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Besessenheit nach gesammeltem Besitz

Philipp Blom hat Geschichten über Sammler gesammelt Die Leidenschaft des Sammelns lässt sich weit zurückverfolgen. Was sich im Lauf der Zeit verändert, sind Motive, Mittel
und Modalitäten: hier ist die Vielfalt grenzenlos.

Der Homo sapiens ist ein Homo colligens. Schon in der Antike gab es Sammler, die ihren Status über Besitz unterstreichen wollten. Lange Zeit stand die Tätigkeit des Sammelns im Kontext geistlicher oder weltlicher Machtausübung, etwa wenn Kleriker im Mittelalter Reliquien horteten oder Adlige ihre Schatzkammern füllten. Das jedenfalls konstatiert Philipp Blom zu Beginn seiner kolossalen Kulturgeschichte «Sammelwunder, Sammelwahn». Bis zur frühen Neuzeit sei Sammeln eine Beschäftigung Herrschender gewesen. Erst mit dem empirischen Anspruch des Forschers kam es zur Zeit der Renaissance zu einer Denkwende, in der Blom das «Schlüsselmoment der europäischen Geistesgeschichte» ortet. Mit der Entdeckung neuer Kontinente, des planetarischen Makrokosmos und des Mikrokosmos sei das Abendland aus dem langen Schatten der Antike getreten; die exotischen Stücke, die Europa erreichten, liessen sich nicht mehr mit den Schriften antiker Autoren erklären.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bauten immer mehr wohlhabende Privatleute naturhistorische Sammlungen auf, auch wenn sich diese meistens auf seltene Steine, Drucke oder ausgestopfte Vögel beschränkten. Sammeln ging einher mit der säkularisierten Auffassung von Sterblichkeit. Man begeisterte sich nun für irdische Schönheit. Kuriositäten dienten als Botschafter fremder Welten, sorgten aber auch für skurrile Erkenntnisse. Weil die präparierten Paradiesvögel Europa meist beinlos erreichten, fragte man sich, ob diese erst zum Sterben landeten und ob die Schnäbel der Kolibris nur deshalb so lang waren, weil sich die Vögel zum Schlafen in Baumrinden festbohren mussten.

Mit dem Sammeln hatte auch die Alchimie Hochkonjunktur – als intellektuelle Annäherung an die Magie. Man bemühte sich, im Chaos der Vielfalt den Schlüssel der Schöpfung zu finden, den Code zum vorbabylonischen Urwissen. Die Prager Sammlung Rudolfs II. von Habsburg galt um 1600 als grösstes alchimistisches Labor der Christenheit. Hier fand man unter vielem auch Einhornhörner, Alraunenwurzeln, Drachen, Nägel von Noahs Arche und den Kiefer einer Sirene. Für Blom steht Rudolf II. am Beginn einer langen Reihe fanatischer Sammler, für die das Sammeln zum philosophischen Projekt wurde. Über den Bemühungen, durch Anbauten mehr Platz für seine stetig wachsende Sammlung zu schaffen, vergass der Kaiser seinen Beruf und war dadurch indirekt mitverantwortlich für den Ausbruch des Dreissigjährigen Krieges.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts machte der niederländische Anatom Frederik Ruysch den menschlichen Körper zum Sammelobjekt. Die öffentlichen Obduktionen gehenkter Krimineller galten als Teil der Strafe und waren Moraltheater und naturwissenschaftliche Offenbarung zugleich. Ruysch entwickelte eine Methode, Körper konservierbar zu machen, um sie zu ästhetisierten Skulpturen zu komponieren. In diesen Präparaten sieht Blom das «Vermächtnis jenes letzten Augenblicks in der Geschichte, in dem Anatomie und Schönheit, Wissenschaft und Theologie, Sammeln und Erlösen noch eine natürliche Einheit zu formen schienen».

Die Sammelkultur veränderte sich. Das wahllose Anhäufen von Exotischem wurde abgelöst durch eine umfassende und endgültige Klassifizierung der Natur. Waren die Sammlungen der frühen Neuzeit privat und nur ausgewählten Besuchern zugänglich, wurden sie im 19. Jahrhundert zu Museen, zu symbolischen Universen, die eine Weltsicht vermitteln sollten. Hier formten und erschufen sich die jungen europäischen Nationalstaaten Geschichte und Mythos. Das Museum wurde öffentlicher Erzieher und Mittler des guten Geschmacks.

Sammlungen waren stets Individualleistungen. Nur die wenigsten überstanden den Tod ihres Initiators intakt. Aber im Sammeln lässt sich der Versuch erkennen, unsterblich zu werden. So wurden die meisten Sammler schliesslich Teil ihrer Sammlung, in Form von Porträts, lebensgrossen Wachsfiguren oder sogar in ihrer Urne. Manche Sammlung war Keimzelle eines grossen Museums. So sind die Reste der «utopischen Welt» Rudolfs II. heute im Naturhistorischen sowie im Kunsthistorischen Museum in Wien zu sehen. Ein anderer grosser Sammler hat Ausmass und Erscheinungsform des Louvre massgeblich geprägt. Von Napoleon I. zum Generaldirektor der Nationalen Museen ernannt, sollte Vivan Denon die vormals königliche Kunstsammlung zum ersten wirklich öffentlichen Museum machen und die durch Eroberungen und Enteignungen in französischen Besitz gekommenen Kollektionen in die Ausstellung integrieren. Zwar hatte dies nur wenige Jahre Bestand; nach der Niederlage bei Waterloo mussten die geraubten Exponate wieder zurückgegeben werden, doch bis dahin stand Denon der grössten Kunstsammlung vor, die jemals zusammengetragen wurde. Wegweisend war sein Konzept, die Werke nach kunsthistorischen Kriterien zu ordnen. Damit folgte er der naturwissenschaftlichen Methode der Klassifizierung.

Sammeln ist männlich. Sammelnde Männer sind manischer als sammelnde Frauen, ihre Liebe zum System kann sie mitunter ins gesellschaftliche Abseits verschlagen. Denn Sammler sind Fanatiker. So beteiligte sich John Tradescant, der aufgrund seiner Kollektion enorme gesellschaftliche Anerkennung genoss, 1620 in Auftrag von William Lord Salisbury an einer Jagd auf algerische Piraten, um Setzlinge einer besonders wohlschmeckenden Aprikosenart zu beschaffen. Je länger die Expedition dauerte, desto weiter verwandelte sich das Schiff in eine schwimmende Baumschule. Ob die Piraten gestellt werden konnten, verrät Blom leider nicht, aus botanischer Sicht jedenfalls war die Reise sehr erfolgreich.

In Zeiten der maschinellen Reproduzierbarkeit ist Sammeln erschwinglicher geworden und überschaubarer. Nun lassen sich komplette Serien sammeln – zumindest theoretisch, denn es gibt ja nur eine endliche Anzahl unterschiedlicher Kronkorken. Einen vollständigen Satz griechischer Statuen könnte es dagegen nie geben. Ähnlich verhält es sich mit Büchern. Davon existieren einfach zu viele. Manche Sammler haben für ein einziges erhaltenes Exemplar getötet. Andere haben sich ihre Bibliothek lieber gleich selber ausgedacht. Der 1605 geborene Thomas Browne konnte sich der Einzigartigkeit seiner erfundenen Titel, darunter der Korrespondenz zwischen Seneca und Paulus, sicher sein. Casanova sammelte Frauen oder vielmehr den Moment ihrer Eroberung. Sigmund Freud, selbst ein Sammler, verstand das Sammeln denn auch als Möglichkeit, überflüssige Libido aufs Leblose umzulenken. Sammeln – das ist die Sehnsucht nach dem noch nicht besessenen Objekt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand in den USA eine neue Aristokratie, deren Exponenten es sich in den Kopf gesetzt hatten, Europa leerzukaufen. Geld spielte für Männer wie den Bankier J. Pierpont Morgan keine Rolle. Er liess kaufen, was sich kaufen liess, nur aussergewöhnlich und einzigartig mussten die Stücke sein. Doch einen wirklichen Überblick über seinen Besitz hatte er dabei nicht. Der Zeitungsbaron William Randolph Hearst dagegen konnte seine Sammlung im Katalog begutachten, allerdings sollte er die meisten Objekte nie selbst berühren. Die Originale lagerten in Lagerhäusern, darunter auch die Kreuzgänge zweier Klöster; einer davon nahm 10’700 Kisten in Anspruch. Ein Monument seiner Besessenheit war Hearsts Landhaus, das aus Versatzstücken der europäischen Kulturgeschichte bestand. In seinem Bett hatte schon Kardinal Richelieu geschlafen.

Philipp Blom macht das Phänomen des Sammelns mitunter auch über extreme Beispiele anschaulich, er erzählt gelehrt und humorvoll, nie aber entlarvend oder gar geschwätzig. Das Bild des Sammlers wird deutlich anhand der vom Autor gesammelten anekdotischen und exemplarischen Geschichten. Mag man auch manchen Namen vermissen, scheinen doch sämtliche Facetten des Sammelns abgedeckt zu sein. Nicht wirklich bemüht um eine enzyklopädische Vollständigkeit, erspart Blom sich und den Lesern Wiederholungen, zeigt aber ein breites Spektrum auf, um auch Nichtsammlern diese Leidenschaft verständlich zu machen. Als Rahmen dienen Blom einige persönliche Episoden. So berichtet er von seinem Urgrossvater, der als Pensionär ein Antiquitätengeschäft eröffnete. Weil sich das für einen ehemaligen Fabrikanten und Börsianer aber nicht schickte, ging er offiziell lediglich Schwäne füttern. Seine Frau erfuhr von dem Laden erst, als dort eingebrochen und darüber in der Zeitung berichtete wurde.

Der 1970 in Hamburg geborene Philipp Blom hat in Wien und Oxford studiert. Er lebt in Paris, schreibt seine Bücher auf Englisch und übersetzt sie selber ins Deutsche. «Sammelwunder, Sammelwahn» ist eine Sammlung für sich, ein schon äusserlich berückendes bibliophiles Objekt, das überdies limitiert und numeriert ist.

Philipp Blom, «Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus der Geschichte einer

Leidenschaft». Ins Deutsche übertragen vom Autor. Die Andere Bibliothek, Band 229, Eichborn, Frankfurt am Main 2004.

Thilo Bock, 1973 in Berlin geboren, hat an der TU Berlin über Hugo Ball und die literarische Bühne promoviert. 1997 erschien sein Kurzprosaband «Vogel sucht Fallschirm» (verlag am park, 1997). Er ist Mitveranstalter der «Schreibwerkstatt Berlin» und Redaktionsleiter des Jugendmagazins «ätzettera».

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