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Bald wärmer

Ein Kind kurz nach der Geburt zu verlieren und als Familie zurückzubleiben – wie überlebt man diese Katastrophe?

Bald wärmer

Ich betrete das Kinderspital durch eine automatische Schiebetür aus Glas. Draussen ein runder Vorplatz mit den geparkten Taxis und Rettungswagen. Drinnen ein riesiges Sofa in Form eines freundlichen Drachen. Zur rechten Seite der Empfang, zur linken die Glastür mit der Aufschrift Intensivstation A.

Öffne ich die Tür, befinde ich mich in einem tunnelartigen Schlauch ohne Tageslicht mit seitlich abgehenden Zimmern, dessen Türen geschlossen sind. Am Ende des Flurs eine Tafel mit dem Aufdruck Schockraum.

Bevor ich den Saal mit den Intensivpflegeplätzen betreten darf, muss ich läuten. Der Taster ist hinter der gläsernen Eingangstür angebracht, ganz am Anfang des gelben Ganges.

Ist die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, mache ich mich mit Hilfe der elektronischen Klingel bemerkbar und warte. Nach einer Weile öffnet sich am anderen Ende des Flurs die automatische Tür zum Zimmer mit den Patientenplätzen, eine Schwester streckt den Kopf heraus, erkennt mich und gibt mir das Zeichen, dass ich kommen darf.

Ein nicht enden wollender Korridor, bis ich den Raum, in dem Zoé liegt, erreicht habe. Es ist mir nicht möglich, einfach so zu meinem Kind zu gehen. Zuerst muss ich klingeln und hinter verschlossenen Türen warten.

Und es kann dauern, bis sich diese öffnen und ich eingelassen werde.

Es können Notfälle vorliegen.

Eine Intensivstation ist ein Ort, an dem Notfälle an der Tagesordnung sind.

Ich hätte nicht im Speisesaal frühstücken sollen, in einem Raum voller Mütter mit ihren Neugeborenen. Diese Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Kinder im Tuch vor dem Bauch getragen oder im mobilen Bett vor sich hingeschoben haben.

Dreimal habe ich auf der Wöchnerinnenstation gefrühstückt. Niemand hat mich nach dem Verbleib meines Kindes gefragt, jeder ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Wie konnte ich überhaupt essen?

Das Festhalten an Ritualen geschah ganz automatisch. Es ist mir auch nicht in den Sinn gekommen, nicht zu schlafen, um ständig bei meiner Tochter zu sein. Es muss instinktiv geschehen sein, als Schutz in einer schwierigen Situation.

Da sass ich im Frühstücksraum und strich mir ein Honigbrot.

Wie die Sauerstoffmasken im Flugzeug: Zuerst muss man sich selber eine überziehen, bevor man anderen hilft. Das leuchtete ein. Aber es befremdete und beschämte mich.

Im Kinderspital brachten sie uns in ein leeres Zimmer, wo wir allein waren, Zoé, Wim und ich. Wir waren in diesem Raum, damit sie sterben konnte. Das Beatmungsgerät würde abgestellt werden. Ich hielt sie in meinen Armen.

Wir sind zu zweit, als wir das Spital gegen zehn Uhr abends verlassen, und doch werden Wim und ich keinen Tag mehr ohne sie sein. Sie bleibt anwesend, indem sie uns verwandelt.

Es ist eine warme Sommernacht. Der Mond scheint und alles wirkt friedlich. Auch der geparkte Rettungswagen vor dem Haupteingang kann daran nichts ändern. Ich wundere mich, wie idyllisch die Welt wirken kann, trotz des Leides, das in ihr ist. Alles existiert gleichzeitig: das Schöne und das Traurige. Was trivial tönt, ist eigentlich unglaublich.

Warum stehen wir vor dem Haupteingang, obwohl unser Wagen in der Tiefgarage steht? Worum ging es da? Wollten wir an die frische Luft? Den Aufbruch hinauszögern?

Wir schieben das Ticket in die Säule der automatischen Schranke an der Ausfahrt und während wir im Auto darauf warten, dass sie sich öffnet, denke ich: Wie können wir ohne sie nach Hause gehen? Dann fahren wir aus der Tiefgarage.

Wim und ich essen die Gemüsesuppe, die seine Mutter am Morgen zubereitet hat. Im Verlaufe des Tages ist sie nach Chur zurückgekehrt, um uns am aussichtslosesten aller Abende in Ruhe zu lassen oder vielleicht auch nur, um sich selbst zu schützen.

Ein junger Arzt und zwei Pflegerinnen, die ich noch nie gesehen hatte (das Notfallteam aus dem Kinderspital, wie mir klar wurde), kamen mit einem Rollbett zu mir in den Gebärsaal, darin lag sie.

Das Erste, das ich an ihr bemerkte, war ihr lebhafter Blick. Sie lag auf dem Rücken und blickte zur Decke und nach links zu mir. Sie hatte die Augen weit geöffnet und sah mich so freundlich wie neugierig an.

Das war der erste Anblick, den ich von ihr hatte, während das Notfallteam ihr Bett aus durchsichtigem Plexiglas durch den Raum bis nahe an mein eigenes Bett schob, damit ich sie sehen konnte.

Dann drängte das Notfallteam zum Aufbruch.

Sie wurde im stabilen Zustand ins Kinderspital Zürich überführt.

Im stabilen Zustand war die einzige Information, die ich erhielt. Vielleicht erfuhr ich noch, dass sie auf die Intensivstation verlegt werden würde, ich habe keine Erinnerung daran. Ich wusste auch, dass sie reanimiert worden war, weil sie nicht geatmet hatte. (Ich hatte den Tubus nicht gesehen, ich hatte nur sie gesehen.) Aber ich erfuhr keine Details, weder darüber, was sie mit ihr gemacht hatten, nachdem sie aus dem Gebärsaal gebracht worden war, noch Prognosen für die Zukunft. Vermutlich, weil sich zu diesem Zeitpunkt noch keine Prognosen stellen liessen. Die Entwicklung der Situation schien noch in alle Richtungen offen.

Lag es am Adrenalin, das man ihr verabreicht hatte, dass sie hellwach um sich geblickt hatte? Ich glaube einmal gelesen zu haben, dass man bei Reanimation Adrenalin gibt. Ich könnte im Kinderspital nachfragen oder die Protokolle anfordern. Arztberichte, Pflegeprotokolle.

Auf den Fenstern ihrer Abteilung waren grosse Tierzeichnungen angebracht. Ich erinnere mich an Löwen. Aber auch wenn sie im ganzen Kinderspital darum bemüht sind, die Notfälle vergessen zu machen: auf der Intensivstation mit den vielen Geräten gelingt das nicht. Allein die Geräuschkulisse mit dem fortwährenden Piepsen der Maschinen ist unnatürlich. Beatmungsgerät. Alarmsignal. Das Gluckern in den Schläuchen.

An einem Tag lief eine CD von Simon & Garfunkel auf der Station. In der Nacht wird das Licht gedimmt, aber es brennt immer eine Deckenlampe in normaler Stärke über den Arbeitstischen des Pflegepersonals. Wie kann man in dieser Umgebung schlafen?

Zoé war zehn Tage alt, als die Ärzte es uns im gelben Zimmer eröffneten: Ihre Krankheit würde zum Tod führen, die Testresultate aus dem genetischen Institut der Universität Zürich waren eingetroffen. Die Diagnose lautete: SMA, Spinale Muskelatrophie, Typ 0.

Auf der Intensivstation gibt es ein Zimmer, das ganz in Gelb gehalten ist. Sogar die Milchpumpe in der Ecke ist gelb. Auch ich habe sie benutzt, zwölf Tage lang, danach nicht mehr. Ich habe in diesem Raum alle zwei Tage die Nachrichten der versammelten Ärztebelegschaft entgegengenommen. Leitender Arzt, Oberarzt, Neurologin, Pflegerinnen. Als sie uns die Ergebnisse aus dem genetischen Labor überbrachten, als sie uns mündlich eröffneten, dass es sich um eine unheilbare Krankheit handelt, fragte ich: «Kann ich das schriftlich haben?»

Statistisch gesehen ist das Risiko, sein Kind 7 bis 27 Tage nach der Geburt zu verlieren, bei Termingeburten in der Schweiz 1:5000. Ich stelle mir fünftausend Mütter in Reih und Glied im Eingangsbereich der Maternité vor. Eine davon steht um hundertachtzig Grad gedreht und blickt zum Ausgang.

Zoé starb im selben Zimmer, in dem sie drei Tage zuvor getauft worden war. Ein leerer Raum ohne Betten und piepsende Geräte und ohne permanente Überwachung vom Pflegepersonal. Es war ruhig in diesem Zimmer. Der Monitor über ihrem Bett wurde abgestellt. Ich wandte die Augen vom Bildschirm ab.

Eine Pflegerin half mir, Zoé aus ihrem Bett zu heben, was wegen den vielen Schläuchen nicht einfach war. Eine Infusion in der Halsgegend, die uns im Weg war, die sie schmerzte, wenn ich sie in meine Arme schliessen und an mich drücken wollte.

Es stand eine mit Wasser gefüllte Schale auf einem Tisch, darin drei rote Schwimmkerzen. Die Pflegerin zündete sie an. Es waren dieselben Kerzen, die zu ihrer Taufe gebrannt hatten und noch nicht ganz heruntergebrannt waren.

In regelmässigen Abständen und unabhängig voneinander kamen unsere Pflegerin und Oberärztin vorbei und wechselten ein paar Worte mit uns. Ich nenne sie unsere Pflegerin und unsere Ärztin, denn neben ihnen waren noch andere Pflegerinnen und Ärzte im Dienst, aber nicht nur für uns.

Gegen sieben verabreichte unsere Ärztin ihr Morphin, weil Wim und ich auf irgendeine Weise, an die ich mich nicht erinnere, gezeigt hatten, dass wir bereit waren.

Ich weiss nicht mehr, wie wir es gezeigt haben, aber ich weiss, dass Zoé den Eindruck auf mich machte, dass sie bereit war. Sie hielt ihre Augen fast nur noch geschlossen. Sie schien in kürzester Zeit sehr viel schwächer geworden zu sein.

Der Tubus wurde entfernt.

Nach einer Weile betrat die Oberärztin Frau W. das Zimmer und hörte Zoés Herz ab.

«Ein Schlag pro Minute», sagte sie.

«Lebt sie noch?», fragte ich.

Da war etwas, das mich antrieb:

Ich wollte wieder schwanger werden.

Nicht erst, nachdem unsere Tochter gestorben war.

Schon vorher.

Schon als wir im Spital erfahren hatten, dass sie sterben würde.

Schon als sie noch am Leben war.

Sofort hatte ich den Gedanken gehabt, wieder schwanger werden zu wollen, um – und das war das Bedenkliche – um sie zurückzubekommen.

Sie würde leben.

Natürlich würde sie leben.

Sie würde zu mir zurückkehren.

In einem gesunden Körper diesmal.

Sterben?

Als wäre es nicht mir passiert.

Nicht meiner Tochter.

Auch wenn mir nichts entging.

Ich ging zur chinesischen Ärztin.

Ich konnte mich mit Nadeln stechen lassen und einen entbehrungsreichen Lebensstil führen, der der Fruchtbarkeit zuträglich war.

Es gab etwas, das in meiner Macht lag.

Ich ging einkaufen.

Kleider, Kissen, Plüschtiere.

Alles in Rosa.

Alles für Zoé und für die Tochter, die zurückkehren würde.

«Lächle doch wieder einmal», sagte Wim.

Was gibt es da zu lächeln?, dachte ich.

Ich sagte ihr, dass alles gut war.

Ich formte meine Arme so, dass sie sich
hineinlegen konnte.

Im Friedhof Manegg gibt es eine grosse Kapelle, wo die Abdankungsfeiern abgehalten werden. Teil dieser erhöhten Kapelle ist eine steinerne Mauer, in der ein grosser Engel und darunter die Worte gemeisselt wurden: Sehet, er ist nicht hier, er ist auferstanden.

Ich versuchte den Satz zu ignorieren, wenn ich an ihm vorbeiging. Ich verstand ihn nicht.

Menschen, lese ich heute, sechs Jahre später, in einer Studie, können sich nach Trauerfällen nicht mehr konzentrieren. Sie verlieren kognitive Fähigkeiten auf allen Gebieten. Und das manchmal jahrelang. Damals fasste ich meinen Glauben an Reinkarnation, und dass Zoé noch immer bei mir war, als eine Erweiterung meiner kognitiven Fähigkeiten auf, nicht als Verminderung.

Ich war bei klarem Verstand, ich fühlte mich nicht verwirrt, als ich begann, an ihre Wiedergeburt zu glauben.

Wenn ich sie auf dem Friedhof besuchte, sagte ich beim Abschied laut und deutlich und mit echter Vorfreude: «Tschüss, bis bald. Wir sehen uns bald wieder.»

Ich ging zum Friedhof, als ob ich meine Tochter aus einer Theaterprobe abholen würde. Zu dieser Zeit ging ich oft zum Friedhof. Ich glaubte, bald wieder mit ihr schwanger zu werden. Glaubte ich auch, nach neun Monaten Schwangerschaft sie direkt vom Friedhof mit nach Hause zurückzubringen?

Tatsache ist, dass ich erstaunlich unerschüttert vor ihrem Grab stand. Ich ging gern zum Friedhof, denn es bedeutete für mich, bei ihr zu sein.

Der Flecken Erde mit den Blumen und dem Kreuz machte mir keine Angst. Es war nichts weiter als eine vorübergehende Unannehmlichkeit.

Man könnte meinen, der Tod sei ein Moment, an dem man sich nichts mehr vormachen kann, aber so ist es nicht. Die Fantasie eines Menschen ist sehr resistent.

Ich vermied es, gewisse Dinge nüchtern zu betrachten. Bis heute habe ich mir nie vorgestellt, wie ihr Körper nach dem Tod zerfällt. Ich sehe sie unversehrt vor mir. Mein Bild von ihr ist ein Foto. Das Foto, das lange am Kühlschrank hing.

Dreimal liess ich den Sarg öffnen. Die Bestattung war auf den Donnerstag angesetzt worden. Am Montag, Dienstag und Mittwoch davor ging ich zum Friedhof und bat die Frau von der Verwaltung, den Sarg zu öffnen, der nicht einmal die Hälfte der Aussparung für grosse Särge einnahm. Beim letzten Mal sagte sie nicht nur, es sei gut, ich könne gehen, sie fügte noch aufmunternd hinzu, dass meine Tochter sehr schön aussehe. «Manchmal werden die Lippen blau», sagte sie.

Nachdem ich am Montagmorgen zum ersten Mal ihre Wange gestreichelt hatte, berührte ich sie nicht mehr. Es war schwierig, mir einzureden, dass Zoé in einem gesunden Körper zurückkehren würde, wenn ich gleichzeitig ihre kalte Haut berührte.

Es gibt zwei Kindergrabfelder, die mit Hecken zu Kammern zusammengefasst sind. Beide sind sorgfältig in das nach Norden abfallende Gelände eingepasst. Seit Zoés Tod sind acht weitere Gräber hinzugekommen.

Erstaunlich wenige Eltern haben sich entschieden, einen Grabstein aufzustellen: vier von sechsundzwanzig. Alle anderen haben ein schlichtes, weisses Holzkreuz gewählt, ein konfessionsloses Paar, wie ich annehme, eine neutrale, weisse Tafel.

Die hölzernen Grabzeichen sind einheitlich gestaltet und tragen in schwarzen Pinselstrichen geschrieben den Vornamen, Namen, das Geburts- und Sterbedatum des Kindes. Bei einigen Kreuzen steht ein einziges Datum.

Die hölzernen Grabmäler sind vergänglich. Jeder Witterung ausgesetzt, erhalten sie mit der Zeit dunkle Verfärbungen und ihr weisser Anstrich blättert an den Kanten ab. Auf Zoés Nachbargrab lag eines Morgens das Holzkreuz umgekippt auf der Erde. Vernachlässigte Gräber, wie dasjenige von Jasmin, werden durch die Stadt instand gestellt. Verwitterte oder beschädigte Holzkreuze werden ersetzt. Hie und da zünde ich für Jasmin eine Kerze an.

Wenn ich vor dem Kindergrabfeld und den vielen Holzkreuzen stehe, komme ich manchmal nicht umhin zu denken, dass diese einfachen und vergänglichen Kreuze für die Hoffnung der Eltern stehen, der Tod ihres Kindes könnte provisorisch und nicht definitiv sein. Bei den Erwachsenen werden die anfänglichen, braunen Holzkreuze fast ausnahmslos im Verlauf des ersten
Jahres durch einen massiven Grabstein oder eine Marmorplatte ersetzt, in die die Namen eingraviert sind.

Der Verlust meiner Tochter hat meine Person nicht definiert, ich grenze mich auch nicht durch ihn ab. Nicht wie Fiona, die ihr Mädchen verloren hat, als es fünf Wochen alt war, und die sagt: «Nach allem, was ich erlebt habe, brauche ich mir das nicht mehr anzuhören oder mitzumachen.»

Diese Selbstsicherheit fehlt mir. Der Tod meines Kindes hat mich im Gegenteil noch durchlässiger gemacht.

Eine SMS-Unterhaltung, die ich vor fünf Jahren mit Fiona geführt habe, hat sich in mein Gedächtnis geprägt:

Die Sonne soll bald wärmer werden, schrieb sie. Wie geht es dir? 

Heute ist der längste Tag, antwortete ich, es geht mir gut. 

Ich gehe jetzt schlafen nach einem traurigen Tag, sagte sie.

Wir sitzen im Garten auf weissen Stühlen und schauen der Sonne zu, antwortete ich.

Zwischen zwei Blicken in den Himmel sah ich auf mein Telefon.

Keine Nachricht. Auch mir fiel nichts mehr ein, das in Worte gefasst werden konnte.

Ich stand von meinem weissen Stuhl auf und ging zum Friedhof und goss für beide.

Die Genveränderung der SMA ist auf Chromosom 5 gelagert. Jeder Vierzigste ist Träger von SMA. Als Träger ist man gesund, weil man neben einer veränderten Anlage über eine normale Anlage verfügt, die den Fehler der ungünstigen überdeckt.

Es folgt eine Kalkulation:

Kommen zwei Träger zusammen (Risiko 1:1600), können bei Nachkommen die normale und die veränderte Anlage in beliebiger Kombination auftreten, ohne dass man dies beeinflussen könnte. Die Krankheit kommt nur dann zum Vorschein, wenn ein Kind von beiden Eltern das veränderte Gen erhalten hat (Risiko 1:4).

Gibt ein Elternteil bei der Zeugung seine gesunde Anlage mit, ist das Kind gesunder Träger wie seine Eltern (Chance 1:2), geben beide ihre gesunde Anlage weiter, ist das Kind überhaupt nicht von der Krankheit betroffen (Chance 1:4).

Dass unsere Tochter gestorben ist, entspricht also statistisch gesehen einem
Risiko von 1:1600 (Paar) multipliziert mit 1:4 (Vererbung), das macht 1:6400.

«Sie sind kein Nullachtfünfzehn-Paar», meinte Psychiater S., nachdem er das errechnet hatte. Es war als Trost gemeint, aber es tröstete nicht.

Heute habe ich zum ersten Mal mitgerechnet, sechs Jahre danach. Das Resultat tröstet noch immer nicht.

Zoés Grab wird zweimal jährlich von einem Floristen bestellt, Herrn G., bei dem Wim und ich seit Jahren unsere Blumen kaufen.

Im Winter lassen wir Zoés Grab mit Moos bestecken. Die Sommerbepflanzung besteht aus einer Blumendecke, die jährlich variiert.

An Herrn G.s Anrufen lese ich ab, wie schnell die Zeit vergeht. Es gibt zwei Termine, die er bei der Pflege des Grabes berücksichtigt: Allerheiligen im November und die Eisheiligen im Frühling. Kurz vor Allerheiligen bereitet er das Winterkleid zu. Unmittelbar nach den Eisheiligen, und nicht vorher, damit die jungen Setzlinge nicht frieren, stellt er die Sommerversion des Grabes her.

Im ersten Sommer pflanzte Herr G. Zyklamen in Rosa und Weiss. Ein ganzes Meer davon. Jedes Mal, wenn Wim und ich zum Grab kamen, waren einzelne von ihnen abgestorben. Wim bestellte telefonisch neue, holte sie in einer Kartonkiste bei Herrn G. ab und pflanzte sie an die Stelle der verblühten ein. Nach wenigen Tagen musste er wieder neue bestellen, diesmal kaufte er gleich ganz viele ein.

Im Winter 2008 das erste Moosbeet. Ein Patchwork aus verschiedenen Grüntönen. Das Moos kam aus Polen, wie Herr G. mitteilte. Es war schön anzusehen und weich anzufassen. Aber dann kamen die Raben. Sie pickten einzelne Moosballen heraus, die zerhackt und zerstreut auf dem Grab und den Steinplatten lagen, wenn Wim und ich zum Friedhof kamen.

Auch in diesem Fall hat Wim neue Pflanzen bei Herrn G. bestellt. Hat versucht, das herausgerissene Moos wieder festzustecken.

Irgendwann, vielleicht war es im Winter 2010 oder ʼ11, begann ich damit, das Moos mit grossen Ahornblättern abzudecken und diese mit Steinen zu beschweren, damit Wim sich nicht verrückt machte. Die Ahornblätter fand ich im Friedhof auf dem Boden, die Steine ebenso.

Mittlerweile werden auch vier andere Grabstätten von Herrn G. mit Moos besteckt.

Und mit den Raben haben wir gelernt zu leben. Alle müssen mit Raben leben.

Ich bekam zwei Söhne.

Die Kinder bringen Leben ins Haus. Auch Zoé bringt Leben ins Haus, wenn auch auf andere Art und Weise. Wir ziehen unsere Jacken und Schuhe an, packen Kerzen und Zündhölzer ein und gehen zu ihrem Grab. Dort giessen wir die Blumen und pusten in die Windräder, bis sie sich drehen.

Die Jungs spielen mit dem Gartenwasserhahn und der Giesskanne, produzieren Überschwemmungen oder brechen mit einer Hacke, die immer hinter demselben Grabstein lehnt, die oberste Erdschicht des Rosenbeetes auf, das neben dem Kindergrabfeld liegt.

Plötzlich habe ich Kinder, die auf dem Friedhof Überschwemmungen produzieren. Sie fluten die Trittplatten. Sie lachen.

Als Joachim sieben Monate alt war, fiel er vom Elternbett auf den Boden. Wim hatte ihn, als wir vom Einkaufen nach Hause zurückgekehrt waren, hingelegt, um nur schnell seine Jacke aufzuhängen.

In derselben Nacht übergab sich Joachim.

Wir sind mit ihm auf die Notfallstation des Kinderspitals aus Angst, er könnte sich eine Gehirnerschütterung zugezogen haben.

Sie sahen ihn sich an, machten zwei Röntgenaufnahmen und entschieden, ihn für zweiundsiebzig Stunden zur Beobachtung auf die Chirurgieabteilung im vierten Stock einzuweisen. Auf einem der Röntgenbilder war ein haarfeiner Strich zu sehen gewesen, von dem nicht klar war, ob es sich um eine minimale Fraktur oder um eine schlechte Bildauflösung handelte.

Ich blieb bei Joachim. Wir schliefen im selben Zimmer.

Alle drei Stunden wurde er auf seine Reaktionen überprüft. Das Personal bemerkte jedes Mal, wie lieb er sei.

Da war ich wieder in diesem Spital. Aber auf einer anderen Abteilung und mit einem Kind, das lebend herauskommen würde.

Was mich am meisten an die Zeit mit Zoé erinnerte, war der Geruch des Handdesinfektionsmittels, das in jeder Toilette und in jedem Zimmer angebracht ist und welches das Personal jedes Mal, wenn es einen Raum betritt, benutzt.

Und mit den Raben haben wir gelernt zu leben. Alle müssen mit Raben leben.

Tagsüber ging ich während der langen Stunden des Wartens mit meinem Sohn im Arm den Gang unserer Station auf und ab, wo Türen und Fenster offen standen, wo rote Alarmknöpfe an den Wänden fehlten, wo nie jemand rannte, und zum ersten Mal begriff ich den Gedanken hinter den Tierbildern, die in den Korridoren angebracht worden waren: Sie lenken die Kinder ab. Mein Sohn starrte jedes einzelne an, während ich ihn darauf aufmerksam machte und davor stehen blieb.

Bei jedem Bild verstrichen wertvolle Minuten, die ich hinter mich gebracht hatte.

Während ich zwei Jahre zuvor mit den Tierbildern nichts anzufangen gewusst hatte, verstand ich auf einmal ihren Zweck. Nie hatte ich auf der Intensivstation Eltern mit Kindern beobachtet, die ein Bild betrachteten. Die Kinder lagen in ihren Betten. Nur die Erwachsenen blickten hilflos auf die Giraffen, Tiger und Affenbabys an den Wänden.

Ich erinnere mich, an Zoés Kleidungsstücken gerochen zu haben, die wir zusammen mit ihren Plüschtieren aus dem Kinderspital mit nach Hause gebracht hatten. Nach einem kurzen Zögern steckte ich sie in die Waschmaschine, leerte Waschmittel in das dafür vorgesehene Fach und stellte die Maschine an.

Ich erinnere mich auch an ein Kleid, das ich trug. Am ersten Tag, an dem ich Zoé im Spital besuchte, sowie am Tag, an dem sie starb. Auf entsprechend vielen Fotos ist es festgehalten.

Es war ein olivefarbenes, ärmelloses Jersey­kleid. Einige Monate später habe ich es in einen Altkleidersack gelegt und diesen in den dafür vorgesehenen Container geworfen.

Ich machte mir keine Sorgen, Erinnerungen an meine Tochter verlieren zu können, ich hatte nie das Gefühl, aus diesem Grund Erinnerungsstücke aufbewahren zu müssen.

Es war alles in mir drin.

Es war in Sicherheit.

Es würde nicht verloren gehen.

 

Illustrationen: Silvan Borer

 

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