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Ayurvedakräuter sind das neue Weihwasser
Beat Kappeler, fotografiert von Daniel Jung.

Ayurvedakräuter sind das neue Weihwasser

Wer als Katholik in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufwuchs, erlebte die letzten Regungen des Mittelalters – mit erfreulichen, aber auch bedrückenden Seiten. Heute füllen andere Glaubensinhalte das Bedürfnis nach religiöser Zugehörigkeit.

Die katholische Welt meiner Jugend hat sich aufgelöst. Vor sechzig Jahren noch führte sie eine berauschende Liturgie mit Weihrauch, Hochamt, hatte eigene Klosterschulen, Zeitungen, Verlage, eigene Parteien, Universitäten; das ganze Leben war aufgehoben in den Vereinen für Mütter, Jugendliche, Gesellen, Arbeiter, Dritten Orden, Bruderschaften. Es gab die Ansätze eigener Gerichtsbarkeit (Codex Iuris) in der Ehe, Vorschriften gegen den Besuch protestantischer Religionsstunden und zum Ausschluss von Sakramenten, einen Index verbotener Bücher und eigene Steuern.

Vergangene Tage der Sittlichkeit

Die augenfälligste Selbstdefinition des Katholizismus war die Liturgie. Als Ministrant sah man in der Sakristei, wie die Zelebranten (Priester) das Chorhemd überwarfen, das Zingulum (Gürtel) umschnürten, die Stola (geschmückter Stoffstreifen) küssten, dann Manipel (Tuch am Unterarm) und Stola umhingen, die Casula (Messgewand) und das Pluviale (Chormantel) zum Segen mit der Monstranz (Schaugerät) überzogen. Die Referenzen zum alten Rom waren offenkundig, auch im Zeremoniell – höfische Verbeugungen zur Altarmitte, der Ministrant vor dem Zele­branten, der niedrigere Zelebrant vor dem höheren. Goldgewirkte Gewänder, Kerzenträger zum würdig-gemessenen Einzug und Auszug waren fürs Auge, die Klänge des Kirchenchors mit Choral oder Mozartmessen fürs Ohr, Weihrauch für die Nase und versprengtes Weihwasser für alle Sinne.

Das Latein beherrschte die Messe im Chor, das Kirchenvolk im Schiff sang Lieder, meist aus der gefälligen Barockzeit, die Frauen knieten links, die Männer rechts in allen Kirchen des Erdkreises, Familien also getrennt. Alle Frauen bedeckten sich mit Hut oder Kopftuch, manche Frauen trugen vor den Augen ein kokettes Schleierchen mit Tupfern: weniger Stoff als im Islam, aber der Grundsatz galt. Alle drei monotheistischen Religionen trennten Frauen und Männer im Gottesdienst. Die Sitten des eigentlich kleinen Erdenwinkels im Vorderen Orient dominierten über fast zwei Jahrtausende eine weite Welt.

Die katholischen Gläubigen waren sich in dieser spätmittelalterlichen Raum-Zeit-Blase des Heils gewiss, wenn sie nur den Glauben bewahrten und die Formen der Kirche befolgten. Dazu gehörten der sonntägliche Kirchenbesuch, die mindestens jährliche Beichte und Kommunion «zur österlichen Zeit», die formelle Ehe, die Taufe, die Firmung und die «letzte Ölung». Die Formen waren wichtig. Damit eine Beichte gültig war, mussten die Sünden persönlich im Beichtstuhl bekannt und bereut werden, bevor die Absolution erteilt wurde – und auch die auferlegte Busse musste abgeleistet werden. Ein eigentliches Sündenregister gab der Beichtspiegel im Gebetsbuch vor, und als Kriterium schwerer Sünde galten die drei Ws: wichtige Sache, das Wissen darum und der Wille dazu – innerliche Form und Kasuistik wie im Gericht. Daraus folgten die bedrückenderen Seiten dieser katholischen Welt, die Angst vor der Hölle, das Bewusstsein, jederzeit in Sünde fallen zu können. Denn eng waren die lebensweltlichen Vorschriften der Sittenlehre, die übrigens alle drei monotheistischen Religionen in Varianten aufsetzen – klare Vorschriften zur Familie, zur Sexualität, im Essen, bezüglich des Körpers und der Kleidung, in den Ritualen.

Der verbotenen Frucht verfallen

Die Fixierung auf die Sexualität entfremdet seit 1968 viele Jugendliche von der Kirche; sie wählen die Natur, den Sexus, lehnen die Sittenlehre ab. Daneben rivalisieren mit der Religion natürlich auch die Konsumwelt, die Naturwissenschaften, die Laizität, sie «entzaubern die Welt» (Max Weber). Entzaubert wurde zuvor, im Konzil von 1962 bis 1965, bereits viel schöne Volksfrömmigkeit, die nicht zum Heilsweg gehörte. Im Kult der Heiligen konnten die Gläubigen sich früher ihre Vorbilder, Helfer auslesen – Rita als Nothelferin, Antonius für Verlorenes, Ignatius als Kämpfer, Aloisius für die Keuschheit, Maria als Urmutter alles Guten. Ablässe vom Fegefeuer konnte man gewinnen, für sich oder andere, mit Gebeten, Wallfahrten, Messestiftungen für die Toten, mit dem Besuch privilegierter Basiliken. Noch heute rutschen in Rom «nicht entzauberte Gläubige» aus südlichen und östlichen Ländern über die Schwelle der Lateranbasilika, alle 25 Jahre in einem Heiligen Jahr. Nach dem Konzil fielen auch die Liturgie und die Barocklieder weg, seltsame neue Tonarten und Texte wurden vorgesetzt – und kaum jemand singt mehr.

Die theologische Selbstdefinition der römischen Kirche baute auf der stolzen Reihe der Konzilien seit Konstantin, im Lateran und jenem in Trient, das die Gegenreformation anstiess. Sie gipfelte im Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes 1870 und in der ihn verkörpernden Autoritätsfigur Pius XII. unserer Jugend. Die Kirche war – im Norden Europas besonders – seither «ecclesia militans», eine kämpfende Kirche, gefestigt gegenüber Abweichungen, und gerne offensiv. Als überzeugter Jugendlicher hatte man Kreuzzüge, Türkenkriege, Märtyrer wie Tarcisius vor Augen, der sich lieber totprügeln liess, als die Eucharistie preiszugeben. Man wäre auf Befehl hin ebenso in den Kampf losgezogen – fast wie heute extrem militante Kämpfer im Islam oder linksanarchistische Demonstranten. Es gab und es gibt eine Art Glaubenswut der Jungen, im Verbund mit ihrer Tatbereitschaft und der Legitimation durch alte Texte wie der Bibel, des Korans, der Schriften von Marx.

Die katholische Seite in der Schweiz litt immer noch ausdrücklich unter der Niederlage im Zweiten Villmergerkrieg im Jahr 1712 und unter der wirtschaftlichen Stärke der Protestanten. Das galt es aufzuholen. Noch Ende der Fünfzigerjahre trauerten die Katholiken über den Verlust des Habsburgerreiches, eines Walls Roms im Norden, damals vor erst einer Generation zerfallen.

Die Kirche pflegte den intellektuellen Nachwuchs in eigenen Kollegien. Sie waren Eliteschulen mit guten Stoffen, strikter Disziplin, aber ohne horrende Kosten, denn die Patres, die hilfeleistenden Diener, die Brüder und Nonnen, erhielten keinen Lohn. Hier kam der Nachwuchs, oft über Generationen, der Familien her – für die Kirche, für die Partei, als bekennende Laien. Die Absolventen bekamen eine Ahnung von philosophischer Stringenz, von der Geistesgeschichte der Antike und des neuzeitlichen Europas. Der damalige Katholik sah seine Religion, seine Kirche auch im unermesslichen Schatz der Kunstdenkmäler verkörpert, bestätigt. Die etwas weinerlichen Rückblicke ehemaliger Kollegi-Schüler, gar als renommierte Schriftsteller, verkennen den Schlüssel zur Welt, den diese vermeintliche Enge bot.

Glaubenszweifel, etwa durch naturwissenschaftliche Tatsachen, versuchten Kirchenlehrer und Beichtväter selbstreferentiell zu bekämpfen: Es gehe eben nicht um Wissen, sondern um Glauben. Das war immer noch besser, als halbwissenschaftliche Umdeutungen von Glaubenssätzen nachzureichen.

Neue Wege zum Seelenheil

Die Stärke der katholischen Kirche sind ihre nur drei, aber klaren und in allem zuständigen Leitungsebenen – Priester, Bischof, Papst. Auch ist sie heute universaler denn je – ausserhalb Europas. Doch die fundamentalen Debatten aus Konzilien, über Dogmen entfallen heute, sind entzaubert. Die Enzyklika «Laudato si» des Franziskus liest sich über viele Seiten hinweg wie das Parteiprogramm der Grünen.

Steht man heute vor einem Anschlagbrett an einer Bushaltestelle oder im Supermarkt, bieten sich andere Heilswege an. Richtiges Atmen oder Essen, indische Kräuter der Ayurveda scheinen schon Lebensziel zu sein. Körperpflege, Gesundheit, ökologische Nahrung, neue gymnastische Übungen oder Kampfsportarten bedienen nicht mehr die Sorge um Welt und Heilsweg, sondern eher die «culture of narcissism» (Christopher Lasch, 1979), die Sorge ums Ich. Nicht nur Kirchen, auch andere gesellschaftliche Bande lösen sich auf – «bowling alone» übertitelte Robert D. Putnam 1995 seine Diagnose des schwindenden «sozialen Kapitals» in den USA. Aus dem geschichtlichen Nirvana tauchen nach 2000 Jahren Magien der Maya, der Kelten, der Druiden auf, beworben am Anschlagbrett der Busstation. Hier fehlen massgebende Texte, sie wurden erfunden von selbsternannten Gurus. Da mag man die verdrängte Systematik der Kirche vermissen, mit Rührung und Distanz. Rührung noch im Erinnern an die katholische Mittelstandsfamilie in den 1950er-Jahren am Samstagabend – wohlig mit sich, der Welt, der Kirche im Reinen: Auto gewaschen, gebeichtet, gebadet, Aufschnitt zum Abendessen und den ganzen heiligen Sonntag vor sich.

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