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R.I.P. Christoph Schlingensief

R.I.P. Christoph Schlingensief


München – vor der Feldherrnhalle steht ein Karree aus Absperrgittern. Die Passanten schauen mässig interessiert, ein paar arabische Touristen ziehen vorüber, behängt mit Einkaufstaschen von Nobelmarken. Innerhalb der Absperrung befinden sich: ein Redner, einige Damen mittleren Alters, ein Rollstuhlfahrer, der innerhalb des Karrees unaufhörlich umherkurvt. Ausserhalb der Absperrung sind ca. 30 Polizisten, ein gutes Dutzend alkoholisierter Punks sowie weitere äusserst erregte Menschen. Der Redner, ein ehemaliger Sportreporter, echauffiert sich, seine unterbeschäftigten Mitarbeiterinnen sortieren derweil am Infotisch Stapel von Flyern.

In einer Mischung aus Resignation und Stoizismus ertragen die Helferinnen die Flut von Beleidigungen, die anbrandet, sobald der Redner das Wort ergreift. Dabei steigern sich einzelne Punks in wahre Brüllorgien hinein, einer stösst geradezu tierische Laute aus. Und eine grotesk übergewichtige Frau neben ihm hänselt, gestützt auf das Absperrgitter, den Rollstuhlfahrer mit den langen grauen Haaren. Das alles erinnert ganz stark an Aufführungen der Berliner Volksbühne, an Christoph Schlingensiefs Castingshow «Freakstars», an Stücke wie «Atta Atta – die Kunst ist ausgebrochen», an öffentliches U-Bahn-Theater wie «U3000» und ähnliches. Findet hier ein Open-Air-Gastspiel statt?

Jetzt wird es auch noch interaktiv! Der Rollstuhlfahrer kommt heran und fragt, ob ich nicht auch unterschreiben wolle. Nein, entgegne ich, ich käme aus der Schweiz. Interessiert fragt er, ob ich denn wenigstens «den Freysinger» kenne. Augenblicklich tritt ein junger Mann von der Seite an mich heran und warnt, die Leute im Karree würden vom Verfassungsschutz beobachtet, ich solle sie bloss nicht unterschreiben, diese dubiose «Petition gegen den Bau eines islamischen Zentrums in der Münchner Innenstadt». Mir dämmert: das alles ist real! Parodie, Überspitzung, künstlerische Verdichtung – das alles kommt nun gegen die Realität nicht mehr an, letztere ist tausendmal greller und irrer. R.I.P. Christoph Schlingensief.

Christian Saehrendt ist Kunsthistoriker und Publizist. Zuletzt von ihm erschienen: «Ist das Kunst – oder kann das weg?» (DuMont, 2012).

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