…ausgewogen über einen Berner im 20. Jahrhundert
Urs Bitterli: «Jean Rodolphe von Salis. Historiker in bewegter Zeit». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2009.
Nach dem Tod von J. R. von Salis war sich die offizielle Schweiz einig: er war ein «Schweizer von europäischem Rang», ein Monument. Diesem nähert sich der emeritierte Geschichtsprofessor Urs Bitterli in einer umfassenden Biographie. Er tut es mit der Nähe dessen, der den Portraitierten schon in der Kindheit am Radio gehört hatte, ihm als Student begegnet war und der in seiner Nähe, mit Blick auf Schloss Brunegg, lebte. Trotz dieser Nähe wahrt Bitterli Distanz, stösst auf Fakten, die das Monument nicht stürzen, ihm aber einige Kratzer beifügen. Bitterli beginnt da, wo er, wie die meisten seiner Generation, den Professor zuerst wahrgenommen hatte: als Verfasser der Weltchronik von 1940 bis 1947 am Schweizer Radio. Der damalige Aussenminister Pilet-Golaz selber hatte von Salis gebeten, einmal in der Woche einen Kommentar zum Weltgeschehen zu verfassen, vielleicht gerade deshalb, weil von Salis, als Biograph von Bundesrat Motta, dessen Nähe zu Mussolini und zum italienischen Faschismus und dessen Sympathien für Nazideutschland, wie Bitterli vermerkt, unkommentiert gebilligt habe. Diese Haltung behielt von Salis als Radiochronist bei: er brachte in seinen Kommentaren für das Vorgehen der Nationalsozialisten viel Verständnis auf, äusserte kein Wort zur früh einsetzenden Judenverfolgung, ebenso wie er nie die Konzentrationslager und den Holocaust verurteilte, im Gegensatz zu Thomas Mann und Herbert Lüthy. Trotzdem sprach von Salis später von seiner «Partisanentätigkeit im Äther». Mit Bestimmtheit weist Bitterli das zurück, findet den Eindruck von Widerstand unangemessen und streicht die spröde Sachlichkeit der Chronik-Kommentare heraus (die beigelegte CD bringt Kostproben). In wohltuend klarer Chronologie geht Bitterli den Stationen dieses Historiker- und Gelehrtenlebens nach: die Korrespondentenjahre in Paris, die Tätigkeit als Geschichtsprofessor an der ETH, als Verfasser der dreibändigen Weltgeschichte der neuesten Zeit. Gewürdigt wird aber auch sein innenpolitisches Engagement, etwa für den UNO- und EG-Beitritt, seine Tätigkeit als Präsident der Pro Helvetia, sein Wirken als Schweizer Unesco-Vertreter. Bitterli führt den Leser durch ein ereignisreiches Leben, das packt und Bewunderung hervorruft für das, was ein einzelner vermag. Und er fördert Unbekanntes, Überraschendes an den Tag. So etwa die heftige Auseinandersetzung des «liberalkonservativen Professors» mit den «kalten Kriegern» der fünfziger Jahre und sein Verständnis für die Studentenbewegung der sechziger Jahre. Bitterli stellt seine umfangreichen Recherchen in einer anschaulich verständlichen Sprache dar, die Ereignisse souverän ordnet. So entsteht das Bild eines Zeitzeugen und Zeitgenossen, der auch wichtige Kontakte pflegte, unter anderen zu Adenauer, Kreisky und Helmut Schmidt, aber auch zu Schriftstellern. Früh fand er Kontakt zu Rilke, über den er auch ein Buch schrieb, später zu Thomas Mann, bis hin zu Bichsel und Burger, der ihn im «Brenner», sehr zu seinem Missvergnügen, wie Bitterli vermerkt, als Jérôme Castelmur-Bondo portraitiert hat. Aber auch für einen damals Verfemten setzte er sich ein: für Friedrich Glauser. Bitterli bleibt fair, verbirgt Schattenseiten nicht, schlachtet sie aber auch nicht aus und lässt das Bild einer Persönlichkeit entstehen, der niemand die Hochachtung versagen konnte. So vermerkt er, nicht ohne ironischen Unterton, dass bei der Gedenkfeier zum Tod des Professors, 1996, neben Freunden auch Kontrahenten anwesend waren und alle nur rühmende Worte fanden, neidische Professoren, kalte Krieger, Patrioten, denen sein Europäertum missfiel: «Sie alle waren nun der Meinung, dass ein grosser Schweizer dahingegangen sei.»