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Bildung muss sich messen lassen
Arno Grüter, zvg.

Bildung muss sich messen lassen

Im Schulsystem braucht es eine neue Bereitschaft, die ­Ergebnisse zu ermitteln, und eine stärkere Ausrichtung am Arbeitsmarkt.

 

Man kann es das grosse Mysterium oder aber auch die «heisse Kartoffel» der Bildungspolitik nennen: die Messung des ­Erfolges. In den liberalen Staaten ist weitherum akzeptiert, dass Bildung der Schlüssel zu einem eigenverantwortlichen Leben ist. Als kleines, offenes Land ohne natürliche Ressourcen hat die Schweiz früh erkannt, dass sich die Investition des Staates in die Bildung seiner zukünftigen Stimmbürger und Steuerzahler auszahlt. Über den Imperativ sind wir uns alle einig: Der «Return on Investment» der kommunalen, kantonalen und nationalen Bildungsinstitutionen muss positiv sein. So zumindest die Annahme.

2018 haben Bund, Kantone und Gemeinden 38,9 Milliarden Franken für Bildungszwecke ausgegeben. Dieser Betrag entspricht grob gesagt 20 Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben und etwa 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Bei einem so statt­lichen Anteil am Haushaltsbudget ist es staatspolitisch legitim, zu fragen, was dabei für den Staat und die Gesellschaft herausspringt. Ist unser Bildungssystem erfolgreich? Sind wir also auf dem richtigen Weg oder muss es Änderungen geben?

Gefährliche Selbstzufriedenheit

Die Schweiz lebte in den letzten 150 Jahren ein erfolgreiches ­Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, was ihr einen hohen Wohlstand beschert hat. Sie ist umgeben von mehr oder weniger erfolgreichen Ländern, was in den letzten zwanzig Jahren durch einen kompetitiven Druckabfall zu einer beunruhigenden Selbstzufriedenheit geführt hat. Diese auf die direkten Nachbarn beschränkte Sicht und die ungerechtfertigte Selbstzufriedenheit sind jedoch zunehmend gefährlich. Denn als kleines, reiches Land ist die Schweiz den Kräften der Globalisierung, der daraus folgenden Intensivierung des Wettbewerbs und der Digitalisierung unmittelbar ausgesetzt. Neben Faktoren wie der politischen Stabilität und der Verzahnung mit dem Ausland ist ein erfolgreiches Bildungswesen wohl der wichtigste Schlüssel für den Fortbestand unseres Wohlstandes.

Was aber soll das Ziel eines erfolgreichen Bildungssystems sein? Ich halte es in der Bildungspolitik mit alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann, der 2016 an die UNO-Vollversammlung ­gerichtet folgendes Ziel definierte: «Jobs, Jobs, Jobs.» Das Ansinnen unseres Bildungssystems muss es sein – neben dem unbestrittenen Ideal, mündige Bürger auszubilden –, gute Arbeitskräfte hervorzubringen. Arbeit und das Eingebundensein in die Gesellschaft sind die Grundlage für das persönliche Wohlbefinden eines jeden einzelnen. Arbeitsplätze führen zu Wertschöpfung und so zur Finanzierung des Gemeinwesens. Die Orientierung der Bildung an Arbeitsmarkt und Nachfrage ist also zentral. Der Arbeitsmarkt wiederum wird durch übergelagerte Entwicklungen beeinflusst, welche durch verantwortungsvolle Entscheidungsträger in Wirtschaft, Politik und Bildung analysiert und antizipiert werden, um zukunftsorientierte Arbeitsplätze und Bildung sicherstellen zu können.

Kann unser Bildungssystem noch erfolgreicher werden? ­Natürlich. Soll die relative Position verteidigt werden, muss es das. Wer sich damit befasst, für den wird schnell klar, dass es ein hochkomplexes, multidimensionales und multivariates soziales System ist. Kausalitäten sind fast unmöglich zu messen, Inputs und Outputs sehr heterogen. Die Inputs – also die Lehrtätigkeit der Lehrerinnen und Lehrer, die Lehrmittel, die Lehrformen, der Unterricht – sind sehr schwer zu erfassen, da sie sehr individuell und kaum standardisiert sind. Demgegenüber stehen beim Output tausende individuelle Bildungsempfänger mit all ihren physischen, sozioökonomischen und geistigen Eigenheiten. In einem solchen System nach dem Prinzip Ursache–Wirkung zu agieren, ist herausfordernd. Nichtsdestotrotz: Es lassen sich Muster erkennen und Korrelationen berechnen. Wenn das Resultat des ­Bildungssystems beeinflusst werden soll, muss hier angesetzt werden. Es gibt zahlreiche Ansatzpunkte, das System weiter zu verbessern. Ich beschränke mich auf die aus meiner Sicht drei wichtigsten.

  1. Klare Ziele setzen

Unser Bildungssystem braucht klare, messbare Zielsetzungen und eine noch stärkere Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt und das ­Leben nach der Schule. Ein Schlüsselfaktor ist dabei – wohl oder übel – die Leistungsorientierung. Der Lehrplan 21 und neuere Lehrmethoden wie beispielsweise das «Schreiben nach Gehör» verfolgen in einem zusehends kompetitiven Umfeld betont humanistische Ideale. Im Lehrplan 21 und den kantonalen Beurteilungsmitteln finden sich unzählige Elemente, bei denen es um die Formung und leider auch Normung des Menschen geht. Diversität ist zwar in aller Munde, aber sie wird zu wenig zugelassen. Denn Diversität bedeutet auch, dass es bereits in der Primarschule Querdenker und unbequeme Zeitgenossen gibt.

Neben der Leistungsorientierung müssen sich Schule und Wirtschaft fragen: Was sind die Fähigkeiten der Zukunft? Heute wird diese Frage zu stark den Pädagogen und Hochschulen, also dem Bildungssystem selber, überlassen. Die an die Schulzeit anschliessenden Institutionen müssen prominenter artikulieren, was ihre Anforderungen sind. Dafür muss der Diskurs zwischen der Bildung und der Wirtschaft verstetigt werden. Die Lösung liegt in weniger, dafür klareren Zielen. Der Lehrplan 21 umfasst 470 Seiten, 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen. Die Schlüsselkompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen, Englisch) und Problemlösungsmethodik stellen auch in Zukunft die Basis guter Bildung dar. Darüber hinaus soll nach dem Motto «Stärken ­fördern» vermehrt auf die individuellen Neigungen der Schüler eingegangen werden.

  1. Messbare Daten aufbereiten

Eigentlich ist es trivial: Die Zielerreichung muss überprüft werden können. Als Antwort auf ein Postulat von Nationalrat Thomas de Courten (SVP) hat die in diesem Fachbereich führende Forschungsstelle für Bildungsökonomie der Universität Bern den ­Expertenbericht «Effizienz im Schweizer Bildungssystem» verfasst. Dort heisst es, dass über die Effizienz des Schweizer Bildungswesens aufgrund von «häufig fehlenden Daten oder der ­ungenügenden Datenqualität» kein abschliessendes Urteil gebildet werden könne.1 Das ist erstaunlich und ernüchternd. Wie die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung in ­ihrem sehr lesenswerten Bildungsbericht 20182  immer wieder zu verstehen gibt, ist es zwar grundsätzlich möglich, den Input (zum Beispiel die Löhne) und den quantitativen Output (die Anzahl der Absolventen) des Bildungswesens zu messen. Diese Fakten per se müssen aber mit einer Vielzahl an Kontextdaten interpretiert werden, um qualitative Aussage­kraft zu erlangen. Hier liegt die Krux.

«Im Lehrplan 21 und den kantonalen Beurteilungsmitteln finden sich ­

unzählige Elemente, bei denen es um die Formung und

leider auch Normung des Menschen geht.»

Bei der Lektüre der verschiedenen Publikationen, die versuchen, die Bildung auch nur annähernd zu «vermessen», kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine schulterzuckende Relativierung den kommunikativen Teppich der Diskussion legt. Die Schweizer Bildungspolitiker sollte es nicht kalt lassen, wenn in der kleinen Schweiz die PISA-Studien der OECD zur bildungspolitischen Standortbestimmung herhalten müssen. 2016 und 2017 wurde durch die Konferenz der Erziehungsdirektoren zwar die schweizweite Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK) durchgeführt. Die Hoffnung war gross, dass die Schweiz endlich ihre eigene PISA-Studie haben würde. Es blieb über weite Strecken aber bei der Hoffnung. Der Datenschutz, Uneinigkeit über die konkreten Kompetenzen und wenig schmeichelnde Resultate haben dazu geführt, dass der Bericht bis fast zur Unbrauchbarkeit destilliert wurde und die Aussagekraft auch dieser Studie stark relativiert wurde.

  1. Fähigkeiten statt Wissen erarbeiten

Eines der aktuellen Modewörter der Ökonomie ist «die Wissensgesellschaft». Doch Wissen per se, davon bin ich überzeugt, bringt noch keinen Vorteil. Nur dessen Anwendung zur Lösung von ­Problemen bringt uns weiter. Bildung muss sich stärker an Fähig­keiten denn am vermittelten Wissen orientieren. Die Welt ist so komplex geworden, dass man etwas können kann und muss, aber nicht unbedingt mehr alles wissen kann und muss.

Die Zahl der Studierenden an Hochschulen hat sich seit 2000 mehr als verdoppelt. Die Zahl der Berufsmaturitäten und Fachhochschulstudenten hat sich in diesem Zeitraum mehr als verdreifacht. Lediglich 5 Prozent zugenommen jedoch hat die Zahl der Jugendlichen, die eine «berufliche Grundausbildung» absolvieren. Ein Lehrstellenüberhang ist die Folge. Betroffen davon sind insbesondere Branchen wie die Bau-, Land- und Forstwirtschaft, «sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen» und das «verarbeitende Gewerbe».3

Die zunehmende Akademisierung ist aufgrund der Daten nicht von der Hand zu weisen. Verfechtern der Berufslehre stellt sich die Frage: Warum besteht diese Tendenz zur Akademi­sierung? Aus der Wirtschaft ist immer wieder zu hören, dass die Anforderungen beispielsweise auch an klassisch handwerkliche Berufe zugenommen hätten. Fähigkeiten in Informatik oder Englisch werden heutzutage vorausgesetzt. Grundsätzlich fehlt es wohl aber auch an Wissen über die hohe Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems. Viele Eltern glauben, dass sich Kinder mit der Entscheidung für eine berufliche Grundausbildung den Weg für späteren Erfolg verbauen. In Anbetracht der vielen Bildungswege ist dies aber ein Trugschluss. Auch sind die vielen Erfolgsgeschichten von Berufsleuten zu wenig bekannt. In den Medien verkaufen sich Artikel über Absolventen bekannter ­Hochschulen, die gerade ein cooles Start-up gegründet und noch ­keinen Franken verdient haben, besser als Erfahrungs- und ­Erfolgsberichte von Tausenden von Gewerblern, die mit ihrer unprätentiösen, soliden Arbeit unsere Gesellschaft am Laufen halten und dabei ein gutes Auskommen finden.

Überhöhtes Vertrauen in den Erfolg des akademischen Weges

Der Bildungsbericht 2018 liefert einen interessanten Erkenntnisansatz, weshalb der akademische Weg insbesondere bei Personen mit einem tertiären Abschluss und Lehrpersonen (!) nach wie vor einen höheren Status zu geniessen scheint. Die Autoren des ­Berichts vermuten den Grund in überhöhten Erfolgsaussichten des akademischen Weges. In einem Experiment konnte gezeigt werden, dass die Erwähnung des grossen Anteils der Personen, die mit einem allgemeinbildenden Abschluss (Gymnasium oder Universität) keine höhere Managementfunktion bekleiden – 88 Prozent –, die Zahl der Personen um ein Drittel reduzierte, welche der Meinung waren, dass die Berufsbildung einen tieferen sozialen Status habe.4

In einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» nannte der 2020 verstorbene Kinderarzt Remo Largo einen möglichen Grund, weshalb Eltern Druck auf ihre Kinder ausüben, einen ­akademischen Weg zu beschreiten. Er sieht «eine existenzielle Verunsicherung» und Angst, dass die Schweiz einen Wohlstandsplafond erreicht hat und dieser nur noch unter hohem schulischem Einsatz gehalten werden kann. Largo sagte: «Diese Angst übertragen Eltern auf ihre Kinder, und das spiegelt sich auch im Bildungswesen. Den Wahnsinn des Lehrplans 21 kann man nur so verstehen. Da sind Hunderte von Kompetenzen aufgelistet, die Kinder erwerben müssen, um bestehen zu können. Es ist schlicht verantwortungslos.»5

Der zunehmenden Akademisierung zum Trotz ist das BIP pro Kopf in der Schweiz in den letzten 15 Jahren bei rund 75 000 US-Dollar verharrt, währenddessen es in vergleichbaren Ländern leicht angestiegen ist. Der internationale Vergleich zeigt auch, dass höhere Maturitätsquoten im Schnitt nicht mit einem höheren Leistungsniveau oder Wohlstand einhergehen.6 Die Schweiz kann und soll also den erfolgreichen Weg des dualen Bildungs­systems mit Berufslehre und Gymnasium weitergehen. Die Wahl zwischen den beiden Wegen kann von Schülern und insbesondere Eltern ohne allzu grosse Sorgen um das materielle Wohlergehen gefällt werden.

Eine wichtige Frage sei schliesslich noch geklärt: Braucht unser Bildungssystem mehr Mittel, um erfolgreicher zu werden? Nein, aber es kann noch effizienter werden. Die OECD erhebt im Rahmen der PISA-Studien auch die kaufkraftbereinigten Aus­gaben ihrer Mitgliedsländer für die Ausbildung der Schüler ­zwischen dem 6. und 15. Lebensjahr. Ihr Befund: Ab 50 000 US-Dollar pro Kind nehmen die Leistungen in Naturwissenschaft nicht mehr merklich zu. Die Schweiz gibt in 9 Schuljahren pro Kind rund 160 000 US-Dollar aus.7 Gute Bildung muss also nicht per se teuer sein. Aber ungenügende Bildung kann natürlich für eine Gesellschaft sehr schnell sehr teuer werden.

Lernziele für Bildungspolitiker

Um im bildungspolitischen Jargon zu sprechen, sollten sich Schweizer Bildungspolitiker folgende «Lernziele» setzen. Erstens darf sich die Schweiz in Sachen Bildung nicht auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruhen. Auch in der Schweiz braucht es, was der renommierte Bildungswissenschafter und Mitinitiant der PISA-Studien, Andreas Schleicher, eine «neue Einstellung gegenüber Daten und Fakten» nennt. In einer zunehmend globalisierten und digitalisierten Welt im Wandel muss es möglich sein, dass die Schweiz nicht nur den Input und den Output, sondern auch die Wirkung des Bildungssystems kennt. Mit besser abgestimmten, systematischen Erhebungen muss ein bildungspolitisches Cockpit aufgebaut werden.

Das Benchmarking über die Landesgrenzen hinweg, die PISA-Studien, zeigen zweitens klar auf, dass Bildung eine politische Priorität sein muss und dass «ehrgeizige Ziele mit klaren Vor­stellungen, zu was die Schülerinnen und Schüler in der Lage sein sollten»8, gesetzt werden müssen.

Schliesslich muss das Erfolgsmodell des dualen Bildungssystems mit Erfolgsgeschichten und Aufklärung beworben werden. Es braucht einen neuen Schulterschluss zwischen Schule, Wirtschaft und Politik, um die Berufsbildung zu stärken. Die drei staatstragenden Systeme müssen einen Schritt aufeinander zu­gehen und in einer bildungspolitischen Übereinkunft die Idee der Schweiz als «Fähigkeitsgesellschaft» lancieren.

  1. Stefan C. Wolter, Samuel Lüthi, Maria Zumbühl: Effizienz im Schweizer ­Bildungssystem – Expertenbericht, Forschungsstelle für Bildungsökonomie, Uni Bern, 2020, S. 3.

  2. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung SKBF, Bildungs­bericht Schweiz 2018, Aarau.

  3. gfs.bern, Nahtstellenbarometer, August 2020.

  4. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, Bildungsbericht Schweiz 2018, S. 137.

  5. Urs Bühler: «Wir müssen das Konzept ‹Hotel Mama› dringend überdenken» ­(Interview mit Remo Largo). In: Neue Zürcher Zeitung, 7.10.2019.

  6. Bildungsbericht 2018, S. 143, und Our World in Data, basierend auf Daten der Weltbank.

  7. Andreas Schleicher: Weltklasse – Schule für das 21. Jahrhundert gestalten, OECD, 2019, S. 55.

  8. Ebenda, S. 72.

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