Bildungslücken in der Bildungsdiskussion
Eine Replik auf Mathias Binswangers Essay «Tonnenideologien im Bildungswesen»
Gut, süffig und eingängig kommt daher, was Mathias Binswanger über die Tonnenideologien im Bildungswesen schreibt. «Worauf es ankommt», argumentiert er, «ist nicht die Zahl der Studenten, sondern ob die intellektuell begabten jungen Menschen eine qualitativ gute Ausbildung erhalten können.» Wer möchte dieser Aussage widersprechen?
Nun, da gäbe es einige, meint Binswanger und zeigt mit dem Finger auf das Weissbuch «Zukunft Bildung Schweiz» der Akademien der Wissenschaften, das im Herbst 2009 herauskam und ein kontroverses Echo gefunden hat. Darin werde gefordert, «die Maturitäts- oder Abiturquote von gegenwärtig über 20% auf 70% zu erhöhen». Und insgesamt stehe das Weissbuch der beruflichen Bildung distanziert ablehnend gegenüber.1 Das Problem ist: im Weissbuch steht das so nirgends geschrieben. Als Projektion auf das Jahr 2030 heisst es da vielmehr, dass «das Ziel eines Anteils von 70% eines Jahrgangs mit einem Abschluss an einer höheren Schule in greifbare Nähe gerückt» sei. Und weiter: «Zweidrittel eines Jahrgangs erwerben einen Abschluss auf Tertiärstufe» (S.18). Das ist wohl eine der «Tonnenideologien im Bildungswesen», welche Binswanger beklagt.
Aber was hat es damit wirklich auf sich? Es scheint mir nötig, hier ein paar Dinge klar zu stellen: Erstens, sind Abschlüsse auf der Tertiärstufe nicht gleichzusetzen mit der Maturitätsquote, zweitens die Rede von der Maturitätsquote und deren Entwicklung, drittens das Verhältnis von beruflicher und allgemeiner Bildung in der Schweiz und viertens will ich auf die Klage über eine «Reformitis» in unserem Bildungssystem eingehen.
Abschlüsse auf Tertiärstufe nicht gleich Maturitätsquote
Gemäss den Erfassungskriterien des schweizerischen statistischen Bundesamtes (BFS) zählen zu den Abschlüssen auf der Tertiärstufe Universitätsabschlüsse, Fachhochschulabschlüsse, Fachschulabschlüsse und Abschlüsse der höheren Berufsbildung, zum Beispiel also auch die beruflichen Meisterprüfungen oder ein eidgenössisches Buchhalterdiplom. Der Zugang zu den beiden letzteren erfordert keineswegs eine Matura, schon gar nicht eine allgemeinbildende Matura, sondern einen qualifizierten Berufsabschluss auf Niveau Sekundarstufe II.
Im Jahre 2009 weist das BFS die folgenden Abschlusszahlen (ohne Weiterbildungsabschlüsse) aus: Universitäre Hochschulen 24 651; Fachhochschulen 13 228; Höhere Berufsbildung 22 086. Eine Umrechnung dieser Zahlen auf den Prozentanteil von Alterskohorten ist hier schwierig, weil die Abschlüsse durchwegs altersgemischt sind. Man kann aber sagen, dass die insgesamt 59 965 Diplome, welche 2009 auf der Tertiärstufe erteilt wurden, bei einer durchschnittlichen Jahrgangskohorte der entsprechenden Altersgruppen von etwa 105 000 grob geschätzt einen Anteil von annähernd 60% ausmachen. Wenn das Weissbuch für 2030 einen Anteil von 70% prognostiziert, ist das eine durchaus realistische und erst noch bescheidene Zuwachsrate für die nächsten zwanzig Jahre.
Die Maturaquote nahm zu – aber anders als man denkt
Bei den Maturaquoten müssen wir zwischen den Quoten für die allgemeinbildende Maturität und denen für die Berufsmaturität unterscheiden. Da Binswanger von 20% als gegenwärtigem Stand ausgeht, müssen wir annehmen, dass er mit der vom Weissbuch angeblich angedrohten Steigerung auf 70% die allgemeinbildende Maturität meint. Dass dies im Weissbuch gefordert wird, ist eine groteske Unterstellung. Um zu verstehen, welch Missverständnis dahinter steckt, bedarf es eines Blickes auf die Zahlen der letzten Jahrzehnte. Die Quote für die allgemeinbildende Maturität lag 2009 im gesamtschweizerischen Durchschnitt in der Tat bei 19.4% eines Geburtenjahrgangs. Noch 1980 lag die gleiche Quote bei 10.6%, also fast 10 Prozentpunkte niedriger. Über dreissig Jahre gerechnet hört sich dieser Zuwachs zwar nicht vernachlässigbar niedrig, aber doch auch nicht besonders dramatisch an.
Wenn man dann noch berücksichtigt, dass die Quote bei den Männern 1980 12.1% und 2009 bei 16.1% lag, also lediglich um 4 Prozentpunkte gestiegen ist, relativiert das den Zuwachs nochmal erheblich. Ins Gewicht fällt allerdings der bildungsmässige Aufstieg der Frauen: ihre Quote ist in dreissig Jahren von 9.2% auf 22.9%, also um 13,7%, angewachsen.
Lohnenswert ist auch der Blick in einzelne Kantone: Im Kanton Aargau ist die Maturitätsquote der Männer in den letzten dreissig Jahren überhaupt nicht gestiegen, sondern bei exakt bei 10.7% eines Geburtenjahrgangs stehen geblieben. Bei den Frauen hat sie sich zwischen 1980 und 2009 von 8.3% auf 16.6% verdoppelt. Ähnlich sieht es im Kanton Solothurn aus. Hier haben die Männer einen Zuwachs von 0.2% in dreissig Jahren zu verzeichnen und die Frauen einen solchen von 10.6%.
Entlang ähnlicher Linien hat sich die Berufsmaturität entwickelt: Seit dem Start im Jahr 1998 (6.9%) haben wir innert zehn Jahren eine Steigerung um 5.1% (2009: 12%) erreicht. Auch hier ist wieder ein überproportional hoher Anstieg des Frauenanteils festzustellen. Während der Zuwachs bei den Männern 3.8% betrug, wuchs die Quote bei den Frauen im selben Zeitraum von 4.4% auf 10.8%, also um fast doppelt so stark. Rechnet man gesamtschweizerisch nun beide Maturitäten zusammen, kommt man 2009 auf einen Anteil von rund 31.4%.
Mehr Frauen, mehr Berufsmatura
Dem statistischen Exkurs folgt die Feststellung: Wir haben in den letzten 30 Jahren die Anzahl der Maturanden in der Schweiz insgesamt knapp verdreifacht. Dieser Zuwachs ist klar auf zwei Faktoren zurückzuführen, a) eine starke Erhöhung des Frauenanteils bei der allgemeinen sowohl wie bei der beruflichen Maturität und b) die Einführung der Berufsmaturität für Personen mit abgeschlossener beruflicher Bildung, welche damit eine Zugangsberechtigung für die neu aufgebauten Fachhochschulen erwerben. Berücksichtigt man, dass in den Fachhochschulen eine grosse Zahl früherer Fachschulen aufgegangen ist und man deren Abschlüsse bei einer Berechnung der Zuwächse von den ausgewiesenen Quoten der Fachhochschulabschlüsse abziehen muss, dann relativiert sich der Zuwachs jedoch nochmals deutlich.
Wen diese Steigerung der Maturitätsquoten stört und wer darin gar eine Gefährdung des intellektuellen Niveaus der Hochschulbildungen sieht, der sollte sich mit diesen beiden Ursachen befassen. Er müsste folglich auch erklären, inwiefern die Gleichstellung der Frauen das intellektuelle Niveau der Hochschulausbildungen gefährdet und inwiefern die Gründung der Fachhochschulen einem Anschlag auf das geistige Niveau unserer höheren Bildung gleichkommt. Nebenbei zur Klärung: statt einer Begrenzung der Maritätsquoten, wie sie immer wieder gefordert wird, schlägt das Weissbuch zur Sicherung des Niveaus bei einer erforderlichen weiteren Bildungsexpansion zur Qualitätssicherung der Hochschulstudierenden «die Abschaffung des automatischen Übergangs von der Matura zum Hochschulstudium» (S.18) vor.
Berufsbildung ist ein Erfolg, aber nicht ohne Schwachpunkte
Was nun das Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung angeht, so wird dem Weissbuch auch hierin fälschlicherweise nachgesagt, es argumentiere gegen das duale Berufsbildungssystem der Schweiz. So oft diese Interpretation in den Medien kolportiert wurde, so wenig trifft sie zu. Das Weissbuch schlägt vor, eine gesamtschweizerische Bildungsstrategie zu entwickeln, innerhalb dessen zu prüfen sei, «wie das klassische duale Bildungssystem angesichts der inskünftig geforderten Schlüssel- und Mindestkompetenzen abgeändert werden muss, oder ob es sich gar als Alleinstellungsmerkmal bestätigen kann» (S. 31).
Zum Palmares des dualen Systems gehört die Integration der Jugendlichen in den Arbeitsprozess und die vergleichsweise geringe Jugendarbeitslosigkeit. Darauf weist Binswanger zu Recht hin. Nur, wie so oft, haben es auch die Erfolge heute in sich, dass sie leicht die Schwachpunkte allzu lange verdecken und damit zum Keim des Misserfolges von Morgen werden können. Deshalb ist im Weissbuch auch die Rede davon, dass das duale System an «Grenzen seiner Leistungsfähigkeit» stosse, weil es zurzeit u.a. den «strukturellen Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft … nicht hinreichend» abbilde (S.23). Die Reformbedürftigkeit dieses erfolgreichen Schweizermodells ist mittlerweile unbestritten (vgl. etwa die Studien von avenir suisse «Die Zukunft der Lehre» von Schellenbauer u.a. 2010 und die Analysen des Schweizerischen Technologierates «Woher kommt unser Nachwuchs?» von St. Egger 2011).
«Employability» ist gewiss ein sehr hoch zu veranschlagendes Kriterium guter Bildung, aber es ist auch ebenso klar, dass es nicht das einzige ist. Und ob die jungen Menschen in dem System immer die ihren Begabungen und Interessen entsprechende qualitativ beste Ausbildung erhalten, ist nicht allein daran zu messen. Immerhin 9% der erwerbstätigen Lehrabsolventen «arbeiten ein Jahr nach dem Lehrabschluss in einem erheblich anderen Beruf als dem erlernten», so die Autoren der Längsschnittstudie ‚Transitionen im Jugendalter“ (TREE) (Bergmann u.a. 2011, S. 246). Leider haben wir hier wenig «verlässliche Verlaufsdaten» um sagen zu können, «ob Personen mit einer Berufsbildung bei einer erzwungenen beruflichen Mobilität eher Nachteile erleiden bzw. ob die Berufsbildung die erwünschte Mobilität übermässig behindert». (Bildungsbericht Schweiz 2010, S. 152).
Das hohe Lob der beruflichen Bildung sehr vieler ihrer Verantwortungsträger kontrastiert dabei markant mit deren persönlichen Entscheidungen über die eigene Schullaufbahn und auch jene ihrer Kinder. Soziale Distinktion spielt auch in der Schweiz mit ihrer überdurchschnittlich hohen Bildungsvererbung (vgl. auch hierzu die erwähnte Längschnittstudie TREE S. 40-65) noch eine grosse Rolle. Problematisch erscheint mir hierbei eine in der Schweiz ausgeprägte ideologische Frontstellung und strikte organisatorische Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung. Dabei sind es gerade diese Grenzziehungen, die durch die Transformationen der Arbeitswelt in der technologisch hochaufgerüsteten Wissensgesellschaft obsolet, ja hinderlich werden. Es ist deshalb sehr zu begrüssen, dass Parlament und Bundesrat mit ein gemeinsames Amtes für Bildung, Forschung und Innovation geschaffen haben, das eine auch vom Weissbuch erwünschte Grundlage engerer bildungspolitischer Abstimmung zwischen beruflicher und allgemeiner und wissenschaftlicher Bildung bietet, hoffentlich auch für eine Flexibilisierung des Zugangs zu den verschiedenen Bildungspfaden und einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen formeller (schulisch zertifizierte) und informeller (on the job) erworbener Kompetenzen (Vgl. Weissbuch S. 32ff).
«Reformitis»: Bitte differenzieren
Binswanger beklagt in seinem Essay ganz generell eine wuchernde «Reformitis» in unseren Bildungssystemen. Hier gilt es zwischen zwei Typen von «Reformen» zu unterscheiden. Den ersten Typ von Reformen möchte ich die pädagogisch didaktischen nennen, den zweiten Typ die strukturellen und gouvernementalen Reformen. Was zu Klagen in breiten Kreisen vor allem Anlass gibt sind die letzteren. Bei diesen Reformen handelt es sich um einen veritablen Umbau der Steuerungs- und Kontrollsysteme im Bildungswesen. Das betrifft die Einführung von Bildungsstandards, Evaluations- und Qualitätssicherungssystemen, internationalen, nationalen und regional vergleichenden Schulleistungstests, Bildungsmonitorings, geleiteten Schulen und dergleichen mehr. Der damit verbundene Aufwand an «Bürokratie» steht vielfach in keinem noch vertretbaren Verhältnis zum Gewinn an intendierter Auftragsklarheit, Leistungstransparenz und –gerechtigkeit und Verantwortlichkeit für die Ergebnisse. Zu dem unterlegten Marktmodell einer Output-Steuerung hat Binswanger mit seinem Buch «Sinnlose Wettbewerbe» (2010) dankenswerterweise einen wichtigen Diskussionsbeitrag geleistet.
Neben diesem Steuerungsumbau gibt es an unseren Schulen eine Vielzahl pädagogisch didaktischer Reformen, die in ihrer grossen Mehrheit ernsthafte, ja besorgte Antworten sind auf einen kaum zu überschätzenden Wandel in den Aufwachsbedingungen unserer Kinder und Jugendlichen und deren immer heterogeneren und disparateren primären Sozialisationsgeschichten. Die Dokumentationen und Publikation von Best-practice-Beispielen durch das forumbildung oder der Deutsche Schulpreis sind Belege für die andere pädagogische didaktische Reformarbeit (vgl. http://www.forumbildung.ch).
Ich wünschte mir, dass der öffentliche Diskurs über Bildung mit der gleichen intellektueller Verve und differenzierenden Art geführt würde, die wir von einem zukunftsträchtigen Bildungssystem erwarten.
1 Mathias Binswanger hat das schon in der Weltwoche Nr. 41 vom 08.10.2009 auf Seite 41 geschrieben und mit dieser Falschmeldung in den Tenor vieler Medien eingestimmt.