Biedermann und die Euro-Brandstifter
Max Frisch reloaded: literarisch-politische Betrachtungen zum europäischen Haus
I.
Als ich «Biedermann und die Brandstifter» kürzlich wieder las, fiel mir auf: Max Frisch hat vor 55 Jahren einen Schlüsseltext verfasst, der uns heute helfen kann, die tragische Logik der Europäischen Union (EU) zu verstehen. Nicht jener Union wohlgemerkt, die von ihren Gründervätern einst erträumt wurde, sondern jener Union, die heute daraus geworden ist, die also real existiert.
Jene Logik ist deswegen tragisch, weil sie dem antiintellektuellen Gebot der Alternativlosigkeit zu gehorchen scheint, das heute den Ton in der Politik allzu sehr bestimmt. Diese Art von «Alternativlosigkeit» heisst: Es kann nur immer vorwärts in eine Richtung gehen – in die der Vergemeinschaftung.
Max Frisch veröffentlichte das Theaterstück im Jahre 1958 – nach rund zehnjährigen Vorarbeiten in Gestalt von Prosaskizzen und Hörspiel. Noch im selben Jahr wurde das Stück erstmals in Zürich und dann in Frankfurt am Main aufgeführt.
Gottlieb Biedermann tritt auf, der wohlhabende Haarwasserproduzent, zusammen mit seiner gesundheitlich schwächelnden Ehefrau Babette, die mit ihrem Hausmädchen Anna eine respektable Stadtvilla bewohnen. Am Ende werden alle in genau dieser Villa verbrennen. Das Haus und das ganze Stadtviertel werden von dem arbeitslosen Ringer Josef Schmitz und seinem Freund Willi Eisenring angezündet worden sein. Ein Polizist wird das Inferno ebenso wenig verhindern können wie ein merkwürdiger dritter, namenlos bleibender Brandstifter mit dem Titel «Dr. phil.», der sich kurz vor der Tatvollendung noch von alledem distanziert.
Im Mittelpunkt des Stücks steht die zentrale Frage: «Wie nur konnte es so weit kommen?» Wie konnte es den Brandstiftern gelingen, sich als wildfremde Hausierer Zutritt und Aufenthalt in der Villa zu verschaffen, den ganzen Dachstuhl des Hauses vor den Augen des Hausherrn mit Benzinfässern zu füllen und ihr zerstörerisches Werk in Seelenruhe zu vollenden? Wie kann all dies geschehen, obwohl doch Gottlieb Biedermann schon vor seinem ersten Kontakt zu den Tätern aus eigener Zeitungslektüre Kenntnis von dieser Art des Verbrechens hat und obwohl er schon in der Öffentlichkeit lautstark gefordert hatte, man solle derlei Täter rigoros «aufhängen»?
II.
Max Frisch entwickelt die einerseits grenzenlose Wehrlosigkeit der Opfer und die andererseits unerbittliche Entschlossenheit der Täter in zermürbender Folgerichtigkeit. Er lässt uns ertragen, wie Biedermann und seine Frau ohne wahre Not jede der beinahe zahllosen Chancen verspielen, das Unheil noch abzuwenden, und wie – umgekehrt – rücksichtslos die Täter ihren Plan maschinenhaft umsetzen. Teilt man den Ablauf, lassen sich diese acht Entwicklungsschritte erkennen:
1. Unaufgefordertes Eindringen
Zu Beginn begehrt Josef Schmitz an der Tür beim Hausmädchen Eintritt in die Villa. Biedermann aber lässt ihm den Zutritt verbieten, gerade weil er – gewarnt durch die Zeitung – keinen Besuch von Hausierern wünscht. Dennoch tritt Schmitz ein, am Hausmädchen vorbei. Die erste Grenzüberschreitung ist vollbracht. Gegen den erklärten Willen von Biedermann steht Schmitz im Haus. Der übliche Abwehrmechanismus gegen unliebsamen Besuch hat versagt. Der Täter hat seinen Willen durchgesetzt.
2. Konsequente Anspruchshaltung im fremden Haus
Unter Hinweis auf sein Schicksal als obdachloser Arbeitsloser fordert Schmitz zunächst nur ganz höflich einfach «Menschlichkeit» von Biedermann, «wenn ich nicht störe». Als der, statt ihn gleich wieder des Hauses zu verweisen, ihm nachgiebig entgegenkommend Brot und Wein bringen lässt, setzt Schmitz sofort nach: Jetzt will er auch noch Butter, Käse, kaltes Fleisch, ein paar Gurken, eine Tomate, etwas Senf. Das besitzergreifende Anspruchstellen im fremden Haus hat begonnen.
3. Intensivierung der Übergriffigkeiten
Schmitz lobt Biedermann für sein Gewissen, stellt aber gleich unmissverständlich klar, dass sein vorheriger Arbeitgeber bei einer Feuersbrunst zu Tode kam. Nachdem die körperlichen Kräfteverhältnisse geklärt sind, erinnert Schmitz die Gastgeberin an den vergessenen Senf und moniert die Temperatur des Weines. Dann kommt er sofort zum nächsten Begehren: «Wenn Sie ein Unmensch wären, dann würden Sie mir heute Nacht kein Obdach geben. Und wenn’s auch nur auf dem Dachstuhl ist.» Biedermann, unfähig zur Grenzziehung gegen den Unverschämten, weiss jetzt von der Gefahr, in der er steht, flüchtet sich aber in die naive Frage: «Sie versprechen es mir aber: Sie sind wirklich kein Brandstifter?» Eine Antwort hierauf erhält er nicht – es braucht sie auch nicht mehr. Zu tief sitzt die Zecke schon im Fleisch.
4. Ausweitung der eigenen Handlungsspielräume
Während Biedermann sich und seine Frau über die entstandene Lage unter Berufung auf normale Verhältnisse zu beschwichtigen versucht («Man muss auch ein bisschen Vertrauen haben…»), weiten die Täter ihre bereits gewonnenen Handlungsspielräume konsequent aus: Schmitz steigert den nächtlichen Komfort auf dem Dachboden durch ungefragte Nutzung des hauseigenen Schaffells, bestellt zum Frühstück bei Babette zwei Dreieinhalbminuteneier und erwirkt anschliessend für seinen Freund Willi als weiteren Gast den Zutritt zum Haus mit dem bizarren Versprechen: «Der hat Kultur, Madame.»
5. Fakten schaffen
Die Phase der vorgeschützten Höflichkeit findet nun ein jähes Ende. Jetzt werden von den Tätern eigenständig Fakten geschaffen. Sie rollen Unmengen von Benzinfässern auf «ihren» Dachboden. Biedermann entdeckt die Fässer und den zweiten Gast. Überrannt von den Ereignissen, flüchtet er sich in eine Haltung des Nichtwahrhabenwollens: Benzin sei in den Fässern? «Machen Sie keine Witze!» Als ihm das insoweit noch wohlmeinende Schicksal sogar körperliche Schützenhilfe in Gestalt eines Polizisten in sein Haus sendet, verharrt er wieder in Untätigkeit. Auf die Frage des Polizisten nach dem Fassinhalt antwortet er feige mit: «Haarwasser.» Er weiss: Zu sehr ist er durch sein Zögern schon in die geschaffene Lage verstrickt. Es gibt kein Entrinnen mehr. Schliesslich könnten die Täter ihre Fässer sofort anzünden. Und würde ihm der Polizist seine fehlende Mitwirkung an allem überhaupt noch glauben – bei allem, was an fatalen Fakten schon geschaffen ist?
6. Das Nichtglaubenwollen auf Opferseite
In seiner wachsenden Verzweiflung über die Lage intensiviert sich das Nichtwahrhaben- und Nichtglaubenwollen. Statt nur zarter Indizien präsentieren sich ihm jetzt im Wortsinne handfeste Anhaltspunkte für das Verbrechen. Biedermann aber beruhigt sein Gewissen mit dem Recht, denken bzw. nicht denken zu dürfen, was er wolle; die Gesundheit seiner Frau nicht gefährden zu wollen; einen Benzingeruch im Hause eigentlich gar nicht zu bemerken… Derselbe Biedermann also, der in einer Nebenhandlung des Stücks hart genug ist, mit einem widerborstigen Angestellten einen Gerichtsprozess zu führen, derselbe Mann weiss sich in physischer Gegenwart zweier Verbrecher nicht mehr zu wehren.
7. Versuch, Freund der Eindringlinge zu werden
Dann plötzlich erhofft sich Biedermann Rettung durch Freundschaft mit den Brandstiftern. Er lädt sie zum Gänseessen ein und fordert sie auf, sich gerne auch in seinem Badezimmer zu waschen, da auf dem Dachboden nicht einmal eine Toilette vorhanden sei. Die Antwort von Eisenring fällt eiskalt aus: «Im Gefängnis gab’s auch kein Badezimmer.» Und nachdem die Lage nun deutlich ist, wie sie deutlicher gar nicht mehr werden kann, lässt Max Frisch jenen Eisenring die legendären Worte sagen: «Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste: Sentimentalität. Aber die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand.»
8. Assimilationsversuche
Nachdem auch das Freundwerdenwollen die Gefahr nicht hat bannen können, flüchtet sich Biedermann noch weiter vorwärts in eine Art Assimilation mit den Tätern. Um «Klassenunterschiede» zu beseitigen, weist er sein Hausmädchen an, Tafelsilber und Tischdecke für das anstehende Gänseessen zu entfernen: «Es gibt ganze Völkerstämme, die ohne Servietten leben.» Doch auch diese Art der Verbrüderung führt nicht zu einer Entspannung der Lage. Im Gegenteil. Schmitz und Eisenring sind inzwischen längst die wahren Herren im Haus. Der arbeitslose Kellner Eisenring fordert: «Gans und Pommard – dazu gehörte eigentlich bloss noch ein Tischtuch.» Biedermann lässt Anna sofort allen Tischschmuck wieder herbeibringen, einschliesslich des silbernen Kandelabers, dessen Kerzen er auf Geheiss von Eisenring gleich mittels Streichholzes anzündet. Während schon Sirenen auf den Strassen zu hören sind, bettelt Biedermann beide an: «Scherzen wir nicht länger über Brandstifterei.» Doch Schmitz entgegnet: «Wir scherzen ja nicht!» Als Zeichen seines Vertrauens fordern sie Biedermann zur Herausgabe seiner Streichhölzer, und der beruhigt seine Babette: «Wenn die wirklich Brandstifter wären, du meinst, die hätten keine Streichhölzer?» Im Gefühl der eigenen Unschuld verbrennen Anna und Gottlieb Biedermann mit ihrer Villa.
III.
Max Frisch hat auf die Frage, welche politischen Brandstifter er denn historisch konkret habe beschreiben wollen, geantwortet, er verstehe die Tat selbst apolitisch. Ihm sei daran gelegen gewesen, die dämonische Beziehung zwischen Biedermann und den Brandstiftern als solche zu beschreiben. Tatsächlich deutet auch der Untertitel des Stücks – «Ein Lehrstück ohne Lehre» – darauf hin, dass hier eine allzu menschliche Schwäche thematisiert ist: die Unfähigkeit des gewöhnlichen Menschen mit allen Stärken und Schwächen, einer konsequent handelnden, destruktiven Unverfrorenheit schrankensetzend entgegenzutreten. Und genau hier scheint mir der ureigentliche politische Kern des Stücks zu liegen – es geht um den Mangel an Mut. Es ist das Fehlen von Zivilcourage aus Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit, das den tatfreudig Ruchlosen immer wieder die Tür zum Unfassbaren öffnet.
Müssen wir Europäer uns demnach auch heute wieder mit dieser spezifischen Art menschlicher Schwäche befassen, mit einem solchen Wachsamkeitsmangel und einem falsch verstandenen Appeasement? Konkret: birgt die gegenwärtige Politik der EU das Potential zu einer solchen Brandstiftung? Finden sich die genannten acht Entwicklungsschritte im Werden der EU?
1. Ein unaufgefordertes Eindringen der EU in die souveränen Staaten liegt in dem Umstand, dass die Völker bis heute nie aufgefordert wurden, selbst über das Projekt einer europäischen Verfassung unmittelbar demokratisch abzustimmen. Mehr noch: wo derartige Abstimmungen abgehalten wurden, im Mai 2005 in Frankreich und im Juni 2005 in den Niederlanden, lehnten die Bürger eine EU-Verfassung bekanntlich ab, ohne dass dies irgendwelche substantiellen Konsequenzen gehabt hätte. Ersatzweise schlossen die Regierungen der EU dann im Juni 2007 den Vertrag von Lissabon. Die ursprünglich ablehnenden Bürger in Irland wurden – milde gesprochen – mit einem zweiten Wahlgang zur Zustimmung gebracht. Der Integrationsprozess wurde fortgesetzt.
2. Auch für eine konsequente Anspruchshaltung der EU im fremden Haus der souveränen Staaten steht beispielhaft die beständige Ausdünnung des Grundprinzips der Subsidiarität. Während der Vertrag von Maastricht 1992 die Befugnisse der EU noch auf jene Gebiete beschränkte, die von Mitgliedsstaaten nicht ausreichend selbst bewältigt werden konnten, bringt die gelebte Rechtswirklichkeit immer grössere Kompetenzzuwächse für den Brüsseler Zentralstaat. Mehr noch: die Zuständigkeitsdefinition ist zur Aufgabe ausgerechnet des eigenen Gerichtshofes der EU gemacht worden, von dem – als einem Organ der EU – realistisch kaum Kompetenzeinschränkungen zu Lasten der eigenen Zentrale zu erwarten sind.
3. Die sich verschärfenden Übergriffe der EU auf die souveränen Staaten zeigen sich besonders auf dem Gebiet der Währungsfragen. Die für alle finanzpolitischen Laien vordergründig harmlose – weil scheinbar nur handelserleichternde – Währungsunion war im bürokratischen Hintergrund seit den frühen 1990er Jahren ein konsequentes Mittel zur Machtverschiebung auf eine europäische Zentralregierung. Geldpolitische Zuständigkeiten wurden Stück für Stück von den einzelnen Staaten auf die europäische Ebene verlagert. Aus einem vermeintlich immer freieren gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum wurde ein zentraler Währungs- und damit ein vereinheitlichter Regierungsraum.
4. Eine konsequente Ausweitung der eigenen Handlungsspielräume fand im Jahr 2010 im Euroraum statt, als die europapolitischen Akteure sich auf einen Verstoss gegen die No-Bail-out-Klausel aus Art. 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union einigten. In den unverfroren offenen Worten der ehemaligen französischen Finanzministerin und heutigen IWF-Chefin Christine Lagarde wurde der Maastrichter Vertrag von den Verantwortlichen «bewusst gebrochen, um Europa zu retten». Merke: Die beste Vorgehensweise ist immer noch die Verkündung der nackten Wahrheit.
5. Mit derartigen Aktionen werden von europäischen Politikern naturgemäss auch unumkehrbare Fakten geschaffen. Immer neue Behörden erhalten immer neue Befugnisse und Eingriffsrechte in nationale Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen; immer weitere Mittel werden ihnen zugewiesen; zum äusseren Zeichen des Machtzuwachses prangt über allen öffentlichen Gebäuden und auf bald allen behördlichen Schriftstücken der blau-gelbe Sternenkranz. Mit jeder Neuschöpfung von Geld, die nun mit der Währungsverantwortung in der zentralen Regie der europäischen Machthaber liegt, wird in Zeiten der «lockeren Geldpolitik» ein Mehr an Zahlungsmitteln geschaffen. Mit dieser Geldvermehrung kann das realwirtschaftliche Wachstum nicht Schritt halten, aber die Zuweisung des Geldes an politisch gewollte Empfänger steuert auch wesentlich das gesamte Gemeinwesen in zentralisierte Richtungen. Ist das Abschöpfen der realwirtschaftlich nicht verkrafteten Liquidität dann schliesslich geldpolitisch unmöglich, setzt unausweichlich Inflation ein. Dieser Geist kommt nimmermehr zurück in die Flasche.
6. Dass die für ihre einzelnen Staaten Verantwortlichen die Konsequenzen dieser Politik nicht wahrhaben wollen, selbst wenn die Fakten von verschiedensten kompetenten Seiten auf den Tisch gelegt werden, fügt sich in das Gesamtbild. Mögen skeptische Experten insbesondere das deutsche Bundesverfassungsgericht wieder und wieder anrufen, mögen anerkannte Finanz- und Geldexperten ihre Argumente auch Mal um Mal publizieren: Ihre substantiierten Kritiken bleiben vom politischen Establishment ungehört. Die Zeitungen berichten von steigender Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung in Europa; hunderte Ökonomen rufen ihre Warnungen in die Welt; in den Strassen der überforderten Länder brennen schon die Barrikaden. Doch die Biedermänner in Gestalt der nationalen Regierungen machen weiter wie bisher, sie treiben ihr europapolitisches Integrationsprojekt ungerührt immer tiefer in seine Probleme. Auch in den Parlamenten regt sich kein spürbarer Widerstand dagegen. An die erste Phase ihrer Beschwichtigungspolitik, in der Parolen verkündet wurden wie «Niemand hat so sehr vom Euro profitiert wie Deutschland», schliesst sich die Propaganda namens «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa» an; diese wiederum mündet in die Phase, in der es heisst: «Kein Preis ist zu hoch für Europa.» Was es tatsächlich heisst, wenn gesagt wird, man rette den Euro «um jeden Preis», dürfte manchen im nachhinein noch bitter erstaunen.
7. In das Bild, ein Unheil abzuwenden, indem man versucht, Freundschaft mit dem Gefahrenbringer zu schliessen, fügen sich immer wieder beispielhaft die Verhandlungen zwischen Angela Merkel und François Hollande, jüngst über eine gemeinsame Bankenaufsicht in der Eurozone. Konsequent ignorieren die Akteure auf den nationalen Regierungsebenen, dass sie zusammenzufügen versuchen, was nicht zusammengehört, weil es nicht zusammenpasst. Dass eine (zumindest nominell) konservative Regierungschefin aus einem einstmals auf Geldwertstabilität setzenden Land mit einem sozialistischen Regierungschef aus einem inflationsfreudigen Land nicht ohne weiteres Einigkeit erzielen kann, liegt auf der Hand. Einigt man sich dann aber auf einen Kompromiss und tritt zuletzt – nach dem gemeinsamen Gänseessen am Staatsbankett – einander umarmend vor die Pressephotographen, dann ist zumindest für den medienwirksamen Anschein einer Konfliktvermeidung gesorgt. Doch haben sich die nationalen Biedermann-Regierungen bloss in Eintracht den Regeln der supranationalen Brandstifter unterworfen.
8. Das blankste Anpassungsverhalten liegt schliesslich in dem Willen zum Gleichmachen aller Schuldlasten und Zinskosten. Hier trösten sich die wohlhabenderen ebenso wie die weniger wohlhabenden Staaten mit dem wohlig-warmen Gedanken von der friedenstiftenden Gleichheit: Man hofft, durch ausgleichendes Geben und Nehmen alle bestehenden Gegensätze auszuräumen. Wenn die (relativ) seriöser wirtschaftenden Volkswirtschaften der nördlichen Eurozone aber die (relativ) unseriöser wirtschaftenden Länder der Südsphäre nicht mit sparkommissarischer Gewalt zu anderem Handeln bewegen können, dann bleibt schliesslich nur der Weg des Moral Hazard, die Einheitlichkeit durch eigenes Hasardeurwirtschaften herbeizuführen. Alle Anreize zum eigenen Sparen schwinden.
IV.
Zum Schluss wird das Haus der Biedermanns brennen und dann bald die ganze Stadt. Warum nur dulden neben den willfährigen Parlamentariern in allen Ländern insbesondere auch die angeblich so kritischen und aufgeklärten Öffentlichkeiten überall das Zündeln am Geld? Warum lassen wir europäische Bürger und unsere vermeintlich wachsamen Medien geschehen, dass mit der Zustimmung offensichtlich ahnungsloser Parlamentarier nationale Regierungen und europäische Zentralverwaltung immer neue Geldmengen in Fässern auf den europäischen Dachboden rollen? Warum nehmen wir hin, dass im vorgeschützten Namen von europäischer Menschlichkeit, von historischem Gewissen, internationalem Frieden und politischer Einigung mathematische Gleichungen gerechnet werden, die nicht aufgehen können? Sind Rücktritte wie die von Horst Köhler, Axel Weber, Jürgen Stark oder sonstigen «Dr. phil.» wirklich schon die schärfsten Proteste, zu denen wir in der Lage sind? Oder handelt es sich bei derartigen Rückzügen nicht in Wahrheit um Konfliktvermeidungsstrategien? Präsentiert das Establishment den Rettungsschirmträgern mit solchem Platzmachen am Tisch nicht nur immer neue Handlungsspielräume?
Der jahrzehntelange Friede in Europa seit 1945 war bis 1999 von einem währungspolitischen Charakteristikum geprägt: von einer Vielzahl prinzipiell unterschiedlicher Währungen und Wirtschaften. Wollen wir diesen Frieden nicht gefährden, müssen wir uns eingestehen, dass ein multikulturelles Europa hier ebenso wie andernorts Vielfalt braucht. Die merkwürdige Sehnsucht nach einem Gleichschritt der Massen gefährdet diese Harmonie. Gestehen wir uns endlich ein: Wechselkursschwankungen markieren den Höflichkeitsabstand zwischen den Völkern!
Die Schweiz hat sich gegen derartige übernationale Vereinnahmungsversuche lange (relativ) erfolgreich gewehrt. Sie ist insofern – ebenso nach aussen wie auch nach innen, gegenüber ihren eigenen Kantonen – lange (relativ) beweglich geblieben. Diese Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, diese Flexibilität ist notwendig, um heranziehenden Gefahren schnell ausweichen zu können. Insofern kann und muss die EU lernen von der Schweiz.
Demokratie heisst wählen können. Ihr Lebenselixier sind daher Vielfalt und Alternativen. Und die jeweilige Wahl muss eine wohlbedachte sein, im besten Falle eine, die auf hinreichender Tatsachenkenntnis beruht. Nicht nur die Deutschen im besonderen, sondern alle Europäer sind mit ihrer gemeinsamen Geschichte aufgerufen, immer wieder von den fatalen politischen Fehlern zu berichten, die in Europa während der letzten hundert Jahre gemacht wurden. Dazu gehört, Erfahrungen zu teilen und scheinbar merkwürdige, irrsinnige Beobachtungen zu erklären.
Der britische Journalist Adam Fergusson zitiert die Schriftstellerin Erna von Pustau als Zeitzeugin der deutschen Inflation von 1923 in seinem Buch «When Money Dies» aus dem Jahre 1975 (deutsch: Das Ende des Geldes, 2010, herausgegeben von Max Otte) mit den Worten:
«Üblicherweise sagten wir: ‹Der Dollar steigt schon wieder›, während der Dollar in Wirklichkeit stabil blieb, aber unsere Mark an Wert verlor. Aber sehen Sie, wir konnten kaum sagen, dass unsere Mark fiel, weil sie in Zahlen gemessen ständig stieg – und so auch die Preise. Das war wesentlich sichtbarer als die Erkenntnis, dass der Wert unseres Geldes abnahm … All das erschien einfach nur wie ein Irrsinn, und er machte die Menschen irre.»
Wenden wir uns also gegen die schier irrsinnige Vorstellung, eine politische Integration in Europa könnte durch eine funktionsunfähige und konfliktschürende Kunstwährung vorangebracht werden. Setzen wir den makroökonomischen Hasardeuren und Voodoo-Ökonomen Grenzen. Verteidigen wir politische Vielfalt und ökonomische Beweglichkeit in Europa gegen die Starrheit und Überheblichkeit einer undemokratischen Zentralregierung.
Europa braucht keine hochfinanzherrschaftlichen Superstrukturen, in denen wie auf einem neuen Wiener Kongress immer starrere Menuette getanzt werden. Europa soll die Hüften schwingen können, wie es Elvis dem Kontinent just in dem Jahr 1958 gezeigt hat, in dem Max Frisch seinen «Biedermann» auf die Bühne brachte. Und mit der Hilfe nicht zuletzt des Internets werden wir diese Version eines friedlichen, bunten, vielfältigen Europas ohne eine machthungrige Zentrale auch an allen unkritischen Medien vorbei in die Welt senden. Auf dass daraus kein Haus werde, in dem Biedermänner und Brandstifter ihr Unwesen treiben.