Bitcoin ist die Lösung, nicht das Problem
Anders als Bitcoin sind Papiergeldwährungen durch einen rechtlich-institutionell-politischen Unterbau gedeckt. Das wird aber zunehmend vom Sicherheitsvorteil zum Risiko. Eine Replik.
In der Mai-Ausgabe des «Schweizer Monats» hat Urs Birchler einen «Geburtsfehler des Kryptogeldes» diagnostiziert. Dass das Bitcoin-Protokoll Vertrauen in eine zentrale geldpolitische Instanz durch einen Algorithmus ersetzt, hält der emeritierte Professor für Banking an der Universität Zürich zwar für programmiertechnisch brillant, doch führe das letztlich ökonomisch in die Sackgasse. Sein Text weckt – für mich erfreulich, denn das trifft nach meiner Erfahrung nur auf wenige der Bitcoin-Kritiker zu – den Eindruck, als habe er sich etwas detaillierter mit Bitcoin und anderen Kryptowährungen beschäftigt.
Für Birchler sind Kryptowährungen wie Bitcoin «Einträge im Grundbuch des Nichts». Mit dieser Aussage dürfte er einer grossen Anzahl Menschen aus der Seele sprechen, die finden, bei Bitcoin und anderen Kryptoanlagen handle es sich um eine virtuelle, digitale Sache, die überhaupt nicht greif- oder fassbar ist, weshalb sie – anders als physische, analoge Dinge – einer realen Wertgrundlage entbehren.
Die Kritik antizipierend verweist Urs Birchler gleich selbst auf einen viel gehörten Einwand seitens der Kryptowelt: Ist eine Papierwährung wie der Schweizer Franken nicht genauso fiktiv? Dem Argument, wonach es sich beim Franken um eine reine Kollektivillusion handle, scheint er durchaus etwas abgewinnen zu können.
Allerdings gibt er zu bedenken, dass dem Schweizer Franken ein rechtlich-institutionell-politischer Unterbau zugrunde liege, der das Vertrauen in das von der Nationalbank ausgegebene Geld stütze. So verdanke das Papiergeld seinen Wert nur vordergründig den einzelnen Gesetzen, die es zu einem offiziellen Zahlungsmittel machten. Entscheidender sei die Tatsache, dass der Franken als Schmieröl für eine funktionierende Wirtschaft fungiere, die wiederum von gesunden Staatsfinanzen und einem stabilen politischen Gerüst flankiert sei. Während im Schweizer Franken somit «Schweiz» stecke, stecke hinter Bitcoin: nichts.
Nationalstaat als fiktive Grosssippe
Hinter Birchlers Begrifflichkeit des rechtlich-institutionell-politischen Unterbaus stecken, etwas konkreter ausgedrückt, die modernen Errungenschaften der partizipativen Demokratie, des liberalen Rechtsstaates und der sozialen Marktwirtschaft. Diese haben sich über die vergangenen zwei Jahrhunderte herausgebildet und sind gewissermassen zu einer Einheit verschmolzen: dem territorialen Nationalstaat. Im Zug des Wiederaufbaus nach den zerstörenden Weltkriegen setzte Anfang der 1970er Jahre die «Great Moderation» ein, eine Zeit niedriger Volatilität und einigermassen stabiler Konjunkturzyklen. Die Welt war mehrheitlich in Ordnung, spätestens seit dem Zerfall des Ostblocks schien das Ende der Geschichte erreicht, wie es der Politikwissenschafter Francis Fukuyama in seinem gleichnamigen Buch von 1992 schrieb.
Doch dann erfolgten die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die Finanzkrise von 2008/09. Insbesondere letztere erschütterte das Vertrauen in die nationalstaatlichen Institutionen nachhaltig. Wie zahlreiche Erhebungen zeigen, hat das Vertrauen in die etablierten Institutionen gegenwärtig einen Tiefpunkt erreicht. Institutionen werden oft als ohnmächtig wahrgenommen, was nicht Vertrauen, sondern Misstrauen nährt. Der Schluss liegt daher nahe: Um Demokratie, Rechtsstaat oder Papiergeld in einem nationalstaatlichen Kontext aufrechtzuerhalten, haben die modernen Nationalstaaten zwangsläufig Fiktionen zu bemühen. Die grösste von allen stellt dabei der Nationalstaat selbst dar, der als symbolischer Sippenersatz, als fiktive Grosssippe fungiert. Der Staat sei «die grosse Fiktion», stellte der französische Ökonom Frédéric Bastiat fest, «mittelst derer alle Welt leben will auf Kosten von aller Welt».
Heute bestätigt sich seine Auffassung mehr denn je: Neben direkter Umverteilung werden die Kosten in unserer fiktiven Grosssippe gegenwärtig grösstenteils über das öffentlich-private Geldsystem – ein Dreigespann aus Staat, Zentralbanken und Geschäftsbanken – in die Zukunft umverteilt. Auf der Grundlage von Steuerschulden, also Staatsanleihen, wird der Kapitalmarkt bis zu einem gewissen Grad geschickt ausgehebelt.
Abhängigkeit von der Geldschöpfung
Eine heute essenzielle Fiktion, die wiederum jene des Staates nährt, besteht darin, Staatspapiere als risikolos zu betrachten, was sie faktisch nicht sein können. Diese wiederum dienen als Fundament für eine Finanzpyramide von Schuldtiteln, die von elektronischen Cash-Beständen über marktfähige Wertpapiere bis hin zu windigen Finanzderivaten alles umfasst. Eine weitere darauf aufbauende Fiktion: Unser heutiges, von der Golddeckung abgekoppeltes Finanzsystem operiert in ständiger Unterdeckung. Zwar ist jede finanztechnische Verpflichtung durch eine Forderung gedeckt, doch ist weder die Qualität noch die Liquidität letzterer gesichert. Macht eine kritische Masse ihre Forderungen geltend, kann diese Fiktion plötzlich platzen. Finanz- und Wirtschaftskrisen können die Folge sein.
Unsere moderne Gesellschaft mitsamt ihrer Wirtschafts- und Politikstruktur hängt also stärker an der Geldschöpfung, als es ihr lieb sein sollte. Sie scheint das letzte Mittel zu sein, mit dem die Zentralbanken die Dinge aufrechtzuerhalten versuchen. In den USA wurden die für 2019 angekündigten Zinserhöhungen aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen nicht durchgesetzt. Zudem hat die Federal Reserve angekündigt, die Bilanzverkürzung bis September 2019 zu stoppen, um auf diese Weise neue Liquidität in den Markt zu pumpen. In Europa steckt man noch tiefer in der Nullzinsfalle. Mit Christine Lagarde wurde erstmals keine Ökonomin als oberste Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) nominiert, sondern eine Vollblutpolitikerin. Die Verantwortlichen in den Regierungen dürften sie als willfährige Gefährtin auf dem Weg zu mehr und mehr Geldschöpfung portiert haben.
«Wer glaubt, dass sich Bitcoin nicht weiterentwickeln wird, hat etwas Grundsätzliches zum Thema Technologie nicht verstanden.»
Auch die Schweizer Nationalbank (SNB) hat sich in noch unbekannte Fahrwasser begeben, indem sie ihre Bilanz massiv expandierte. Im Zuge dieser Ausweitung hat die SNB auch in Aktien investiert. Ihr US-Aktienportfolio erreichte Ende März 2019 einen neuen Rekordwert von 91,2 Milliarden Franken. Grund für die zahlreichen Fremdwährungseinkäufe, von denen Aktien lediglich 20 Prozent ausmachen, ist der starke Franken. Über letzteren legitimiert die Nationalbank auch die Negativzinsen, die sie seit Ende 2014 für Einlagen von Geschäftsbanken verlangt. Sie sind natürlich nicht zum Vorteil der Sparer, doch was soll die SNB auch tun? Sie geniesst nach wie vor einen guten Ruf und verhält sich vorbildlich, wenn man internationale Vergleiche anstrengt. Dennoch wird sie vom globalen Geldmengenausweitungsdruck mitgeschleift.
Wer macht hier Experimente?
Bitcoin wird gerne als grosses Experiment beschrieben. Das ist nicht falsch, das beteuern auch jene, die den Kerncode seit Jahren weiterentwickeln. Fairerweise sollten allerdings auch die geldpolitischen Interventionen des letzten Jahrzehnts als Experiment benannt werden. Deren mittel- bis langfristige Effektivität wird von Mainstreamökonomen bestritten. Neue, ausgefallenere Experimente stehen deshalb bereits im Raum: Helikoptergeld, Bargeldabschaffung, Vollgeld oder auch die Modern Monetary Theory. Wohin wird diese Entwicklung führen? Nicht wenige, die bisher von der Stabilität unseres Finanzsystems überzeugt waren, schliessen ein böses Erwachen nicht mehr aus.
Zur Erinnerung: Bitcoin wurde 2008 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise geboren, mitten in dieses sich stetig ausweitende Vakuum finanzpolitischer Verunsicherung. Die Kryptowährung ist die Antithese zur bestehenden Finanzordnung und wurde bewusst nicht in die bestehenden Strukturen eingebettet, geschweige denn deren Parametern nachempfunden. Logisch also, dass es gerade dieses vermeintliche Nichts ist, das dem Bitcoin seinen Wert verschafft. Das Nichts bedeutet, dass die Kryptowährung «nichtzentralbankenemittiert» ist. Es steckt eben gerade keine Zentralbank hinter Bitcoin, und das ist der eigentliche Sinn des Projekts. Bitcoin schafft so eine bewusste Alternative zu einem Geldsystem mit Zentralbanken. Es ist ein gewolltes Gegenstück, dessen Symbolkraft nicht zu unterschätzen ist.
Um es noch etwas deutlicher zu formulieren: Bitcoin steht für den Versuch, Geld als eine auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft einwirkende Kraft aus den Händen zentralplanerischer Gottspieler zu entreissen. Geld soll wieder goldähnlich sein: knapp und dezentral, um so den unendlichen Appetit von Politikern, Funktionären und Wirtschaftsgrössen zu bändigen. Dass diese dem Bitcoin-Phänomen entweder mit Häme und Spott oder aber mit
Besorgnis und Furcht begegnen, ist nachvollziehbar.
Parallelen zu den Vorbehalten im 19. Jahrhundert
Der letzte grosse Gesellschaftswandel – der Aufbruch in die Moderne im 19. Jahrhundert – verlief nach dem gleichen Muster. So wurde die Gründerzeit, die schliesslich im Gründerkrach endete, keineswegs nur positiv aufgenommen. Insbesondere die Schweizer Bauern konnten sich nicht mit dieser neuen dynamischen Entwicklung anfreunden. Die Schweizer Landwirtschaft war denn auch seit langem schon kapitalisiert, das Land dank dem Gotthardpass sowie den Bündner Pässen in die kontinentale Geldwirtschaft eingebettet – überhaupt galt die Eidgenossenschaft längst als protoindustrialisiert. Weshalb es der Investmentbanken mit ihren neuen Finanzierungspraktiken bedurfte, schien kaum einzuleuchten. Die Schweizer Bauern des 19. Jahrhunderts reagierten jedenfalls auf die neu aufkommenden «Zettel» mit grosser Skepsis.
«Bitcoin basiert auf der Grundlage von «Vertraue nicht, sondern verifiziere selbst».»
Zwischen der Gründerzeit von damals und der Gründerzeit von heute gibt es somit erstaunliche Parallelen. Jene im 19. Jahrhundert war ebenfalls von Euphorie bis hin zum Exzess geprägt. Genauso wie heute war es eine Zeit, in der Gründer und Unternehmer scheinbar über Nacht reich werden konnten. Und auch die kritischen Reaktionen stimmen überein: Grossgrundbesitzer begehrten auf, dass sie Grundsteuern zu bezahlen hätten, während die Fabrikanten nur lächerlich geringe Abgaben leisten müssten. Heute hört man analog den Vorwurf, Kryptoprojekte würden im rechtsfreien Raum operieren, während traditionelle Firmen allerlei Gesetze und Vorschriften zu befolgen hätten.
Damals wurde das alte Feudalzeitalter mit Grossgrundbesitz aufgebrochen. An seine Stelle trat das Zeitalter der Moderne. Bis heute hat sich diese Epoche mit ihren wichtigsten Institutionen wie Unternehmen und Nationalstaaten gehalten. Gegenwärtig wird immer offensichtlicher, dass wir uns an der Schwelle zu einer neuen Ära, jener des digitalen Zeitalters, befinden, in der Kryptonetzwerke wie Bitcoin eine grosse Rolle einnehmen dürften.
Bitcoin wirkt als Gegenspieler zum bestehenden Finanz- und Gesellschaftssystem auch deshalb so stark, weil er dessen Fiktionen nicht teilt. Aufgrund der öffentlichen, für alle einsehbaren Bitcoin-Blockchain und einer spieltheoretisch ausgeklügelten Anreizstruktur sind ungedeckte Wertansprüche nicht möglich. Bitcoin basiert eben auf der Grundlage von «Vertraue nicht, sondern verifiziere selbst». Fiktionen hin oder her – in Birchlers Augen leidet Bitcoin an einem inhärenten Geburtsfehler. Doch was er für Geburtsfehler hält, dürften natürliche Kinderkrankheiten sein. Und solche enden heute immer seltener tödlich, sondern werden mit fortschreitendem Alter überwunden. Ganz im Gegensatz zu unserer heutigen Geldordnung, die sich gewissermassen mit einem Tumor im Endstadium konfrontiert zu sehen scheint. Oder soll es etwa möglich sein, die expansive Geldpolitik zurückzufahren, ohne dass das eine erneute Finanzkrise zur Folge hat?
Weiterentwicklung von Bitcoin und Lightning
Natürlich bemüht Birchler auch die Kritik des Bitcoin-Stromverbrauchs. Wie er richtig erkannt hat: Bitcoin importiert die Knappheit aus der realen Welt. Verschwenderisch ist der Stromverbrauch jedoch nicht. Er dient dazu, das globale, erlaubnisfreie und zensurresistente Bitcoin-Netzwerk sicher zu machen. Je mehr Energie, also Strom, in das Netzwerk einfliesst, desto höher dessen Sicherheit und Verlässlichkeit. Nur weil der Energieverbrauch im Bitcoin-Mining derzeit ansteigt, gibt es jedoch keinen Grund anzunehmen, dass sich das auf ewig fortsetzen wird. Je weiter die Entwicklung von Bitcoin voranschreitet, desto mehr Wert dürfte eine einzelne Bitcoin-Transaktion fassen. Relativ gesehen dürften so künftig weniger Transaktionen mehr Wert transferieren, was das Netzwerk wiederum energieeffizienter macht.
Wer glaubt, dass sich Bitcoin nicht weiterentwickeln wird, hat etwas Grundsätzliches zum Thema Technologie nicht verstanden. Ganz zu schweigen davon, dass sich auch die Technologie zur Energiegewinnung stetig wandeln dürfte, was das Bitcoin-Mining ebenfalls energieeffizienter machen sollte. In diesem Zusammenhang lieferte der Bitcoin-Enthusiast Andreas Antonopoulos eine pointierte Analogie, indem er einen Arzt sprechen lässt: «Madam, ich bin besorgt über den Fortschritt Ihrer Schwangerschaft. Bei der derzeitigen Wachstumsrate wird Ihr Bauch in nur fünf Jahren so gross sein wie unser Spital.»
«Nur weil der Energieverbrauch im Bitcoin-Mining derzeit ansteigt, gibt es jedoch keinen Grund anzunehmen, dass sich das auf ewig fortsetzen wird.»
Genauso wenig ein Geburtsfehler ist, dass sich Bitcoin heute noch nicht wirklich als Zahlungsmittel für Alltagsgeschäfte eignet. Mit der Basis-Blockchain, die Dezentralität und Sicherheit priorisiert und der Geldfunktion der Wertaufbewahrung zuträglich ist, hat sich Bitcoin der modularen, also schichtweisen Skalierung verschrieben, so wie sich heute das Internet aus mehreren Ebenen zusammensetzt. Daher wird basierend auf der Basis-Blockchain gerade ein Zusatzprotokoll namens Lightning implementiert: Es ermöglicht sogenannte Off-Chain-Zahlungskanäle, über die Bitcoin in Form kryptografisch gesicherter Vollreserve-«Schuldscheine» beliebig oft, sofort und zu geringeren Transaktionsgebühren getauscht werden können. Das Lightning-Netzwerk schafft somit die Grundlage, Bitcoin auch als effizientes Zahlungsmittel zu verwenden.
Zugegeben: Als aufstrebendes Gesamtnetzwerk ähnelt Bitcoin noch allzu sehr einer chaotisch-turbulenten Baustelle. Unfälle sind an der Tagesordnung, optimale Lösungen noch nicht gefunden. Dessen ungeachtet wenden immer mehr Menschen ihre Zeit auf, um das Netzwerk in seiner Gesamtheit voranzutreiben. Die etablierten Strukturen dagegen wirken wie ein in die Jahre gekommenes Palais. Noch ist der Glanz der Fassade nicht verblasst und zeugt von altem Ruhm. Doch ist das Fundament fragiler als gemeinhin gedacht. Misstrauen und Argwohn nehmen stetig zu und nähren eine Alternative, die Geld nicht mehr länger vom Vertrauen in eine Nationalbank und ihr rechtlich-institutionell-politisches Gerüst abhängig macht, sondern von Mathematik und Kryptografie: Bitcoin.