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Ausweitung der Migrationszone

Eine Albanienfahrt von Francesco Micieli

Es ist auffällig, wie viele der «Migrationsliteratur» zugerechnete Schriftsteller sich in jüngster Zeit ihrer familiären Vergangenheit zuwenden, dem bei Politikern, Medienleuten oder Soziologen zur Zeit so beliebten «Migrationshintergrund». Lesenswerte Bücher sind dabei entstanden, anatolische Familienromane wie «Die Tochter des Schmieds» von Selim Özdogan und «Leyla» von Feridun Zaimoglu oder auch Catalin Dorian Florescus Geschichte vom «Blinden Masseur». Zahlreiche neue Texte von Autoren anderer Muttersprache, die in deutscher Sprache schreiben, stellen Fragen wie: Woher kommen wir? Woher kommen die Sprichwörter und Geschichten, die mit der zwischen Geborgenheit und Fremde oszillierenden Kindheit verbunden sind? Die besonderen, oft an eine bestimmte Sprachgebärde gekoppelten Assoziationen? Die Lieblingsgerüche? Oder, allgemeiner und abstrakter: Wo ist meine, nun ja,: «Heimat»? Und sollte ich darauf wirklich Antworten finden, oder Spuren davon: was bedeuten sie? Was könnten sie bedeuten? Heute? Und in der Zukunft?

«Eine Erzählung» nennt Francesco Micieli sein schmales Bändchen «Am Strand ein Buch», in dem eine recht eigensinnige italienisch-schweizerische Frau versucht, die Einwanderungsgeschichte ihrer albanischen Vorfahren nachzuempfinden, durch eine Reise nach Tirana inklusive eines nicht ganz geheuren Transfers über die Adria hinweg nach Süditalien. Man kommt bisweilen auf solche Ideen, vor allem, nachdem beide Eltern gestorben sind und das Alltagsleben nur viele (Selbst-)Zweifel und eine grosse Müdigkeit, sonst aber wenig Aufregendes zu bieten scheint. «Ich bin von meiner Familie die Einzige in diesem Land. […] Ich gehe nach Albanien. Die Illustrierten bei meinem Zahnarzt nennen das eine Krise. Eine Sinnsuche. Sich finden, hört sich zufällig an. […] Ich habe nichts zu verlieren. Mein Leben ist reibungslos geworden. Alles stimmt. Die Tage, die Nächte, der Lohn. […] Das Gefühl, eine Desperada zu sein, rührt mich.» Sie will, auch wenn es einen «Anschlag» auf die Beziehung zu einem gewissen Antonio bedeutet, unbedingt herausfinden, ob man in eine schon 500 Jahre alte, von den Grosseltern an die Enkel immer weitergegebene und bis heute wirksame Geschichte zurückgehen kann; sie muss aufbrechen, vom Emmental über Zürich-Kloten in die Hauptstadt eines armen, geschundenen, von Auswanderung geprägten Landes. Auch um die Fernsehbilder zu verstehen, von 1991 und später, verwegene Kähne und Schiffe voller Albaner in Bari, Brindisi oder Otranto, Menschen, die alles aufgegeben haben und neu anfangen wollen, in Italien, in Deutschland, in der Schweiz oder gleich in Amerika.

Flug- oder überhaupt Zukunftsangst? «Egal, unsere Vorfahren bleiben unsere Fiktion. Unsere Erzählung.» Nur der Grossvater war einmal in Albanien gewesen, im Krieg, als Dolmetscher und Übersetzer. Tirana Airport, das Hotel aus der Mussolini-Zeit, davor die grossen Limousinen, neben der Moschee eine Martini-Werbeschrift, das riesige Denkmal von Skanderbeg auf seinem Pferd, die sonnenverbrannten Gesichter, die sich selbst bewachenden Soldaten, die alten Photos. Die Vermischung der Sprachen: Schwiizerdütsch, Italienisch, Albanisch, Englisch. Eine Ohnmacht. «Wenn man mich nur sehen könnte, so traurig, so alleine, so verloren. Heimat, denke ich. Ich denke es wie Schachmatt. Was für eine Idee!» Und doch: «Ich bin ein wenig wie diese Stadt, ja, eine Mischung aus Orient, Kalabrien und Emmental.» Schliesslich die verwegene Überfahrt, das Buch am Strand, die Carabinieri und die Flüchtlinge. Eine eindringliche Szene nach der anderen. Auffällig ist Micielis hohe Kunst des Weglassens.

Eine seltsam sympathische Erzählung ist das, keine streng geschlossene, sondern eine lockere, offene, manchmal auch assoziative und brüchige, die aber dennoch aufgereiht ist am Faden der Chronologie. Ein Ich erzählt, aufmerksam und feinsinnig. Jedoch nur manchmal. Eine Ich-Erzählung wird man den Text daher kaum nennen wollen, Prosaskizze trifft es auch nicht. Eher vielleicht: ein geschickt geknüpfter, aus Erfahrungen und auch aus Literatur geborener, ein schwebend-leichter, ein kleiner und doch grosse Dimensionen aufschliessender Erzählteppich.

Der Schauspieler, Theaterregisseur und Dichter Francesco Micieli, 1956 in Süditalien geboren, seit 1965 in Lützelflüh, Burgdorf und Bern mehr oder minder heimisch, wurde im Laufe der Jahre für sein bisheriges literarisches Schaffen – aus dem seine seit 1986 angewachsene «Trilogie einer Emigration» herausragt – mit angesehenen Preisen und Arbeitsstipendien bedacht. Ganz zu Recht. Man darf durchaus Kritisches über «Am Strand ein Buch» sagen, darf stilistische Eigenheiten beklagen oder die nicht immer einsichtige Häufung von Helvetismen. Doch nach der Lektüre dieser aufrüttelnden und zugleich beglückenden Erzählung steht eindeutig fest: Francesco Micieli ist ein bemerkenswerter Schweizer Schriftsteller, dessen jüngstes Buch die deutsche Sprache und Literatur um neue Töne und ungewohnte Blickwinkel bereichert.

Francesco Micieli, «Am Strand ein Buch. Eine Erzählung». Bern: Verlag X-Time, 2006

Klaus Hübner, geboren 1953, promovierte in Germanistik und lebt als Publizist und Redaktor der Zeitschrift «Fachdienst Germanistik» in München.

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