden sich seit Tagen im freien Fall. Mein Chef beruhigte mich mit den Worten, dies sei nur der normale Finanzzyklus. Ich vertraute ihm blind und setzte meine Zukunft auf sein Fachwissen – ein fataler Fehler, der mich teuer zu stehen kam.
Am 15. September 2008 meldete Lehman Brothers Insolvenz an. Es war der grösste Zusammenbruch eines Finanzinstituts in der Geschichte der USA. Die Märkte stürzten weiter ab und trieben die US-Wirtschaft in eine der verheerendsten Rezessionen seit Jahrzehnten.
Geburt von Bitcoin und Self-Custody
Am 31. Oktober 2008, wenige Wochen nach dem Zusammenbruch von Lehman, wurde Bitcoin geboren. Der Zeitpunkt war kein Zufall. Bitcoin wurde als Notausgang aus einem maroden System geschaffen, das die Integrität der Märkte nicht mehr gewährleisten konnte.
Die Vision von Satoshi Nakamoto, dem Schöpfer von Bitcoin, führte zur Entstehung der digitalen Self-Custody, der Fähigkeit, digitale Werte eigenständig zu besitzen und zu kontrollieren. Diese Idee wurde möglich, als Nakamoto einen Weg fand, die digitale und physische Welt kryptografisch zu verbinden, indem er die Ausgabe von Bitcoins (digital) an Elektrizität (physisch) koppelte. Diese Innovation führte zur Entwicklung von Self-Custody-Technologien: Hardware und Software, die darauf abzielen, digitale Werte zu sichern. Dazu zählen «Hardware Wallets», physische Geräte, die entwickelt wurden, um die einzigartige digitale Signatur des Nutzers zu schützen, die für die Autorisierung der Übertragung digitaler Vermögenswerte erforderlich ist.
«Die Vision von Satoshi Nakamoto, dem Schöpfer von Bitcoin, führte zur Entstehung der digitalen Self-Custody, der Fähigkeit, digitale Werte
eigenständig zu besitzen und zu kontrollieren.»
Diese Tools eliminierten die Notwendigkeit von Drittparteien, reduzierten das Gegenparteirisiko und ermöglichten zum ersten Mal eine nachprüfbare digitale Eigentumsverwaltung ohne vertrauenswürdige Vermittler.
Dies führte zu einem alternativen Finanzsystem, das die Art und Weise veränderte, wie Vermögenswerte gesichert, gehalten und übertragen werden. Dieses System ermöglichte Menschen erstmals, ihre finanziellen Ressourcen selbstbestimmt zu verwalten.
Banken am Scheideweg
Banken stehen heute an einem Scheideweg: Entweder klammern sie sich an eine Zukunft der totalen finanziellen Überwachung fest, die in der Vergangenheit zu katastrophalen wirtschaftlichen Zusammenbrüchen geführt hat, oder sie öffnen sich für diese neuartige Technologie, die die Kontrolle wieder in die Hände der einzelnen Marktteilnehmer legt.
Banken können folgende drei Anwendungsfälle für die Integration von Self-Custody-Technologie prüfen:
1. Verwahrung und Wallet-Wiederherstellung
Hardware Wallets sind darauf ausgelegt, kryptografische Schlüssel zu sichern und den Zugriff auf digitale Vermögenswerte zu kontrollieren. Die ursprüngliche Wallet-Technologie bot nur eine einzige Private-Key-Option. Ging dieser Schlüssel verloren oder wurde er gestohlen, waren die Vermögenswerte gefährdet. Mit der Zeit entwickelten sich jedoch fortschrittlichere kryptografische Verfahren, die verschiedene Möglichkeiten zur sicheren Schlüsselverteilung bieten: Multi-Sig, Shamir’s Secret Sharing und Threshold Signature Schemes. Die Verantwortung für den Schutz digitaler Vermögenswerte kann nun auf mehrere Parteien verteilt werden, die jeweils einen Teil der Gesamtanzahl der Schlüssel besitzen, um einen einzelnen Schwachpunkt zu vermeiden.
Banken können in diesem Sicherheitsmodell eine zentrale Rolle spielen, indem die Kontrollschlüssel auf mehrere Parteien verteilt werden. Dabei behält der Nutzer ausreichend Schlüssel, um Transaktionen eigenständig zu kontrollieren und zu signieren, während eine Minderheit der Schlüssel von einer dritten Partei (beispielsweise einer Bank) als Back-up verwahrt wird.
Dieser Ansatz bietet Nutzern einen guten Kompromiss: persönliche Kontrolle über ihre Bitcoin bei gleichzeitiger institutioneller Sicherheit für Schlüssel-Back-ups. Zudem eröffnet er Banken eine neue Rolle in der Welt der digitalen Vermögenswerte als «Schlüsselwiederherstellungsagenten», die Nutzern beim Zugang zu ihren Wallets helfen können.
Bankdienstleistungen können auch weitere Unterstützungsfunktionen bieten, darunter Onboarding, die Unterzeichnung von Transaktionen und die automatische Übertragung von Vermögenswerten (beispielsweise im Erbfall).
2. Kreditvergabe und Besicherung
Mit der steigenden Akzeptanz des Bitcoins entscheiden sich immer mehr Besitzer, ihre Bitcoin als Sicherheit zu hinterlegen und Kredite aufzunehmen, statt sie zu verkaufen. Banken können in diesem Bereich Folgendes anbieten:
- Fiat-Liquidität für Bitcoin-gesicherte Kredite
- Bonitätsprüfung der Gegenpartei
- Verwahrung der Bitcoin-Sicherheiten
Banken können Bitcoin-Sicherheiten für die Dauer eines Kreditvertrags verwahren. Sie können die Sicherheiten überwachen, Kunden liquidieren oder Streitigkeiten beilegen, wenn die Kundenposition ausfällt.
Eine Zukunft ist denkbar, in der Banken als Technologieanbieter auftreten und Bitcoin Smart Contracts anbieten, um das Risikomanagement bei mit Bitcoin hinterlegten Krediten zu automatisieren und dabei die Sicherheit und operative Effizienz zu verbessern.
3. Trading
Bitcoin-Layer-2-Lösungen (Lightning Network, Side Chains) sind Technologien, die auf dem ursprünglichen Bitcoin-Protokoll (Layer 1) aufbauen und es um Funktionen erweitern, die ursprünglich nicht vorgesehen waren. Diese Technologie ermöglicht die Abbildung realer Vermögenswerte wie beispielsweise Anleihen und Aktien auf Bitcoin sowie den direkten Handel zwischen Personen (P2P), ohne dass eine zentralisierte Börse vonnöten ist. Banken könnten hier eine wichtige Rolle spielen durch
- die Überprüfung der Authentizität von Vermögenswerten;
- die vorübergehende Verwahrung gehandelter Vermögenswerte;
- die Unterstützung von Kunden bei technischen Schwierigkeiten oder Liquiditätsengpässen
Die technologischen Grundlagen für diese Anwendungsfälle existieren bereits. Banken können bestehende Lösungen am Markt nutzen, um klassische Bankdienstleistungen für diese Vermögenswerte anzubieten: Verwahrung, Kreditvergabe und Finanzierung.
Herausforderungen und Ausblick
Es bestehen weiterhin Hürden für die Adoption, etwa die Anpassung der Regulierung, die Verbesserung der Bildung und die Benutzerfreundlichkeit. Die grösste Bremse für diese neue Technologie bleibt jedoch, dass Anleger Komfort und Geschwindigkeit höher bewerten als Eigenverantwortung und Risikokontrolle.
«Die grösste Bremse für diese neue Technologie bleibt jedoch, dass
Anleger Komfort und Geschwindigkeit höher bewerten als
Eigenverantwortung und Risikokontrolle.»
Zum ersten Mal in der Geschichte können Menschen die vollständige Kontrolle über ihre Vermögenswerte und Investitionen haben. Die einzigen Grenzen sind ihre eigene Bereitschaft, diese Verantwortung anzunehmen, sowie die Unterstützung durch Finanzinstitute auf diesem Weg. Banken können sich diesem neuen Markt anpassen und dabei eine wichtige Rolle einnehmen – oder sie riskieren, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.