
Ayurvedakräuter sind das neue Weihwasser
Wer als Katholik in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufwuchs, erlebte die letzten Regungen des Mittelalters – mit erfreulichen, aber auch bedrückenden Seiten. Heute füllen andere Glaubensinhalte das Bedürfnis nach religiöser Zugehörigkeit.
Die katholische Welt meiner Jugend hat sich aufgelöst. Vor sechzig Jahren noch führte sie eine berauschende Liturgie mit Weihrauch, Hochamt, hatte eigene Klosterschulen, Zeitungen, Verlage, eigene Parteien, Universitäten; das ganze Leben war aufgehoben in den Vereinen für Mütter, Jugendliche, Gesellen, Arbeiter, Dritten Orden, Bruderschaften. Es gab die Ansätze eigener Gerichtsbarkeit (Codex Iuris) in der Ehe, Vorschriften gegen den Besuch protestantischer Religionsstunden und zum Ausschluss von Sakramenten, einen Index verbotener Bücher und eigene Steuern.
Vergangene Tage der Sittlichkeit
Die augenfälligste Selbstdefinition des Katholizismus war die Liturgie. Als Ministrant sah man in der Sakristei, wie die Zelebranten (Priester) das Chorhemd überwarfen, das Zingulum (Gürtel) umschnürten, die Stola (geschmückter Stoffstreifen) küssten, dann Manipel (Tuch am Unterarm) und Stola umhingen, die Casula (Messgewand) und das Pluviale (Chormantel) zum Segen mit der Monstranz (Schaugerät) überzogen. Die Referenzen zum alten Rom waren offenkundig, auch im Zeremoniell – höfische Verbeugungen zur Altarmitte, der Ministrant vor dem Zelebranten, der niedrigere Zelebrant vor dem höheren. Goldgewirkte Gewänder, Kerzenträger zum würdig-gemessenen Einzug und Auszug waren fürs Auge, die Klänge des Kirchenchors mit Choral oder Mozartmessen fürs Ohr, Weihrauch für die Nase und versprengtes Weihwasser für alle Sinne.
Das Latein beherrschte die Messe im Chor, das Kirchenvolk im Schiff sang Lieder, meist aus der gefälligen Barockzeit, die Frauen knieten links, die Männer rechts in allen Kirchen des Erdkreises, Familien also getrennt. Alle Frauen bedeckten sich mit Hut oder Kopftuch, manche Frauen trugen vor den Augen ein kokettes Schleierchen mit Tupfern: weniger Stoff als im Islam, aber der Grundsatz galt. Alle drei monotheistischen Religionen trennten Frauen und Männer im Gottesdienst. Die Sitten des eigentlich kleinen Erdenwinkels im Vorderen Orient dominierten über fast zwei Jahrtausende eine weite Welt.
Die katholischen Gläubigen waren sich in dieser spätmittelalterlichen Raum-Zeit-Blase des Heils gewiss, wenn sie nur den Glauben bewahrten und die Formen der Kirche befolgten. Dazu gehörten der sonntägliche Kirchenbesuch, die mindestens jährliche Beichte und Kommunion «zur österlichen Zeit», die formelle Ehe, die Taufe, die Firmung und die «letzte Ölung». Die Formen waren wichtig. Damit eine Beichte gültig war, mussten die Sünden persönlich im Beichtstuhl bekannt und bereut werden, bevor die Absolution erteilt wurde – und auch die auferlegte Busse musste abgeleistet werden. Ein eigentliches Sündenregister gab der Beichtspiegel im Gebetsbuch vor, und als Kriterium schwerer Sünde galten die drei Ws: wichtige Sache, das Wissen darum und der Wille dazu – innerliche Form und Kasuistik wie im Gericht. Daraus folgten die bedrückenderen Seiten dieser katholischen Welt, die Angst vor der Hölle, das Bewusstsein, jederzeit in Sünde fallen zu können. Denn eng waren die lebensweltlichen Vorschriften der Sittenlehre, die übrigens alle drei monotheistischen Religionen in Varianten aufsetzen – klare Vorschriften zur Familie, zur Sexualität, im Essen, bezüglich des Körpers und der Kleidung, in den Ritualen.
Der verbotenen Frucht verfallen
Die Fixierung auf die Sexualität entfremdet seit 1968 viele Jugendliche von der Kirche; sie wählen die Natur, den Sexus, lehnen die Sittenlehre ab. Daneben rivalisieren mit der Religion natürlich auch die Konsumwelt, die Naturwissenschaften, die Laizität, sie «entzaubern die Welt» (Max Weber). Entzaubert wurde zuvor, im Konzil von 1962 bis 1965, bereits viel schöne Volksfrömmigkeit, die nicht zum Heilsweg gehörte. Im Kult der Heiligen konnten die Gläubigen sich früher ihre Vorbilder, Helfer auslesen – Rita als Nothelferin, Antonius für Verlorenes, Ignatius als Kämpfer, Aloisius für die Keuschheit, Maria als Urmutter alles Guten. Ablässe vom Fegefeuer konnte man gewinnen, für sich oder andere, mit Gebeten, Wallfahrten, Messestiftungen für die Toten, mit dem Besuch privilegierter Basiliken. Noch heute rutschen in Rom «nicht entzauberte Gläubige» aus südlichen und östlichen Ländern über die Schwelle der Lateranbasilika, alle 25 Jahre in einem Heiligen Jahr. Nach dem Konzil fielen auch die Liturgie und…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1105 – April 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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