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Ausweitung der Denkzone

Asien läuft uns davon, während wir an überkommenen normativen Weltbildern festhalten. Im «Krieg der Köpfe» hilft moralischer Rigorismus nicht weiter. Und auch unser Freiheitsbegriff muss auf den Prüfstand.

«Die Chinesen greifen an», «Indien auf der Überholspur» – so oder ähnlich lautet der Tenor von Medienberichten über die Rettung traditionsreicher Automobilfirmen wie Saab, Volvo oder Jaguar sowie über die gnadenlose Ausbeutung wichtiger Rohstoffe in afrikanischen Ländern. Angesichts der auf uns zu rollenden Welle von asiatischen Artefakten und Finanzmitteln, Strategien und Denkweisen drohen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prägekräfte der westlichen Welt an Bedeutung zu verlieren. Der lang gehegte Glaube an die ökonomische und moralische Überlegenheit des Westens bröckelt. 

Die Furcht vor einem Siegeszug der asiatischen Kultur ist mit Händen zu greifen. Laut einer Exklusivumfrage des deutschen «Handelsblattes» vom Januar 2011 ist fast jede zweite deutsche Führungskraft (47 Prozent) überzeugt, dass sich eher östliche, asiatische Normen durchsetzen werden. Nur 29 Prozent erwarten, dass westliche Normen in den nächsten Jahren die Oberhand behalten werden. Unter asiatischen Werten verstehen die Führungskräfte nicht nur die Strenge im Erziehungssystem, sondern vor allem staatlichen Dirigismus im Wirtschaftsleben und die Durchsetzung unsauberer Geschäftspraktiken. Mehr als 80 Prozent der Topmanager sind der Meinung, dass die Vorstellung von Fair Play in Asien eine andere ist als in den freiheitlichen Wirtschaftsordnungen des Westens, und 27 Prozent geben an, selbst bereits negative Erfahrungen gemacht und unfair von asiatischen Geschäftspartnern behandelt worden zu sein. 

Das neue Spiel der Kräfte wird nicht mithilfe militärisch-ökonomischer Macht gewonnen, sondern durch bessere Ideen. Das «chinesische Modell», die Kombination von entfesseltem Kapitalismus und autoritärer Herrschaft, wird für den Westen zu einer intellektuellen Herausforderung. Vor unseren Augen entfalte sich, so der China-Experte Stefan Halper, ein veritabler Ideenkrieg. Wollen wir diesen nicht bereits im Ansatz verlieren, brauchen wir Imagination und Flexibilität in der Einschätzung von Situationen, eine okkasionalistische, potentialorientierte statt einer heroischen Rationalität sowie die Fähigkeit zum planlosen Abwarten und blitzschnellen Zupacken. All dies können wir von den Chinesen lernen – wenn wir es wollen. 

«Das Ende der unrealistischen Erwartungen» verkündet der britische Historiker Timothy Garton Ash und läutet dem liberalen Triumphalismus eines Francis Fukuyama das Totenglöcklein. Die auf Menschenrechten und politischer wie wirtschaftlicher Freiheit basierende Variante des Kapitalismus sei im Niedergang, Asien bestimme nun zunehmend die Normen mit. Unser Modell sei zwar nicht gerade zusammengebrochen, doch habe seine erhoffte grosse Reform nicht stattgefunden. Es überlebe zwar, aber es sei verwundet, weil es eine schwere Last an Schulden, Ungleichheit, Problemen des Bevölkerungswachstums, der vernachlässigten Infrastruktur und des sozialen Unfriedens zu tragen habe. 

Wir sollten also unsere Erwartungen an gemeinsame Normen einer liberalen internationalen Ordnung herunterschrauben. Ausserdem ist keineswegs sicher, dass freiheitliche Demokratien eher als autoritäre Regimes in der Lage sind, die Nachhaltigkeit derjenigen Motive und moralischen Ressourcen zu gewährleisten, die sie für ihre Fortentwicklung benötigen. 

Während asiatische Wirtschaftsexperten davon ausgehen, dass Asien den «Westen» überholt, grübeln wir auf alteuropäische Art über die Frage, wie unsere Wertesubstanz zu reparieren und der schleichende Erosionsprozess unserer freiheitlichen Ordnung aufzuhalten wären. Lee Kuan Yew, Ex-Premier des Stadtstaates Singapur und Chef des geheimnisvollen Staatsfonds GIC (Government of Singapore Investment Corp.), verkündete bereits in den 1990er Jahren den Sieg asiatisch-konfuzianischer Werte über die «westliche Dekadenz». Nach dieser Doktrin leidet der «Westen» an geistiger Verknöcherung, sein Niedergang ist unaufhaltsam, während asiatische Völker, deren geistiges Potenzial jahrhundertelang unterfordert gewesen sei, nunmehr vor Kreativität bersten. Ob der Krieg um die besten Köpfe und die dynamischsten Moralstandards zur historischen Niederlage des Westens führt, hängt nicht zuletzt von dessen Reaktion auf die Entwicklung in Asien ab. Solange wir in den Kategorien des eurozentrischen Weltbildes denken und handeln, werden wir diese Entwicklung kaum mitgestalten können.

Grössere Sorgen als die Bedrohung aus Fernost bereiten die unübersehbaren Tendenzen sozialen und moralischen Verfalls unserer eigenen Kultur, der sich auf vielfältige Weise manifestiert: in sinkenden Spar- und Investitionsraten, stetigem Geburtenrückgang und Überalterung, steigenden Kirchenaustritten, zunehmender Kriminalität und Gewalt im öffentlichen Raum, Bedeutungsverlust der Familie, Rückgang gemeinnützigen Engagements, Zerfall intermediärer Institutionen, Absinken akademischer Leistungen, allgemeiner Ermüdung, Wachstumsaversion usw. Es sind die Verfallsmomente der westlichen Zivilisation, aus denen asiatischer Triumphalismus und islamischer Erneuerungseifer ihre moralischen Überlegenheitsansprüche ableiten. 

 

Ein offenes Rennen

Im «Westen» ist eine wachsende Diskrepanz zwischen den Einstellungen zu Wachstum und Arbeit und der Dynamik des globalisierten Kapitalismus entstanden. Angesichts zunehmender Alterung der europäischen Gesellschaften, sowie wachstumsfeindlicher und zunehmend antikapitalistischer Tendenzen, scheinen sich die Bedingungen für ein politisch gewolltes «Durchstarten» dramatisch zu verschlechtern. Immer weniger Menschen scheinen die Kraft und den Willen aufbringen zu wollen, um im «ökonomischen Weltkrieg» zu überleben. Ist die allgemeine Überforderung mit den Konsequenzen der Globalisierung bereits so weit fortgeschritten, dass die «Aktivgesellschaft» zum Auslaufmodell wird, bevor sie überhaupt richtig loslegt?

Gemäss dem Wirtschaftshistoriker David S. Landes sind die bürgerlichen Werte, Garanten kapitalistischer Entwicklung, auf dem Rückzug. Die anhaltende Wachstumsschwäche in Europa und der anschwellende Antikapitalismus könnten eine breite Abkehr von jenem bürgerlichen Erbe markieren, das die Entfaltung freier Märkte und den Wohlstand der Nationen allererst ermögliche: die positive Einstellung zu Risiko, Unternehmerfreude und Abenteuerlust. Sparsamkeit, Fleiss, Sorgfalt, Präzision, Verlässlichkeit, Zeitsinn, Pflichttreue und jene Liebe zur Sache, die als Sense of Workmanship bezeichnet wird, mussten über Jahrhunderte gelernt werden. 

Diese Werte könnten eines Tages nicht mehr zu den vordringlichen Zielen westlicher Gesellschaften gehören, wie neuere Erhebungen vermuten lassen. Jedenfalls wird sich auf längere Sicht der Wandel in den Wertepräferenzen auf die kapitalistische Dynamik auswirken. In den westlichen Industrienationen zeichnet sich unter dem Eindruck von Klimawandel und Finanzkrise eine wachsende Ambivalenz ab: einerseits Skepsis gegenüber Globalisierungs-, Wachstums- und Technikabhängigkeit, andererseits ungebrochene Konsumorientierung. 

Ein Grund für diesen scheinbaren Widerspruch liegt im seit nunmehr sechzig Jahren ununterbrochenen Wachstum der privaten Finanzvermögen bei gleichzeitig schrumpfender und alternder Bevölkerung. Das von den gut verdienenden Mittelschichten erworbene Kapital sucht nach Anlagemöglichkeiten und steht daher dem Finanzmarkt-Kapitalismus moderner Prägung grundsätzlich positiv gegenüber. Gleichzeitig lamentiert man über den grassierenden «Terror der Ökonomie» – und übersieht dabei, dass die politisch  tonanangebenden Mittelschichten zugleich Täter und Opfer bzw. Gewinner und Verlierer sind. Einerseits sorgen sie nämlich für jenen grundlegenden Konsens, auf dem sich der Finanzmarkt-Kapitalismus entfalten kann, und wären mithin die grössten Verlierer einer «Rückkehr zum menschlichen Mass», die dem Gedeihen ihrer Portfolios abträglich wäre. Andererseits sind aber die Täter/Anleger (aufgrund von Abstiegsängsten, prekären Beschäftigungsverhältnissen, Depressionen usw.) immer auch Opfer dieses krisenanfälligen Systems. Nur ist die Einsicht in die Verschmelzung von Täter- und Opferrolle schwer zu vermitteln und wird angesichts (vermeintlicher) ökonomischer Vorteile aus dem Bewusstsein verdrängt. Unter dem Strich ist es angenehmer, den «moralischen Niedergang der Ökonomie» auf kultureller Ebene zu bejammern und in struktureller Hinsicht davon zu profitieren.

Gleichzeitig verzweifeln immer mehr Westler am Wert der Freiheit. Diese rangiert laut neueren Umfragen zu den Wertepräferenzen der Deutschen auf dem letzten Platz – nach Gesundheit, Familie, Beruf und Haus. Wenn dies bedeutet, dass immer weniger Menschen dem Neuen aufgeschlossen gegenüberstehen, unter anderem weil sich für viele der Wunsch nach Wohlstand und Aufstieg erfüllt hat, dann stellt sich die Frage, welche Chancen zum take-off alternde Wohlstandsgesellschaften mit breiten saturierten Mittelschichten haben, die sozialen und institutionellen Innovationen gegenüber zurückhaltender sind als aufstrebende Entwicklungsgesellschaften mit stark wachsender, jugendlicher und aufstiegswilliger Bevölkerung. 

Kann die Dynamik schöpferischer Zerstörung unter diesen Bedingungen anhalten und noch gesteigert werden? Wohl kaum. Wenn die Menschen nicht mitspielen, kann eine Gesellschaft ihre wirtschaftlichen und sozialen Strukturen schwerlich in immer rascherem Tempo umwälzen und immer mehr unternehmerische Energien mobilisieren. Spielen die Menschen mit und legen sie jene optimistische Grundhaltung an den Tag, die in den aufstrebenden Ländern Asiens dem spezifischen Charakter und Stellenwert von Bildung geschuldet ist, sind langfristige Wachstumsphasen möglich.

Dieser Optimismus scheint trotz aller Schauergeschichten über chinesische Erziehungsmethoden ungebrochen. Schon vor dem Erscheinen von Amy Chuas Bestseller haben westliche Bildungsreformer die Debatte um den rechten Umgang mit lernunwilligen Schülern angestossen. Sie wenden sich gegen diejenigen Erzieher und Funktionäre des Bildungswesens, die beständig den kognitiven Überhang von Lerninhalten beklagen, auf emotionale Defizite in der Schulbildung hinweisen und die schulischen Anforderungen verringern möchten, damit die Kinder nicht zu seelischen Krüppeln werden. In Asien gilt das genaue Gegenteil, hier dominieren Erziehungswerte wie Ausdauer und Zähigkeit, Disziplin und Erfolgshunger. Wer besitzt das nachhaltigere Erfolgsmodell?

 

Freiheit als kognitive Leistung

Diese Frage bringt nicht nur Bildungspolitiker, sondern auch die liberale «Erziehung zur Freiheit» in begriffliche Schwierigkeiten. Freiheit wird sowohl in liberalen als auch in sozialistischen Ideologien immer mit der Figur des Subjekts verbunden. Ein Mensch ist Subjekt, insofern er sich im Gegensatz von Freiheit und Zwang verorten kann. Sowohl Liberalismus als auch Sozialismus haben Freiheit durch Abwesenheit von Zwang defi-niert, was unweigerlich zum Streit über die Quellen des Zwanges führt: legitimierbarer Zwang auf Seiten des Rechtsstaats, nicht legitimierbarer Zwang auf Seiten der Produktionsverhältnisse. Bleibt man diesem Schema verhaftet, verflacht der Freiheitsbegriff zur nichts sagenden Formel.

Der Freiheitsbegriff wurde durch die moderne Soziologie neu definiert. Die Kopplung an den Begriff des – äusseren – Zwanges entfällt. Denn Zwang, weiss man seit Sigmund Freud, ist etwas, das sich das Bewusstsein im historischen Prozess in zunehmendem Masse selbst auferlegt. Mit dem Entstehen der modernen Gesellschaft wurden Fremdzwänge immer mehr durch Selbstzwänge ersetzt. Entsprechend erfährt das Individuum Freiheit nur dann, wenn es Entscheidungen treffen kann, die es sich selbst zurechnet. Freiheit ist hier nicht mehr durch den Gegenbegriff Zwang definiert, sondern durch die kognitiven Bedingungen ihrer Möglichkeit. Die entscheidende Frage ist dann, wie man in eine determinierte Welt, die immer so ist, wie sie ist, Alternativen und eine entscheidbare Zukunft hineinlesen kann. 

Ob jemand diese Fähigkeit entfalten kann, hängt davon ab, wie er auf der Grenze zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung zu balancieren versteht. Ständig gezwungen, nicht nur sich selbst, sondern auch zu beobachten, wie er selbst von Anderen beobachtet wird, die ihrerseits gezwungen sind, genauso zu beobachten, gerät er in unauflösbare Beobachtungsverwicklungen. Um trotzdem entscheiden zu können, bildet er Imaginationen über sich selbst und die Welt, mit deren Hilfe er sich als stetiger Grenzgänger zwischen Selbstidentifikation und Fremdidentifikation bewegen kann. 

Dauerhafte Imaginationen sind allerdings selten. Der Mensch prozessiert ständig neue, von denen die meisten, wie jeder weiss, an den Widerständen der physischen und sozialen Umwelt scheitern. Akzeptiert er aber die prinzipielle Ungewissheit aller Prämissen und Folgen seines Handelns, wächst seine Chance, Entscheidungsspielräume experimentell und gleichsam voluntaristisch in die Wirklichkeit hineinzufingieren, und sich gegenüber kulturellen Selbstverständlichkeiten, etablierten Semantiken und vorgegebenen Deutungen auf reflexive Distanz zu bringen. 

Mit einem konstruktivistisch gewendeten Freiheitskonzept kommt man chinesischen Auffassungen von «Wirksamkeit» – die sich auf nichts stützt, die ständig improvisiert und in keiner Spur festgefahren ist – erstaunlich nahe. Durch Hinterfragen eigener Konzepte wie Freiheit können wir interkulturelle Dialoge auf eine neue Basis stellen: Verstehen des Fremden durch Rekonfiguration des Eigenen. Und dies ohne auch nur ansatzweise die Moral zu bemühen. 

Ein kritischer Blick auf die, vor allem in den USA gepflegte, «Tyrannei der Tugend» im Umgang mit fremden Kulturen könnte sich für die Nachhaltigkeit unseres Denkens als segensreich erweisen. Ein «Kampf der Kulturen» liesse sich abwenden.

 

Dieser Text von Thomas A. Becker ist Teil der Asien-Debatte im «Schweizer Monat». Bisher schrieben dazu Beat Kappeler, Urs W. Schoettli und Roger Gaston Sutter.

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