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Begriffskrüppel? Alleszermalmer?

Drei neue Biographien zum 200. Todestag Kants In den nächsten Ausgaben folgen weitere Beiträge zu Kants Wirkung auf das philosophische und politische Denken der Gegenwart. An dieser Stelle gibt Ludger Lütkehaus einen Überblick über neue Biographien.

Kaum ist der Lärm des Adorno-Jahres verhallt, da wird das Kant-Jahr eingeläutet. Im Adorno-Jahr gab es allein drei voluminöse Biographien nebst zahllosen weiteren Publikationen, Symposien, Kongressen – ausgerechnet über den vehementen Kritiker des «Biographismus» und der Kulturindustrie. Da darf man bei einem wie Kant keinesfalls zurückstehen. Ihm sind ebenfalls drei neue Biographien gewidmet – einem Denker, der nach weitverbreitetem Vorurteil kein eigentliches Leben hatte, jedenfalls das nicht, was man so «Leben» nennt. Keine Liebes-, keine Frauen-, keine Männergeschichten, keine familiären Dissonanzen, keine Süchte, keine Exzesse. Stattdessen die unspektakuläre Mühe und Arbeit eines Gelehrten-, eines Professorenlebens. Die Lebenskrisen ereignen sich, wenn überhaupt, im Denken.

Heinrich Heine hat in seiner «Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland» den angeblichen Mangel an Leben mit dem ihm eigenen Witz protokolliert. Gewiss, da ist auf der einen Seite der revolutionäre Denker mit seinen «weltzermalmenden Gedanken», der an «Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf», indem er mit dem «Schwert eines Scharfrichters» den guten alten Gott köpfte. Aber sonst?

«Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte. Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben, in einem stillen, abgelegenen Gässchen zu Königsberg, einer alten Stadt an der nordöstlichen Grenze Deutschlands. Ich glaube nicht, dass die grosse Uhr der dortigen Kathe-drale leidenschaftsloser und regelmässiger ihr äusseres Tagwerk vollbrachte wie ihr Landsmann Immanuel Kant. Aufstehn, Kaffeetrinken, Schreiben, Kollegienlesen, Essen, Spazierengehn, alles hatte seine bestimmte Zeit, und die Nachbaren wussten ganz genau, dass die Glocke halb vier sei, wenn Immanuel Kant in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand, aus seiner Haustüre trat und nach der kleinen Lindenallee wandelte, die man seinetwegen noch jetzt den Philosophengang nennt. Acht mal spazierte er dort auf und ab, in jeder Jahreszeit, und wenn das Wetter trübe war oder die grauen Wolken einen Regen verkündigten, sah man seinen Diener, den alten Lampe, ängstlich besorgt hinter ihm drein wandeln, mit einem langen Regenschirm unter dem Arm, wie ein Bild der Vorsehung.»

Diese Karikatur hat sich durchgesetzt; Kant war und blieb: «der Mann nach der Uhr» – ein Automat, eine wohlregulierte Maschine. Friedrich Nietzsche meinte es nicht anerkennend, wenn er Kants «Königsberger Chinesentum» glossierte. Er stellte dem «Automaten der ‹Pflicht›» die böse Diagnose: «Kant wurde Idiot.» Georg Simmel denunzierte Kant gar als «Begriffskrüppel». Noch der vielgerühmte Biograph Arsenij Gulyga stellte 1977 fest: «Kant hat keine andere Biographie als die Geschichte seiner Lehre.»

Und wenn Hartmut und Gernot Böhme mit einer ebenso stimulierenden wie umstrittenen Psychoanalyse Kants für Dramatisierung und Psychologisierung zu sorgen versuchten, dann um den Preis weitreichender Spekulationen über einen gepanzerten, in jedem Sinn «verstopften» Zwangscharakter, der den «Wahnsinn der Vernunft» illustrieren sollte. Dafür wusste die Vernunft der beiden Autoren aber selber erstaunlich viel, etwas zuviel nach Meinung ihrer ebenfalls gut gepanzerten Kritiker.

Korrekturen am Bild Kants

Auf dem Hintergrund dieser Tradition sorgen nun alle drei der neu erschienenen Biographien für eingreifende Korrekturen – auch in bezug auf die hier und da eingerissene Verwirrung der Massstäbe. Man darf sich getrost wieder daran erinnern, dass allein Kant, nicht Hegel noch Marx, nicht Schopenhauer oder Nietzsche, nicht Husserl oder Heidegger, heute der einzige deutsche Philosoph von unumstrittener Weltgeltung ist.

Die überaus gelehrte und detaillierte, quellenkritische Biographie von Manfred Kühn zeigt, dass die ersten Autoren, die Kant aus persönlicher Bekanntschaft porträtierten und die spätere Biographik prägten, die Theologen Borowski, Jachmann und Wasianski, sich weitgehend auf den späten Kant konzentriert haben. Kühn weist nach, dass der von Kants Freund Theodor Gottlieb von Hippel, dem Königsberger Oberbürgermeister, karikierte «Mann nach der Uhr» nach dem Vorbild von Kants britischem Freund Joseph Green gemodelt war. Kühn betont um so mehr das genussfreundliche, gesellige Bild des fast dandyhaften Gentleman, des galanten und «eleganten Magisters» Kant mit dem Interesse eines Bonvivant an gutem Essen, noch besserem Wein, modischer Kleidung; mit einem Charme, der keineswegs in Hagestolzmanier die Frauen vernachlässigte. Nur seine finanziellen Verhältnisse, dann freilich auch die kräftezehrende, zeitverzehrende Obsession für die Philosophie, hinderten ihn an einer Heirat.

Alle drei Biographen, am nachhaltigsten Steffen Dietzsch mit seiner eingehenden Kultur-, Stadt- und Universitätsgeschichte Königsbergs, relativieren ein weiteres Klischee: das vom sesshaftesten aller philosophischen Pfahlbürger. In der Tat hat Kant es nie zu einer grösseren Bildungsreise, nur einmal ganze 120 Kilometer vor die Tore seiner Heimatstadt nach Goldap an der Ostgrenze Ostpreussens geschafft. Aber der Verdacht auf Blickwinkelverengung – die Augenkrankheit der Gelehrten – findet bei dem geistig weltläufigen Anthropologen Kant keinerlei Nahrung. Schon die bildungsfreudigen russischen Besatzer Königsbergs 1758-1762 haben für Internationalismus gesorgt. Im übrigen darf man die 56’000 Einwohner der kosmopolitischen Hanse-, der Grossstadt Königsberg getrost mit den gerade einmal 6’000 Weltbewohnern der Kleinstadt Weimar kontrastieren.

Die Biographie von Manfred Geier ist denn auch «Kants Welt» gewidmet. Sie ist die lebendigste, in einem guten Sinn aktuellste. Manchmal entrichtet sie mit etwas zuviel an «fraktaler» Chaostheorie dem Zeitgeist ihren Tribut. Im gelehrten Detail wird man öfters auf Kühn, für die Stadt- und Universitätsgeschichte auf Dietzsch zurückgreifen. Dafür versteht es Geier, immer wieder Spannung und Teilnahme zu erzeugen. Er vermittelt am intensivsten, dass es bei Kant nicht um einen Gegensatz zwischen revolutionärem Denken und der tödlichen Lebenslangeweile eines Automaten und «Begriffskrüppels» geht, sondern im Denken um ein höchst lebendiges Leben und einen gerade als Intellektuellen überaus temperamentvollen Charakter. Kant bekommt eine komplexe Seele, ohne dass man sie mit wilder Psychoanalyse zu Tage zwingen müsste. Der nur 1,57 m grosse Kant litt wie Lichtenberg, wenn auch nicht so stark wie er, an einer Rückgratverkrümmung, die die «flache und enge Brust» bis zur Atemnot und Herzbeklemmung einschnürte. Aber dieser verwachsene «Begriffskrüppel» zeigte wie wenige andere den «aufrechten Gang». Der Kant, den Geier wie Kühn und Dietzsch porträtieren, hat einen zentralen Impuls: den der Autonomie und Freiheit.

Philosophie, die elaborierte Form des Schreis

Die fürsorglichen und liebevollen, von dem dankbaren Sohn nicht nur respektierten, sondern wieder geliebten Eltern – die Mutter, die dem Sohn die Schönheit des «bestirnten Himmels» erschliesst, den Vater, auch beim Niedergang seines zünftigen Gewerbes ein bürgerlich respektabler Riemermeister, aber ohne Sklerose, kein Hebbelscher Meister Anton – muss man nicht wie in dissonanteren Philosophen-Biographien gegeneinander ausspielen. Aus ihrem vierten Sohn «Emanuel», dem «Manelchen» der Mutter, wird nach dem Tod des Vaters «Immanuel», der «Gott mit uns» der biblischen Namensbedeutung nach. Doch das wird sich bei dem «Alleszermalmer» Kant als ein eher ironischer Name entpuppen. Geier wagt es auch, mit einem der kühnsten Gedanken des späten Kant die übliche Geburtspanegyrik vom «Geschenk des Lebens» und dem «Licht der Welt» unerachtet aller Sohnesliebe zu relativieren. «Selbstbestimmter Freiheitsdrang» steht gegen «fremdbestimmten Daseinszwang»: «Unabhängigkeit von der Willkür eines anderen galt ihm als angeborenes Menschenrecht. Im Licht dieses Rechts musste Kant die Geburt eines Kindes zum Problem werden. Denn niemand fragt ja das Kind, ob es in die Welt geboren werden will. Für Kant war es rechtsphilosophisch plausibel, ‹den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben›.» Deswegen treten die Kinder nach Kant mit «lautem Geschrei» in die Welt. Die Philosophie ist die elaborierte Form dieses Schreis.

Kant wuchs in einem pietistisch dominierten Königsberg auf. Zumal seine Mutter war von der innigen Frömmigkeit des Pietismus bestimmt. Noch der späte Kant soll gerühmt haben: «Man sage dem Pietismus nach, was man will, genug! Die Leute, denen er ein Ernst war, zeichneten sich auf eine ehrwürdige Weise aus. Sie besassen das Höchste, was der Mensch besitzen kann, jene Ruhe, jene Heiterkeit, jenen inneren Frieden, die durch keine Leidenschaft beunruhigt wurden. Keine Noth, keine Verfolgung setzte sie in Missmuth, keine Streitigkeit war vermögend sie zum Zorn und zur Feindschaft zu reizen.» Aber Geier, mit noch mehr Nachdruck Kühn, lässt keinen Zweifel daran, dass Kants geistige Emanzipation sich gegen den zur Orthodoxie gewordenen Pietismus vollzieht. In der Folge geht Kant generell auf Distanz zur kirchlich «organisierten Religion».

In einer frappierenden Neulektüre wird bei Geier der gerne als «vorkritisch» abqualifizierte Kant vor den drei Kritiken der reinen, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft lebendig, als der Natur- und Astrophilosoph, der Kosmologe, der Kant der «Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte» und der «Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels». In den «Gedanken» stellt der gerade 22jährige sich als «Gelehrter von Zwerggrösse» vor, um an seiner wahren Grösse keinen Zweifel zu lassen: «Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.» Geier kommentiert: «Ich, ich und nochmals ich. Achtmal taucht das Personal- und Possessivpronomen der 1. Person Singular in dieser philosophischen Unabhängigkeitserklärung auf, die Kant unter dem Zeichen des väterlichen Todes geschrieben hat.» Noch selbstbewusster ein knappes Jahrzehnt später die «Theorie des Himmels». Auf «Gottes Finger», zu dem noch Isaac Newton seine Zuflucht genommen hatte, kann Kant verzichten: «Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos. Ich sehe nach den ausgemachten Gesetzen der Attraktion den Stoff sich bilden und durch die Zurückstossung ihre Bewegung modifizieren. Ich geniesse das Vergnügen, ohne Beihülfe willkürlicher Erdichtungen, unter der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze sich ein wohlgeordnetes Ganze erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsystem ähnlich siehet das wir vor Augen haben, dass ich mich nicht entbrechen kann, es vor dasselbe zu halten. (…) Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen.»

Dann freilich wird Kant an den geheimen Offenbarungen von Emanuel Swedenborg klar, wie sich eine omnipotente Phantasie mit der Privatsprache ihrer Scheinerfahrungen, Scheinbegriffe und Scheinurteile als allwissende Metaphysik austobt. In seinen «Träumen eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik» rechnet Kant indirekt auch mit dem eigenen metaphysischen Grössenwahn ab: «Die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen kann» – diese Metaphysik wird nun zur «Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft». In der Spannung zwischen kritischer Grenzziehung und einer autonomen Welt- und Selbstsetzung, dergemäss das erkennende Ich seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern dieser vorschreibt, wird Kant seine drei Kritiken konzipieren, die zu den Grundbüchern der modernen Philosophie geworden sind. Wie aber kommt es zur Wendung vom «vorkritischen» zum «kritischen» Kant?

Für alle Biographen markiert das Jahr 1769 eine Gelenkstelle der Entwicklung, den Moment des kritischen Erwachens. «Das Jahr 69 gab mir grosses Licht.» Geier spricht von Kants «subjektivistischer Wende», die Anno 69 mit der Einsicht in die Subjektivität der Anschauungsformen Raum und Zeit begann. Doch dieses «grosse Licht» gibt weiterhin manches dunkle Rätsel auf. Mit der Erleuchtungsmetapher scheint Kant an exponiertester Stelle auf das pietistische Erweckungserlebnis anzuspielen, dessen Modell hier noch einmal durchscheint. In anderem Zusammenhang spricht er sogar von «einer Art Wiedergeburt». Aber wenn er damit zu den «zweimal Geborenen» zählt, so – wie Kühn pointiert – keineswegs im Sinn einer religiösen Konversion. Der Durchbruch bringt Kant dem «Gott in uns», fürs erste jedenfalls, nicht näher. Mit gnadenloser Präzision wird er vielmehr in der 1781 erscheinenden «Kritik der reinen Vernunft» – in den Kapiteln der «transzendentalen Dialektik», die ihm trotz seiner spröden Begriffssprache am meisten den Ruf des «Alleszermalmers» eingetragen haben – die Lieblingsglaubensartikel der Metaphysik über Welt, Seele, Freiheit, Gott in Frage stellen. Hier wird die Physiognomie des gänzlich unspektakulären, perückenbewehrten, gekrümmten Königsberger Professors tatsächlich zu der eines geistigen Revolutionärs.

Infragestellung des Ichs

Indes bleibt Kant selber von der Krise, in die er die angeblich «reine Vernunft» stürzt, am allerwenigsten unberührt. Zwei Jahre nach seinem «grossen Licht» sieht er sich nach der Lektüre von David Humes «A Treatise of Human Nature», dessen Schlusskapitel der Kant-Freund und -kritiker Johann Georg Hamann dem deutschen Publikum unter dem Titel «Nachtgedanken eines Zweiflers» nahe bringt, mehr denn je dem schwärzesten Zweifel ausgesetzt. Hume, der in Deutschland wie die englische Philosophie insgesamt sträflich unterschätzte grosse Hume, unterbricht Kants dogmatischen Schlummer. Und die zehn langen Jahre seines publizistischen Schweigens vor den grossen drei Kritiken beginnen. «Der schweigende Kant ist zu einer philosophiegeschichtlichen Person geworden.» Kant wird seine Sprache erst in dem Moment wiederfinden, wo er den einzig verbleibenden Weg zwischen dem Dogmatismus der metaphysischen Tradition und dem radikalisierten Skeptizismus Humes findet. «Der kritische Weg ist allein noch offen.» Kühns Biographie freilich sieht noch vor der Erkenntniskrise Kants eine wesentlichere moralische Wendung: Der «elegante Magister» Kant erfährt nicht nur den Ernst des Lebens als Ernst des Denkens – er beginnt, sich und sein Leben mit einer feierlichen «Angelobung, die er sich selbst tut», quasi systematisch nach «Maximen», charakterkonstituierenden Grundsätzen, zu gestalten.

«Die Tage des Strudels der gesellschaftlichen Zerstreuungen gingen zu Ende – nicht mit einem Mal, sondern langsam: Maxime für Maxime.» Der Primat liegt bei der Kritik der praktischen Vernunft. Doch es ist nur schlüssig, wenn zwischen «grossem Licht» und «Nachtgedanken» ein Rest von Rätsel bleibt. Geier zeigt nachdrücklich, wie Kant die von Hume, Rousseau und Lichtenberg vorangetriebene Selbstinfragestellung des Ichs zuspitzt, die der Betonung der Subjektivität auf dem Fusse folgt: «Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können.»

Die kritische Philosophie im ganzen ist von einer tiefreichenden Ambivalenz, ja, einer unaufgelösten Dialektik widerstreitender Impulse geprägt. Wenn der Kritiker der reinen Vernunft die «Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung» – die subjektiven Anschauungsformen Raum und Zeit, die Kategorien, die – o grauenvoller Begriff! – «synthetischen Urteile a priori» – so analysiert, dass der Verstand der Natur seine Gesetze vorschreibt, «konstruktivistisch» würde die heutige Erkenntnistheorie sagen, dann versperrt er der Erkenntnis eben dadurch den Weg «ins Innere der Natur», zum «Ding an sich». Was Kant dem Subjekt mit der einen Hand gibt, nimmt er ihm zugleich mit der anderen: ein schönes Geschenk. Die «Kritik der reinen Vernunft» meint nach Geier einen doppelten Genitiv, der die Kritik an der Vernunft und durch die Vernunft gleichermassen umfasst; Subjektzentrierung und -dezentrierung sind die konkurrierenden Impulse. Die einseitige, wenn nicht historisch irreführende Metapher, mit der Kant seine Philosophie als «kopernikanische Wende» interpretiert, geht, wie Geier nicht als Erster beobachtet, mit einer antikopernikanischen eine prekäre Verbindung ein. Erst der späte Kant mit seinem vieldiskutierten «opus postumum», rabiater dann der deutsche Idealismus, gipfelnd in Schopenhauers Handstreich, über den Leib ins «Innere der Natur» vorzudringen, wird den Konflikt zugunsten der «Selbstsetzung» lösen – freilich um den Preis der Illusion «konstitutiver Subjektivität». Sein Eigentlichstes aber schafft Kant in der «Kritik der praktischen Vernunft», in der «Grundlegung zur Metaphysik der Sitten» durch den «kategorischen Imperativ». Die Formeln lauten unterschiedlich, Struktur und Intention bleiben gleich: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.»

Von keinem Gott, keiner Kirche, keiner Obrigkeit, nur von seinem guten Willen kann das handelnde Ich das allgemeingültige Gesetz seines Handelns empfangen: «Alles, was, ausser dem guten Lebenswandel, der Mensch noch zu tun können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist blosser Religionswahn und Afterdienst Gottes.» Geier formuliert überscharf: «eine Moral ohne Gott». In der Tat aber eine antifundamentalistische Fundierung der Moral. Bedingte, hypothetische Imperative, die Furcht vor diesseitiger oder jenseitiger Strafe, die Hoffnung auf Lohn, alle berechnende Moral ist mit der sittlichen Autonomie unverträglich. Die reine praktische ist nie eine instrumentelle Vernunft. Kant packt das autonom handelnde Subjekt bei seinem höchsten Anspruch: dem an sich selbst.

Zugleich stellt er seine Freiheit unter ein mit der freien Selbstbestimmung aller anderen verträgliches Gesetz. Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung werden im Zeichen einer doppelten Freiheit zusammengedacht. Alle Fehldeutungen des kategorischen Imperativs als eines leeren Formalismus oder, auf der anderen Seite, als Kadavergehorsams und subalterner Moral verkennen seinen klaren doppelten Freiheitssinn. Unmissverständlicher wurde auch nie das Prinzip der Menschenwürde im klaren Gegensatz zu seinem «Preis» formuliert: «Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst.»

Auf der Basis dessen Freiheitsphilosophie porträtiert Geier gerade den alten Kant, der so abwegig auf den «Mann nach der Uhr» reduziert worden ist, mit schöner Sympathie. Während Kühns Biographie in diesen Kapiteln blass und blässer wird, läuft Geier hier zu vitalster Form auf. Er zeigt, wie der alte Kant, der Kant der kleinen Schriften, die leserfreundlicher als die grossen Kritiken sind und noch heute einen unmittelbaren Einstieg gestatten, die Auseinandersetzung mit der freiheitswidrigen, «fundamentalistischen» preussischen Orthodoxie sucht. Der kategorische geistige Imperativ seiner berühmt gewordenen «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» wird meistens nicht hinreichend deutlich akzentuiert: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen!»

Immer älter, immer radikaler

Wenn Kant unter der Woellnerschen Restauration mit ihrem Religions- und Zensuredikt nach einer königlichen Massregelung bis zum Tode Friedrich Wilhelms II. den Mund hält, dann nur, um ihn anschliessend wieder auf das Deutlichste zu öffnen und «von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen». Die Grenzen der Anpassung hat er ein für alle Mal fixiert: «Zwar denke ich vieles mit der allerkläresten Überzeugung und zu meiner grossen Zufriedenheit, was ich niemals den Mut haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen, was ich nicht denke.» Das wahrhaft Erstaunliche geschieht: «Je älter er wird, desto radikaler wird Kant.»

Von Anfang an steht er, der geistige Revolutionär, der Rousseau-Anhänger, auf Seiten der französischen, der «grossen» Revolution. Das ist für deren erste Jahre auch auf dem Gebiet des deutschen Geistes nicht untypisch. Aber selbst, als der Terror ihr Gesicht entstellt, desavouiert Kant ihre grossen Ideen nicht, auch wenn er selber das Widerstandsrecht der Bürger einschränkt. Geier pointiert mit Recht: «Nach dem ‹bestirnten Himmel über mir› und dem ‹moralischen Gesetz in mir› hat am Ende die ‹Revolution eines geistreichen Volks› zum dritten und letzten Mal Kants Gemüt mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt.» Der kategorische Imperativ, der den Menschen als Zweck setzt und ihm Würde zuspricht, ist mit jeder Form instrumenteller Herrschaftsvernunft unverträglich. In seiner Schrift «Zum Ewigen Frieden» stellt Kant die unauflösliche Verbindung zwischen republikanischer Verfassung und Friedensfähigkeit her.

Das tragisch-ironische Ende des grossen alten Kant will und kann freilich auch Geier nicht dementieren. Kant, der zu Recht stolz darauf ist, es in Übereinstimmung mit der «Makrobiotik», der «Langlebekunst» des Arztes Christoph Wilhelm Hufeland durch Selbstdisziplin zu einem langen, trotz der fatalen Mitgift seiner Skoliose von schwereren Erkrankungen freien Leben gebracht zu haben, leidet zunehmend unter Altersbeschwerden: «Es ist eine grosse Sünde, alt geworden zu seyn; dafür man aber auch ohne Verschonen mit dem Tode bestraft wird.» Sein in Senilität und Demenz endendes Leben wird für Geier zur unfreiwilligen Parodie auf die vermeintlich autonome Subjektivität: «Langsam fällt Kant in jenen Zustand zurück, aus dem er sich schon früh befreit hatte. Der Philosoph der Autonomie, der Selbsttätigkeit und gedanklichen Freiheit regrediert zum unmündigen Kind. Schon 1799 klagt er, obwohl mit scherzhaftem Ton, über seine Schwäche: ‹Meine Herren, ich bin alt und schwach, sie müssen mich wie ein Kind betrachten.› Er hasst die Unmündigkeit, in die er nun unverschuldet gerät. Als er sich nicht mehr in der Lage sieht, seinen Haushalt zu organisieren, notiert er sich zwischen seinen letzten philosophischen Überlegungen zur subjektiven Selbstsetzungstheorie: ‹ein Kopf – ein Pinsel. Ein Kopf ist der aus eigenen Kräften was vermag. Ein Pinsel der, dem ein Anderer die Hand führen muss.› Wie Beschwörungsformeln gegen diesen Rückfall klingen die zahlreichen Variationen, mit denen Kant seinen Wunsch nach Selbsttätigkeit ausdrückt: ‹Ich mache mich selbst.› ‹Wir machen alles selbst.› ‹Das Subject macht sich selbst.›» Wenn das verdächtige Genre «Letzter Worte» von Kant diese drei überliefert: «Es ist gut», so wird man das nicht als ein letztes Gelingen der «philosophischen Versuche in der Theodizee» deuten dürfen. Realistischer, kritischer, kantischer ist der Sinn vielmehr der, dass es genug war und er genug hatte.

Doch sein Leben hatte in der Tat das Prädikat «Es ist gut» verdient. Ausgerechnet Friedrich Nietzsche, der Verächter des «Königsberger Chinesen», des «Idioten» Kant, hat mit seiner Lehre von der «Ewigen Wiederkunft» die Formel für ein gutes Leben gegeben: «Lebe so, als ob du dein Leben immer wiederholen müsstest, Lebe so, dass du es immer wiederholen könntest» – so lautet sein kategorischer Imperativ im unbewussten Anschluss an Kant.

Manfred Geier, «Kants Welt. Eine Biographie». Rowohlt, Reinbek 2003.

Manfred Kühn, «Kant. Eine Biographie». Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, C. H. Beck, München 2003.

Steffen Dietzsch, «Immanuel Kant. Eine Biographie». Reclam Leipzig, Leipzig 2003.

Ludger Lütkehaus, geboren 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br.

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