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Avantgarde am Flüelapass

Grażyna Kulczyk hat eines der wichtigsten Privatmuseen der Schweiz neu gegründet. Das Muzeum Susch zeigt Kunst unaufgeregt und unaufdringlich.

Avantgarde am Flüelapass
Mirosław Bałka, Narcissussusch (2018). Bild: Studio Stefano Graziani, Muzeum Susch, Art Stations Foundation CH.

Eine der besonderen kulturellen Annehmlichkeiten der Schweiz besteht darin, dass es bis zum nächsten Kunstmuseum nie sonderlich weit ist. Die geografische Dichte an Kulturinstitutionen, in denen herausragende Werke der letzten Jahrhunderte bestaunt werden dürfen, ist enorm; kaum ein europäisches Land dürfte hier mithalten können. Wer Zeichnungen aus der frühen Neuzeit oder Gemälde der klassischen Moderne sehen möchte, wird in der Eidgenossenschaft genauso schnell fündig und erstklassig bedient wie derjenige, der es jünger und flippiger mag. Das gilt auch für den spezialisierten Geschmack, ob dieser nun an einem spezifischen Genre hängt, bestimmte Regionen beziehungsweise unkonventionelle Ausstellungsräume bevorzugt oder aber schlichtweg Freude empfindet, wenn sich etwas Neues auftut: Für alle findet sich etwas, und zumeist sind die jeweiligen Einrichtungen auch noch bestens mit dem öV zu erreichen.

Dass die hiesige Museumslandschaft mit einer solchen Vielfalt aufwartet, liegt zu einem guten Teil an privat geführten Kunstinstitutionen, stellen diese doch aufgrund der persönlichen Note ihres Inhabers oder ihrer Stifterin sicher, dass Ideen auch unabhängig von staatlich definierten Linien und kulturbetrieblichen Trends zirkulieren können, so dass Variation und Offenheit gerade dort gewährleistet bleiben, wo sie unbedingt notwendig sind. Dieser Aspekt wird angesichts der Gleichförmigkeit breiter Teile der kulturellen Öffentlichkeit immer wichtiger, zumal damit eine monothematische Politisierung der Kunst einhergeht. Hinzu kommt, dass nicht wenige dieser privaten Einrichtungen ihre Gemeinde rasch erheblich aufwerten, indem sie diese überregional attraktiv machen.

Feminismus als Motor

Unter all diesen privaten Kunstinstitutionen, von denen fast jede eine eigene Würdigung verdienen dürfte, ragt das Muzeum Susch nochmals als Besonderheit hervor. Das gilt nicht nur für das Unterengadin, das es seit seiner Eröffnung 2019 kulturell erheblich bereichert, sondern auch für die gesamte Schweiz. Denn das Programm des Hauses ist dezidiert feministisch, was keinesfalls selbstverständlich ist in einer Zeit, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter zwar im juristischen Sinne real ist, Frauen jedoch von vermeintlich «Progressiven» und von neuen Reaktionären abermals auf umkämpftes gesellschaftliches Terrain gezerrt werden. Zudem werden Maler­innen des 19. und 20. Jahrhunderts häufig noch immer über ihr vermeintliches «Schicksal» definiert – an Künstlerinnenbiografien interessiert viele weniger das Können als das Leiden; die Degradierung von Frida Kahlo zu einer schmerzgeplagten und gedemütigten Malerin, deren Gemälde am populärsten auf Postkarten daherkommen sollen, legt beredtes Zeugnis ab von dieser Tendenz.

Von auswärts kommend präsentiert sich das Privatmuseum, das gleich an der Susasca gelegen ist, unauffällig. Weder der einfache Parkplatz, der direkt an der Strasse liegt, die durch das Dorf führt, noch die zugehörigen Gebäude lassen von aussen erahnen, um welchen Schatz es sich hier handelt. Die Zurückhaltung, die nach aussen hin ausgestrahlt wird, drückt lediglich die Ernsthaftigkeit des Interesses an der Kunst aus, das an diesem Ort alles ist.

Das hat wesentlich mit seiner Gründerin zu tun: Die Unternehmerin und Sammlerin Grażyna Kulczyk, Jahrgang 1950, hatte sich bereits in ihrer Heimat Polen mit der Förderung von Kunst hervorgetan, bevor sie in die Schweiz kam. Zufällig entdeckte sie in Susch, das am einstigen Pilgerweg nach Rom und Santiago de Compostela liegt, eine ehemalige Brauerei aus dem vorletzten Jahrhundert, die wiederum in Klostergebäuden aus dem 12. Jahrhundert untergekommen gewesen war. Sie erwarb das Gelände und unternahm in Zusammenarbeit mit den Architekten Chas­per Schmidlin und Lukas Voellmy eine solch gründliche und den Denkmalschutz dennoch respektierende Renovation, dass das Muzeum (stets in der pol­nischen Variante mit «z» geschrieben) heute bereits aus architektonischen Gründen eine Sensation ist. Das kleine Areal besteht nunmehr aus vier Gebäuden, die unterirdisch miteinander verbunden sind, und bietet stattliche 1500 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Manche der Räume sind in den Fels gehauen, in einem tröpfelt das Quellwasser ganz naturbelassen von den Wänden. Allein dies lohnt den Besuch.

Avantgarde im Fels

Teile der Dauerausstellung sind in diese architektonische Meisterleistung eingelassen, allen voran die rotierende Säule «Narcissussusch» des polnischen Bildhauers Mirosław Bałka, die das Archaische der Umgebung mit der hochtechnologischen Gegenwart verschaltet und zugleich auf die psychologischen Reflexe der Betrachter angesetzt ist. «Inn Reverse», eine nur einzeln zu betretende Rauminstallation von Sara Masüger, überträgt das Rauschen des angrenzenden Flusses durch einen unterirdischen Tunnel direkt ins Gebäude. Ebenfalls mit Arbeiten vertreten ist ­Polens prominenteste Nachkriegskünstlerin, Magdalena Abakanowicz, deren bekannteste Werke, die nach ihrer Schöpferin benannten Abakane, diesen Sommer in Lausanne bestaunt werden können. Im Muzeum ist sie mit «Flock I» vertreten, einer Skulpturengruppe aus 20 kopflosen Körpern aus Sackleinen und Kunstharz, die in einem kellerartigen Raum aufgestellt ist, wo sie der Enge eine beklemmende Atmosphäre verleiht. Zu sehen sind auch Arbeiten des polnischen Fotografen Piotr Uklański, der Schweizer Künstlerin Heidi Bucher und einige andere, wobei die speziell für den Bau angefertigte, 14 Meter messende Treppenskulptur «Stairs» von Monika Sosnowska hervorzuheben ist, da sie von allen Etagen des einstigen Kühlturms der Brauerei aus zu betrachten ist.

Es spricht für Kulczyks Gespür für Kunst, dass sich auch die bisherigen Ausstellungen bestens in die Räumlichkeiten des Muzeums Susch einfügten. Der eigentliche Programmfokus liegt auf Künstlerinnen, die im Westen wenig beachtet oder nahezu völlig unbekannt geblieben sind, um so die Rezeption und die Forschung zu diesen anzustossen. Bedingt durch den Kalten Krieg, waren beispielsweise die Vertreterinnen der polnischen Avantgarde in Westeuropa lange kaum zur Kenntnis genommen worden. Kulczyk und ihrem Team, darunter der Kuratorin Tanja Warring, kommt deshalb das Verdienst zu, das Gesamtwerk von Künstlerinnen zu würdigen, das der hiesige Kulturbetrieb zu Unrecht mit Desinteresse gestraft hat. Wichtig dabei ist, dass das jeweilige ­Œuvre abgeschlossen ist, d.h. die gewürdigte Künstlerin mittlerweile nicht mehr lebt, so dass sich ihr Wirken vollständig rekonstruieren und auf repräsentative Weise zeigen lässt.

Magdalena Abakanowicz, Flock I (1990). Bild: Studio Stefano Graziani, Muzeum Susch, Art Stations Foundation CH.

Nach einer beachtlichen Retrospektive der kolumbianischen Bildhauerin Feliza Bursztyn (1933–1982), die von Dezember 2021 bis Juni 2022 zu sehen war, werden diesen Sommer und Herbst eine Vielzahl an grundeigenständigen Werken der polnischen Künstlerin Wanda Czełkowska (1930–2021) gezeigt, die zum ersten Mal ausserhalb ihres Heimatlandes mit einer Retrospektive gewürdigt wird. Dass Kulczyk hierfür die Kuratorin Matylda Taszycka von der Vereinigung Archives of Women Artists Research & Exhibitions (AWARE) in Paris verpflichtet hat, unterstreicht abermals, wie ernst sie es mit dem feministischen Anliegen meint. Ohnehin könnte der Titel der Ausstellung «Art Is Not Rest» der Agenda des Muzeums vorangestellt werden.

Kultureller Gewinn durch Unternehmertum

In einem bislang vor allem als Durchfahrtsort am Flüelapass bekannten Dorf eine vor Jahrhunderten als religiöse Stätte dienende, dann Alkohol produzierende Räumlichkeit in baufälligem Zustand zu erwerben, um diese in eine hochmoderne, aber unaufdringliche Kulturinstitution zu verwandeln, obwohl sich die Region bislang eher durch einige Galerien denn durch Museen ausgezeichnet hat: all das erfordert gelinde gesagt Mut – und Unternehmergeist. Hier zeigt sich abermals der Innovationscharakter privater Investitionen, denn eine staatliche Neugründung würde weder über das notwendige Budget verfügen, um einen derartigen Kauf zu tätigen, noch könnten Verantwortliche mit einer solch soliden Vision an den Start gehen, geschweige denn kontinuierlich ein Programm realisieren, das einen unbedingt verteidigungswürdigen Feminismus vertritt. Derartiges zu verwirklichen, ist einzig der Leistung eines Individuums geschuldet.

«Eine Räumlichkeit in baufälligem Zustand zu erwerben, um diese in eine hochmoderne, aber unaufdringliche Kulturinstitution zu verwandeln: das ­erfordert Mut – und Unternehmergeist.»

Es ist Kulczyk hoch anzurechnen, dass sie aus Überzeugung und mit Risikobereitschaft und Pioniercharakter ausgestattet zur Tat geschritten ist. Einzig ihr persönliches Geschick hat dieses Privatmuseum hervorgebracht, das tatsächlich über das Potenzial verfügt, die hiesige Museumslandschaft langfristig zu erneuern – und Kunstfreunde von nah und fern regelmässig mit Neuem und mit Unbekanntem zu erfreuen.

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