Bhutan? Bhutan!
Entwicklungszusammenarbeit? Ja, aber auf einer soliden Basis! Und diese beruht allein auf dem Charakter des Menschen. Bilanz der fünfzigjährigen Zusammenarbeit Schweiz–Bhutan in Form eines Briefes.
Meine liebe Nichte,
Du stehst vor der Wahl Deiner Studienrichtung und fragst mich, was ich von «Entwicklungsökonomie» halte – ein Fach, für das Du Dich seit Deiner Indienreise lebhaft interessierst. Du möchtest meinen Rat, weil die 50 Jahre meines Lebens als Unternehmer deckungsgleich seien mit dem Zeitraum, in dem moderne Entwicklungszusammenarbeit geleistet worden sei. Meine Erfahrung setzt sich, wie Du weisst, zusammen aus acht Jahren Feldarbeit in Schwarzafrika und 20 Jahren «in Tee», die mich häufig in asiatische Kulturkreise brachten. Und selbstverständlich kann ich nur schöpfen aus dem Erfahrungsschatz privatwirtschaftlichen, also selbstverantwortlichen Handelns, womit ich sagen will: Person vor Funktion.
Was ich Dir hier schreibe, steht unter diesem Blickwinkel, also der Frage nach dem Menschen in seinem Gelingen und Misslingen, in welchem Unternehmen auch immer. Nicht Geld, nicht Technik und auch nicht Wissen sind primär entscheidend, sondern der Charakter. Mit ihm steht und fällt jedes Werk. Sich selbst zu erkennen und weiterzubringen ist genauso anspruchsvoll, wie ein Land und seine Kultur zu erkennen und zu versuchen, zu dessen Fortkommen einen positiven Beitrag zu leisten. Das ist mein Verständnis, meine Auffassung von Entwicklungszusammenarbeit. War sie erfolgreich in den vergangenen 50 Jahren? Die Antwort lautet, dass trotz des Einsatzes eines Heeres von Sachverständigen und Tausender Dollarmilliarden in diesem Zeitraum die Armut auf der Welt sich weiter verschärft hat. Davon hebt sich das kleine Himalaya-Königreich Bhutan als erfreuliche Ausnahme ab und zeigt, dass es auch anders ginge – aber darüber dann mehr am Schluss dieses Briefes.
Was lockt in diesen Job? Flucht vor der Wohlstandslangeweile? Helfersyndrom? Selbstüberschätzung? Weltreisen und Konferenzpalaver? Eine Lebenskrise? – Diese unvollständige Liste stammt nicht von mir, sondern von klarsichtigen Kritikern in den Empfängerländern. Sie enthält keine Eigenschaften, die es braucht, um Verantwortung zu übernehmen in einem so schwierigen Unterfangen, wie es die Arbeit in fremden Kulturen ist. Hier sind vielmehr Neugier für das Vorhandene, Einfühlungsvermögen, Bescheidenheit, Beharrlichkeit und Initiative verlangt. Sachkompetenz kann man sich relativ schnell aneignen, aber Sachverständiger wird man in diesem Geschäft erst nach Überwindung der sprachlichen Barriere und nachdem man in hundert kulturelle Fettnäpfchen getreten ist. Erst dann wirst Du von den Menschen im Land als glaubwürdig angenommen – allererste Voraussetzung, um überhaupt etwas gemeinsam verändern oder aufbauen zu können.
«Person vor Funktion» habe ich geschrieben. Person – das ist die Ganzheitlichkeit, wie ich sie verstehe, das ist der Selbsteinsatz aus innerer Überzeugung. Funktion – das ist ein Konstrukt, das Prestige verleihen, hinter dem man sich verstecken, das man auslegen, ändern und jederzeit verlassen kann. Die Sprache der Funktion ist abstrakt, scheinbar objektiv; sie berührt nicht. Nur wenn in der Sprache der Person um Anhänger, Wähler, Kunden oder Spender geworben wird, dann wird sie konkret, anrührend, vielleicht visionär. Die Person sieht das Problem und sucht eine Lösung. Der Funktionär hat Lösungen und sucht Anwendungsfelder, die er hierfür problematisiert. Ausgangspunkt dieser Denkweise ist das Jahresbudget, das wachsen, nicht abnehmen soll. Toni Hagen, Schweizer Pionier der Entwicklungszusammenarbeit, hat dies als Mittelabflusszwang angeprangert. Diese Mittel sind Steuergelder.
Bei Deinem letzten Besuch habe ich Dir auch davon erzählt – und Du hast Dich darüber gewundert –, dass in einer Demokratie keine Kontrolle durch die Volksvertreter ausgeübt wird. Dies ist auch Gleichgültigkeit der wohlhabenden Nationen, die sich solche Entwicklungshilfe leisten können, zumal dadurch sowohl Ideologie als auch wirtschaftliche Interessen bedient werden. Dahinter verbergen sich jedoch kulturbedingte Gründe.
Zuerst einmal die Unwissenheit. Ich gebe Dir dazu ein Beispiel. Als ich von einer NGO als Leiter eines Projekts im Sahel verpflichtet wurde, stellte man mich bei der Ankunft in meinem Einsatzland flugs als «Experten» vor, obwohl ich weder von Wasserbohrung, Brunnenbau, Landwirtschaft noch von medizinischer Grundversorgung in einer mir völlig fremden Kultur eine Ahnung hatte. Ich stiess auf eine Grundregel in diesem «Spiel»: dass wir Westler nämlich zu wissen meinen, wie Entwicklung anderer Völker zu bewerkstelligen sei. An diesen Initialirrtum schliesst sich eine Kette weiterer Irrtümer an, so dass der Wahnwitz mit viel Logik und abwägendem Bedenken in Gang gehalten werden kann.
Ein weiteres Faktum ist kollektiver Natur. Aus der Mittelschule weisst Du, dass jede Öffentlichkeit immer schon Ausdruck bestimmter Macht- und Herrschaftsverhältnisse gewesen ist und dass die öffentliche Lüge heute in vielen Bereichen fast zum Normalzustand gehört. Wo eine Gruppierung «ihre Wahrheit» aufgrund ökonomischer, politischer oder weltanschaulicher Interessen mit unerbittlichem Anspruch vertritt, da spielt die Ethisches , bestimmt durch die Bereitschaft zu offenem, suchenden Fragen, eine untergeordnete Rolle. Menschlichkeit wird eliminiert durch Unversöhnlichkeit zwischen dem «absoluten Rechthaber» und dem «absoluten Unrechthaber». Wie sähe das Bild der heute praktizierten offiziellen Zwangssolidarität wohl aus im Lichte einer Bilanz der letzten fünfzig Jahre Entwicklungszusammenarbeit, gesehen mit Deinem Blick auf die Fakten und mit der Gefühlslage Deiner Generation?
Würde ein junges, offenes Gremium an diese Aufgabe herangehen, dann würde ich gerne noch hinweisen auf das Meinungsklima, das das aktuelle Gesellschaftsbild konfektioniert. Wir alle sind, wie Milan Kundera es genannt hat, einem «Wirbel der Reduktion» ausgesetzt: die nicht mehr zu bewältigende Masse von Konsum, Information, Vergnügen, Arbeit, Mobilität zwingt zur Vereinfachung. Die Massenmedien, die selber auf dem Null/Eins-Prinzip beruhen, verbreiten weltweit Vereinfachungen und Klischees, die für eine möglichst grosse Zahl von Menschen eingängig sein sollen. Dieser Regel hat man auch das Gegensatzpaar «arm/reich» unterworfen, indem man es ganz auf seine ökonomische Dimension reduziert hat. Derart eingebaut in das öffentliche Meinungsbild, erhebt sich kaum Widerspruch gegen den Abfluss von Millionen von Steuerfranken in Entwicklungsbürokratien.
Nun, meine liebe Nichte, habe ich Dich mit meinen kritischen Bemerkungen vielleicht entmutigt? Sei versichert, meine Ausführungen betreffen nur die eine Seite Deines Entscheids. Die andere ist die: es gibt Erfolge in partnerschaftlicher Entwicklungszusammenarbeit. Das für mich eindrücklichste Beispiel betrifft Bhutan und die Schweiz. Wie kam es dazu? Es ist die Gesinnung der Menschen, die das möglich machte, allen voran des Königshauses der Dynastie Wangchuk und der Schweizer Unternehmerfamilie von Schulthess. Soll ich Dir sagen, was das für ein König war?
Als ich vor zwanzig Jahren kreuz und quer durch Bhutan reiste, hörte ich folgende Geschichte: ein Gouverneur hatte sich ein dreistöckiges Haus gebaut – ein Stockwerk mehr als alle anderen. Der Onkel des Königs war damals Innenminister und besuchte in dieser Eigenschaft die Provinzen als des Königs «Ohr». Er hörte die Frage, warum der Staatsbeamte sich ein solches Haus bauen konnte. Der König vernahm es und ordnete eine Untersuchung an, die zutage förderte, dass öffentliche Gelder veruntreut und für Privates abgezweigt worden waren. Der Gouverneur wurde abgesetzt, musste zurückzahlen und sein Schwert abgeben, das Symbol von Würde und Kraft.
Das ist Charakter. Das ist das «Nein – so nicht». Es ist die Redlichkeit, auf der Vertrauen gründet. Und darin liegt der Erfolg dieser Entwicklungspartnerschaft, die geprägt ist von Respekt und Einsatz und von Unternehmern wie Fritz von Schulthess und Fritz Maurer, aber auch von Menschen wie Martin Menzi, den Reinharts, E.W. Külling und den Ärzten der ersten Stunde, den Förstern, Brücken- und Seilbahnbauern, der Architekten und Ausbildnern sowie ihren Partnern in Bhutan.
Ein Glücksfall? Ja. Und ein Lehrstück, das dazu anregt, Vergleiche zu ziehen. Das schärft das Unterscheidungsvermögen, dieses Instrument zur Bildung eines Qualitätsurteils. Ein weiteres ist die Lektüre, nicht sosehr entwicklungspolitischer Schriften als von Beiträgen geistig unabhängiger Menschen, wie sie unter den Dichtern zu finden sind. Schliesslich aber ist das zu nennen, was Dir noch bevorsteht – die persönliche Erfahrung, die durch nichts zu ersetzen ist. Darum mein Rat: schiebe Deine Studienpläne noch etwas hinaus, geh hin, engagiere Dich, lerne völlig andere Lebens- und Handlungsweisen kennen. Dann wirst Du die Theorie des anschliessenden Studiums so grün machen wie des Lebens goldener Baum!
Ich grüsse Dich!
Hanspeter Reichmuth, geboren 1940, arbeitete nach seinem Studium der Betriebswirtschaft als Entwicklungshelfer und ist Mitgründer der Firma Reichmuth von Reding GmbH, für die er in den letzten 20 Jahren häufig in Asien unterwegs war.