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Begrenzung und Kapitalismus

Eine Replik auf Mario Vargas Llosas Essay «Kapitalismus und Moral»

Es ist alles klug formuliert, was Mario Vargas Llosa schreibt, wenn er die moralischen Grundlagen des Kapitalismus verteidigt. Aber es scheint mir aus einer Zeit herüberzuwehen, da solche Gedanken Bestätigung des eigenen Tuns waren. Darum die Frage: wen berühren sie heute noch? Vielleicht sagt der Verstand noch ja, aber das Herz bleibt stumm. Seine Wörter und ihre Inhalte haben sich aus den Menschenwesen ausgelagert. Ethische Prinzipien? Lachhaft. Wenn sich jemand daran hält, machen andere das Geschäft. Grenzen seines Tuns erkennen? Folgen für die Gemeinschaft abschätzen? Was soll das – mir geht nichts über mich! Gesetze? Spielregeln? Pah! Es gibt genug Lücken, genügend Gerissenheit, um sie auszunützen. Und Rüpelhaftigkeit führt auch im Rugby zum Erfolg. Solche und andere Gedanken fasst das aufgeblasene Ego, insofern es sich über solche Dinge überhaupt Gedanken macht.

Damit sind wir beim springenden Punkt, den Llosa unter Zitierung von Gates und Buffet erwähnt. Vorrangig für das Funktionieren des Kapitalismus ist nach Llosa die Ausgestaltung seiner moralischen und spirituellen Dimension. Wo wird diese umgesetzt? Man kann nicht so tun, als wäre ihre schriftliche und zumeist hochgemute Fassung auch schon die Verwirklichung im Alltag. Richtlinien sind nur so gut wie der Mensch, der sie befolgen soll. Das wirft die nicht ganz unerhebliche Frage auf, wie er denn beschaffen sei, dieser heutige Mensch?

Täglich kann man Antworten lesen und hören. Aber nichts Neues, nur platt Moralisierendes – Futter für die Medienindustrie. Nüchterner betrachtet: Mitte des 20. Jahrhunderts, mit dem Experiment «Summerhill» für eine freie d.h. grundsatzlose Erziehung, brach der Glaube an die Grenzenlosigkeit über die westliche Gesellschaft herein. Die 68er-Bewegung wirkte wie ein Brandbeschleuniger. In den 1990er-Jahren erhielt dieser Wahn seinen technischen Schub – IT, ein Quantensprung, von dem noch niemand weiss, wohin er uns führt. «Alles überall gleichzeitig und grenzenlos» hiess und heisst die heisse Formel. Sie traf auf die sich selber entwurzelnden Angehörigen der Massengesellschaft, in der jeder seine Chance wahrnehmen konnte. Und dies auch tat. Der Rausch der Grenzenlosigkeit paarte sich mit dem Rausch der absoluten persönlichen Freiheit. Nichts ist mehr gültig, alles erlaubt.

Die Selbstbestimmung ist beim einzelnen angelangt – vermeintlich, wie die Selbstfesselung an IT-Geräte zeigt: man glaubt, nicht mehr ohne sie leben zu können, legt sich selber an die Leine (online), weiss aber nicht, von wem. Die Einsicht, dass der Umgang damit – wie mit Geld – gelernt sein will, ist fern. Grenzenlosigkeit auch im Unwissen. Dieser Wahn ist Gift für den Kapitalismus beziehungsweise jenes System, das der Menschheit soviel Wohlstand und Kultur bescherte wie kein anderes zuvor.

Seine Pfeiler sind Freiheit, Ideen, Tatkraft, Eigentum. Die Ichsucht des durch keine Erziehung, keine Kirche, keinen Staat, keine Institution mehr gehinderten (begrenzten) Menschen hat diese Pfeiler angesägt: Und nun glaubt man, der Krisenhaftigkeit nur noch durch das Kollektiv Herr werden zu können. Das heisst Beschränkung der Freiheit, Ersticken der Ideen, Erlahmen der Tatkraft, Hochbesteuerung des selbsterworbenen Eigentums. Das sind nachvollziehbare, wenn auch grundfalsche Reaktionen auf das Verhalten jener Karrieristen, die auf die Kommandobrücke eines Konzerns, eines Staates, eines Schiffes gespült werden, gewiss wohlausgebildet und protegiert genug für das Vorankommen auf ihrem Weg, aber in menschlichen Dingen (moralisch, spirituell) völlig ungebildet. Die Zeche bezahlen stets die anderen: mit Steuergeldern des Bürgers und mit einer Gesetzesflut. Beides ist untauglich. Mit Steuermilliarden wirft man gutes Geld schlechtem nach, und mit Gesetzen fördert man die Illusion, die menschliche Natur in den Griff zu bekommen. Das aber kann nur der einzelne selber, jener einzelne eben, der sich seines Eingebettetseins, seiner Grenzen bewusst ist.

Was ich sagen will: die Diskussion muss weggeführt werden von wohlklingenden, abstrakten Wörtern in Essays, Vorträgen und Mitteilungen, sie muss ganz und gar auf den Menschen fokussiert werden und auf seine Beschaffenheit. Denn es ist offensichtlich: nicht Gesetze, Regeln, Konventionen und was alles von Körperschaften irgendwelcher Art ihren Mitgliedern vorgeschrieben werden, sind mehr gültig und schützen vor dem Menschen. Nur dieser selber kann es tun. Wer die Macht hat, hat auch die Verantwortung. Es sind einzelne und ihre ausufernde Einseitigkeit, die weder im Elternhaus noch nach Erreichen der sogenannten Mündigkeit sich jemals mit ihrer Doppelnatur auseinandergesetzt haben. Die nicht wissen, was Selbstkritik heisst. Die nie gelernt haben, mit sich und ihren Handlungen ins Gericht zu gehen. Für die Verantwortung eine Schlaufe im Knopfloch ist. Und die Frage nach Gut und Bös eine akademische.

Der Ausweg heute kann nur über den Verursacher all dieses Kalamitäten führen. C. G. Jung schreibt in seinen Erinnerungen: «Die grösste Begrenzung des Menschen ist das Selbst; es manifestiert sich im Erlebnis ‹ich bin nur das!› Nur das Bewusstsein meiner engsten Begrenzung im Selbst ist angeschlossen an die Unbegrenztheit des Unbewussten. In dieser Bewusstheit erfahre ich mich zugleich als begrenzt und ewig, als das Eine und das Andere. Indem ich mich einzigartig weiss in meiner persönlichen Kombination, d.h. letztlich begrenzt, habe ich die Möglichkeit, auch des Grenzenlosen bewusst zu werden. Aber nur dann.

In einer Epoche, die ausschliesslich auf Erweiterung des persönlichen Lebensraumes sowie Vermehrung des rationalen Wissens à tout prix gerichtet ist, ist es höchste Forderung, sich seiner Einzigartigkeit und Begrenzung bewusst zu sein. Einzigartigkeit und Begrenztheit sind Synonyme. Ohne sie gibt es keine Wahrnehmung des Unbegrenzten – und daher auch keine Bewusstwerdung – sondern bloss eine wahnartige Identität mit demselben, welche sich im Rausch der grossen Zahlen und der politischen Machtfülle äussert.»

Einzigartigkeit und Begrenztheit sind Synonyme. Läge nicht in diesem integralen Bewusstsein des einzelnen die gesunde Wurzel des Kapitalismus?  Ohne sie gibt es keine Bewusstwerdung, sondern bloss kollektiven Wahn.

Diese Einsichten in die menschliche Natur sind über die Jahrhunderte schon tausendfach niedergeschrieben worden. Wie gross muss der Druck auf den modernen Bürger werden, bis es zu einem «europäischen Frühling» der Vernunft kommen wird?                                                                                                                                     

Hanspeter Reichmuth ist Gründer der Delikatessenversand-Firma Reichmuth von Reding GmbH.

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