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Ausgeträumt

Der Traum einer risikolosen Welt – Kapitalisten und Kapitalismuskritiker haben ihn gleichermassen geträumt. Nun schweigen die einen, und die anderen geben sich siegestrunken. Wo bleibt der Lerneffekt?

Krisenzeiten sind Zeiten der Abrechnung. Diesmal steht der Kapitalismus am Pranger. Der Kapitalismus, donnern seine Kritiker, sei allzu krisenanfällig und deshalb durch ein neues System zu ersetzen. Wer so spricht, suggeriert die Möglichkeit eines krisenlosen Systems. Aber ist nicht gerade der Glaube, in einer vermeintlich krisenfreien Zeit zu leben, der Hauptgrund für die gegenwärtige Krise?

Blicken wir zurück. Zu Beginn dieses Jahrzehnts hat die amerikanische Notenbank (Fed) die US-Wirtschaft mit Geld geflutet. Dies in der Absicht, eine in Ansätzen bemerkbare Rezession abzuwenden. Das ist der Notenbank auch gelungen – die amerikanische Volkswirtschaft erlebte eine längere krisen- und also sorgenfreie Zeit. Das billig verfügbare Geld und die stetig steigenden Grundstückpreise erlaubten ein Investitionsverhalten, das – bei nüchterner Betrachtung – jeglicher Nachhaltigkeit entbehrte. Solange die Preise stiegen, konnte man Immobilien stets mit Gewinn verkaufen – doch war klar, dass die Preise nicht unendlich lange steigen konnten.

Man wusste um die Risiken – aber man glaubte, eine Methode entdeckt zu haben, um auch solche Risiken unter Kontrolle zu halten: die Derivate, die letztlich nichts anderes sind als Verträge über künftige Entwicklungen von Wertpapieren. Diese Finanzierungsinstrumente waren ursprünglich eingeführt worden, um das Risiko zukünftiger Preisentwicklungen für gegenwärtige Investitionsentscheidungen berechenbar zu machen. Doch wurde mit ihrem unkontrollierten Einsatz genau das Gegenteil erreicht – das real vorhandene Risiko wurde immer wieder neu verpackt und schliesslich unsichtbar. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Auf andere Weise, aber mit ähnlichem Resultat wirkte das Verhalten der öffentlichen Hand, darniederliegende Firmen aus strategischen Gründen mit Steuergeldern vor dem Untergang zu retten. An die Marktteilnehmer wurde (und wird) das Signal gesandt, dass das Management einer Firma, sobald diese eine strategische Grösse erreicht hat («to big to fail»), sich alles erlauben kann – der Staat wird’s schon richten.

All diese Elemente haben die Illusion genährt, dass wir in einer Zeit lebten, in der man sich keine unnötigen Sorgen um mögliche Krisen zu machen brauche. Diese Illusion hat jedoch mit Markwirtschaft und Kapitalismus nichts zu tun – im Gegenteil. In einer Marktwirtschaft transportieren die Preise wichtige Informationen. Sie aggregieren die Erwartungen unzähliger Individuen und leiten damit die knappen Ressourcen effizient an jene Orte, an denen sie die beste Wirkung entfalten. Wer beispielsweise Geld für seine Altersvorsorge zurücklegt, muss sich entscheiden, wie das Geld angelegt werden soll, damit es dereinst seine Bestimmung erfüllen kann. Diese Person muss sich Gedanken über die eigene Zukunft machen und über die zukünftigen Ansprüche. Sie muss Überlegungen anstellen, wie Geld funktioniert, damit es seinen Wert behält, und wie Werte investiert werden können, damit sie vermehrt werden. Sie wird sich vielleicht überlegen, das Geld in Obligationen oder in Aktien anzulegen und sich Gedanken über Wertentwicklung und Risiken machen – so fliessen sehr viele individuelle Überlegungen in einen Investitionsentscheid ein.

Die Produktpreise können ihre koordinierende Funktion unter den Marktteilnehmern nur erfüllen, wenn sie ein verlässliches Signal bilden. Wenn aber die Illusion der Krisenfreiheit überhand nimmt, wenn, mit anderen Worten, die Individuen sich von Überlegungen über die zukünftige Entwicklung von Werten und Ansprüchen befreit, d.h. auf einer Einbahnstrasse unterwegs fühlen, so verliert das Preissystem seine Informationsfunktion. In diesem Moment bricht ein zentrales Element weg, das das Verhalten der Akteure zu koordinieren vermag – zuerst überschiesst das Preissystem in irrationalem Überschwang, danach machen sich Unsicherheit und Orientierungslosigkeit breit. In dieser Situation befinden wir uns gerade.

Dabei ist doch klar: je effizienter die verschiedenen Institutionen beim Verhindern von Krisen zusammenwirken, desto mehr Menschen beteiligen sich in der Folge am «moral hazard» – sie synchronisieren sich auf ein riskantes Verhalten, ohne Gedanken an die möglichen Folgen zu verlieren. Statt dass die Wirtschaft also eine Reihe kleinerer Krisen durchlaufen und den Akteuren den Sinn für Risiko geschärft hätte, liessen sich die Menschen zu sorglosem Handeln verführen. Sie nährten eine grosse Illusion – und reiben sich nun die Augen.

Hören wir auf, über Systemalternativen zum Kapitalismus zu phantasieren – nehmen wir vielmehr seine ureigenste Lektion ernst: es gibt keinen free lunch.

Benno Luthiger, geboren 1961, ist Physiker und promovierter Ökonom.

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