Aus Zweck wird Unzweck
Werke von Beat Zoderer
Öde Tage vor dem Schreibtisch. Die unausgefüllte Steuererklärung, all die unbezahlten Rechnungen, der Posteingangsordner überfüllt mit unbeantworteten E-Mails, Anfragen, Ankündigungen, Mahnungen. Das Telefon klingelt: schon wieder ein Termin verpasst. Wo um alles in der Welt ist die Einladung, wo sind die Unterlagen für die Sitzung heute nachmittag, wo die Notizen von jener der vorletzten Woche? Ordnung muss her: sortieren, gruppieren, etikettieren, markieren, lochen, abheften,ablegen. Datumstempel, bunte Haftnotizen, stapelweise Klarsichthüllen, Aktenordner in fünf Farben. Oh dieser vermaledeite Büroalltag! Die Einladung bleibt verschwunden, bei den Sitzungsunterlagen fehlt noch immer das letzte Blatt – das Telefon klingelt ununterbrochen.
Similia similibus curentur! Gleiches mit gleichem heilen,
jedoch nicht in homöopathischen Dosen. Das ist das Abrakadabra
von Beat Zoderer, dem Retter aus dem Schlamassel
der Bürotristesse. Er schiebt fünf Klarsichthüllen ineinander
und schafft so im Nu einen Büro-Rothko. Pappt alle Klebeschildchen neben- und übereinander auf eine Leinwand,
fertig ist ein Etiketten-Lohse. Rollt die Wellpappe von der
Verpackung der Büchersendung und formt fl ink eine Max-
Bill-Schlaufe. Ordnung durch Kunst? Wer hätte das vor Beat
Zoderer gedacht? Der Schaumstoff , der von einer Verpakkung
übriggeblieben ist? Ergibt eine Säule, mitten im Raum.
Die alten Versandröhren und die leeren Klebebandspulen?
Werden, vom Künstler angeordnet und im rechten Winkel
an die Wand montiert, zu einer Art Setzkasten mit runden
Fächern. Wie sollen all die Gummibänder aufbewahrt werden?
Na, einfach nach Zoderer-Manier auf einen Zeichenkarton
geklebt. Über 500 internationale und nationale Normen
und Normenentwürfe regeln derzeit die Büroorganisation
und Bürotechnik im Arbeitsalltag. Ein Fundus an DIN-Formaten,
RAL-Farben und ISO-Normen für die künstlerische
Arbeit. «Was ist das Kennzeichen von Kunst, Herr Zoderer?»
– «Sie ist funktionsentleert, befreit vom Zweck.»
Zu seinem grossen Missfallen ist seine Arbeit von der
Kritik und den Kennern oft als Zeugnis konkreter Kunst
eingeordnet worden, einer Kunstrichtung, die, durch die
«Zürcher Schule der Konkreten» mit Max Bill und Paul
Lohse, in der Mitte des letzten Jahrhunderts weit über die
Schweizer Landesgrenzen hinaus schul- und stilbildend war.
«Konkrete Kunst ist in ihrer letzten Konsequenz der reine Ausdruck von harmonischem Mass und Gesetz. Sie ordnet Systeme
und gibt mit künstlerischen Mitteln diesen Ordnungen das
Leben», schrieb damals Max Bill. Die konkreten Künstler
wollten weg vom Gegenständlichen, weg auch vom Abstrakten,
das ja noch immer durch die Abstraktion mit jenem
ursprünglich verbunden bleibt. Ziel war die geometrische
Konstruktion und die Erforschung des reinen Zusammenspiels
von Form und Farbe. Doch für diese Art der schulmässigen
Einordnung ist Beat Zoderer zu anarchisch, für
Epigonentum zu eigenwillig. Ein Übermass an Regeln verhinderte
schon, dass er als junger Mann seine Karriere als
Architekt weiterverfolgte. Er zog es vor, bildender Künstler
zu werden. Seither verwandelt er in Kunst, was er im Alltag
vorfi ndet. Ohne das Material zu veredeln oder die Farben
zu manipulieren, verarbeitet er Büro-, Bastel-, Handarbeitsund
Verpackungsware nebst Überresten aus dem Heimwerkbereich,
wie Parkettbohlen oder Pressspanplatten, zu
Arrangements, die in den Raum ausgreifen – minimal die
Erhebungen der aufgeklebten Wollfäden, maximal die hüfthohen
Kugeln aus Blechstreifen oder Gartenschläuchen: serielle
Plastiken aus Readymades.
«Was ist der Sinn von Kunst, Herr Zoderer?» – «Der ästhetische
Genuss.» – «Und was die Methode Ihrer Arbeit?» – «Mit
einfachen Mitteln die bestmögliche visuelle und haptische Ausstrahlung
zu erreichen.» Ein Ziel, das uns alle profi tieren
lässt. Für den Büromenschen kommt als weiterer Gewinn
hinzu. Dank Beat Zoderer wissen wir: auch das Langweiligste
und Alltäglichste liegt nah an der Kunst. Und wenn
der Büroalltag trist und öde ist, dann denke man an den
Künstler und sein Abrakadabra mit DIN, RAL und ISO.
«Ich habe», sagt er noch, «den schönsten Beruf der Welt.»
Beat Zoderer, geboren 1955 in Zürich, lebt und arbeitet in Wettingen(Kanton Aargau).
Abbildungen seiner Werke fi nden sich auf den Seiten 7, 12, 32, 33, 35, 49, 57 sowie dem Titelblatt und der Innenklappe
(© 2007 ProLitteris, Zürich).