Biblische Gesichte
Menschen, die Visionen haben, gehören in eine Anstalt für betreutes Wohnen oder in ein Kloster. Möglicherweise haben manche Schweizer Bergtäler einen ähnlichen Charakter und fördern das Entstehen dessen, was man einst Gesichte nannte. Schon Reisende früherer Jahrhunderte auf ihrem Weg nach Italien – wie etwa der Maler und Baumeister Schinkel – wunderten sich über die […]
Menschen, die Visionen haben, gehören in eine Anstalt für
betreutes Wohnen oder in ein Kloster. Möglicherweise haben
manche Schweizer Bergtäler einen ähnlichen Charakter
und fördern das Entstehen dessen, was man einst Gesichte
nannte. Schon Reisende früherer Jahrhunderte auf ihrem
Weg nach Italien – wie etwa der Maler und Baumeister
Schinkel – wunderten sich über die verhältnismässig hohe
Zahl an verhaltensauff älligen Persönlichkeiten, wie es heute
wohl politisch korrekt heissen würde, in diesen Regionen
der Alpen. Möglicherweise lag das am Jodmangel, wie man
später meinte herausgefunden zu haben, möglicherweise
aber auch nicht. Wer weiss das schon.
Maurice Chappaz, 1916 in Lausanne geboren, lebt im
Wallis, und er hat Visionen. Statt in den Bergen zu wandern
und der Natur bei ihrem erhabenen Sein über die Schulter zu
schauen, verfasst er mitunter Gedichte, Essays und übersetzt
aus dem Lateinischen. Zuletzt schrieb er ein Büchlein, das
sich Erzählung nennt und das «Evangelium nach Judas» zum
Inhalt haben soll. Wir erinnern uns: Judas war der Jünger,
der Jesus für die berühmten 30 Silberlinge verriet und sich
kurz darauf erhängte. Er ist tatsächlich eine der interessantesten Figuren des Neuen Testaments. Aus welchem Grund
verkaufte er sein Wissen? Warum erhängte er sich kurz darauf?
Was hatte es mit dem berühmten Judaskuss auf sich?
Der düstere Jünger galt lange Zeit und gilt wohl auch
heute noch als Prototyp des Verräters, der seinen Meister
aus Habsucht den Schergen ausliefert. Es gibt indes auch
andere Deutungen, die ihn einer der patriotischen jüdischen
Befreiungssekten zuordnen, die ein politisches Ziel
hatten und Jesus als Führer im Aufstand gegen die Römer
vereinnahmen wollten. Wieder andere erkannten das Dilemma,
dass dieser Verräter der notwendige Partner Christi
im heilsgeschichtlichen Plan war. Ohne Judas kein Kreuzestod,
ohne diesen keine Erlösung.
Alles recht brisante Fragen und Überlegungen, für die
sich Chappaz aber nicht wirklich interessiert. Für ihn ist
Judas der unbewusste Gegenspieler Christi, ein Mystiker
des Diesseits gewissermassen, der Jesus zum Handeln im
Hier und Jetzt zwingen will, damit aber sein göttliches Sein
verrät. Dieser Verrat macht ihn letztlich auch zum Vorläufer
der Kirche, die in einem immer weiter um sich greifenden
Prozess der Verweltlichung kaum etwas anderes tut. So etwa,
jedenfalls.
Schon der erste Satz macht deutlich, wie Chappaz dabei
vorgeht: «Judas und Jesus steigen in mir auf.» Was will man
darauf erwidern? Hier werden ganz off ensichtlich Grenzen
der Zeit und des Raumes aufgehoben. Das Ich des Erzählers
entgrenzt sich in die biblischen Geschichten, mischt sich
unter die Apostel. So sollen wir die Präsenz der Geschichten
spüren und gleichsam miterleben, wie der Autor sie sieht.
Vom bethlehemitischen Kindermord über die Speisung der
Viertausend, die Berufung der Jünger und den Einzug in
Jerusalem bis zum Passahfest, der Auferweckung des Lazarus
und letzten Abendmahl fl irren Teile der Evangelien in
dünnen, durchsichtigen und verwehenden Bildern am Leser
vorbei, vermutlich weil der Autor mehr an sich selbst als
an diesen Geschichten interessiert ist. Sein Interesse ist im
wesentlichen auf das eigene epiphanische Erleben, auf die
innere Wahrheit des Geschauten gerichtet. Etwas handfeste
Wirklichkeit schiene hier eher störend zu sein.
So räsoniert er über dieses und jenes und gelangt zu seltsamen
Wahrheiten und Beobachtungen: «Unter dem Himmel
gehen die Berge, wie Wasser, von einem Licht ins andere.»
– «Denn die Welt ist ein geheimnisvoller Liebesakt, der sich
deckt mit einer Ewigkeit des Unsichtbaren.» – «Das Universum
ist in unseren Eingeweiden. Es bewegt sich.» Und so fort.
Nun hat die profane Epiphanie selbst in der Literatur der
Moderne ihren Platz – man denke an Hofmannsthals «Augenblicke
in Griechenland», an Joyces «Ulysses» und Prousts
«Recherche» –, und es gibt literarische Traditionen, in denen
das freie und ungebundene Spiel der Einbildungskraft viel
Raum hat, etwa den Surrealismus, den Symbolismus. Beiden
fühlt sich der Autor Chappaz möglicherweise verpfl ichtet,
doch gehört er wohl eher in die Tradition der Mystiker, deren
literarischen Äusserungen wir säkularisierten Ungläubigen
nur noch schwer oder nicht mehr zu folgen vermögen.
besprochen von Gerald Funk, Marburg
Maurice Chappaz: «Evangelium nach Judas». Frauenfeld: Waldgut, 2006.