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«Aus der ‹chambre de réflexion› ist eine ‹chambre de coalition› geworden»
Lukas Golder, fotografiert von Lukas Rühli.

«Aus der ‹chambre de réflexion› ist eine ‹chambre de coalition› geworden»

Die zunehmende Lust am öffentlichkeitswirksamen Polarisieren hemmt die Reformfähigkeit der Schweiz. Bei wechselnden Koalitionen ist von einem bürgerlichen Schulterschluss im Parlament wenig zu spüren. Was bedeutet das für die Parteien ein Jahr vor den Wahlen?

Herr Golder, unter dem Eindruck des Scheiterns der Unternehmenssteuerreform III und der Altersvorsorge 2020 und in Anbetracht skurriler Kuhhändel zur – vermeintlichen – Sicherung der Mehrheitsfähigkeit von Beschlüssen werden die Stimmen wieder lauter, die der Schweiz die Reformfähigkeit absprechen. Ich leite diese Frage gleich an Sie weiter: Ist die Schweiz noch reformfähig?

Darauf gibt es zwei Antworten. Die eine lautet: Nein. Die Schweiz ist zunehmend blockiert in zentralen strategischen Fragen. Wir sind heute weit weg von der konkordanten, kompromissorientierten, unter entscheidender Mitwirkung der Spitzenverbände stattfindenden Beschlussfassung früherer Zeiten, auch der Bundesrat kann die grossen Reformen nicht mehr so entscheidend mitprägen. Heute droht die Aussendarstellung den Kompromiss, der heute zunehmend als «Gesichtsverlust» wahrgenommen wird, abzulösen.

Und die andere Antwort?

Ja. Sie ist reformfähig. Reformen waren nie grosse Würfe, sondern immer grosse Kompromisse mit einem modernistischen, leicht revolutionären Teil und einem moderierenden Teil, der abweichende Haltungen miteinbezog. Bis 2015 sind dem Parlament in vielen wichtigen Themen immer noch moderate Reförmchen gelungen. Seither ist es schwierig. Doch sollte das Stimmvolk im Mai 2019 das Paket aus Steuervorlage 17 und AHV 20 akzeptieren, poliert das die Bilanz dieser Legislatur auf.

Ist also die «Krise der Konkordanz», wie sie Michael Herrmann 2011 ausrief, überwunden? Immerhin ist in dieser Legislaturperiode noch keine Vorlage im Parlament an einer «unheiligen» Allianz von GP/SPS und SVP gescheitert.

Konkordanz ist mehr als das. Konkordanz adressiert die Rolle der Verwaltung bei der Gesetzesvorbereitung und der Vernehmlassung unter den referendumsfähigen Kräften. Es ist der Bundesrat, der den Vorschlag macht, und dann das Parlament, das ein Gesetz schleift. Dieses Schleifen ist viel drastischer geworden in den letzten vier Jahren. Sobald ein Geschäft als wichtig betrachtet wird, wird der Nationalratssaal zum Theatersaal, und es wird polarisiert. Wenn man weiss, dass man, sobald die Kamera an ist, so tun muss, als könne man nicht miteinander arbeiten, wird die Zusammenarbeit im Parlament und namentlich in den Kommissionen schwieriger. Andererseits suchen die Parteien dieses Spiel auch. Ganze Sondersessionen werden einberufen, weil man es spielen will. Für die Konkordanz sind diese Inszenierungen Gift.

Was sind die Folgen?

Je nach Thema ergibt sich damit eine völlig eigenständige, schwierig vorhersehbare und kaum kontrollierbare Rolle des Parlaments. Die Fraktionschefs und die Parteipräsidenten arbeiten sehr strategisch, schmieden geschickt Allianzen im Stände- und Nationalrat. Es handelt sich dabei um regelrechte Minikoalitionsverhandlungen! Die Konkordanz lebt aber nicht von zufälligen Koali­tionen, sondern vom Zusammengehen der relevanten Kräfte.

Auch unter den Stimmbürgern ist seit zwei Jahrzehnten eine Polarisierung im Gange. Und doch scheint es, dass die Zerreissproben, die derzeit in anderen Ländern zu beobachten sind, in der Schweiz so nicht stattfinden.

Die Schweiz hat sehr früh angefangen, den Globalisierungskonflikt zu absorbieren. Das begann in den 1990er Jahren und ist stark mit der Rolle der SVP verbunden. Sie hat in einer ersten Phase den rechten Rand, also die Schweizer Demokraten und die Freiheitspartei, obsolet gemacht. In einer zweiten Phase dann, ab den 2000er Jahren, hat sie sich bis weit in die Mitte ausgebreitet und ist so zur stärksten Partei geworden. Damit hat eine etablierte, traditionelle, aus dem bürgerlichen Milieu stammende Partei den Globalisierungskonflikt absorbiert. Die SVP hat aus heutiger Sicht etwas beinahe Paradoxes gemacht: Sie hätte sich auch dafür entscheiden können, so lange Opposition zu betreiben, bis sie stark genug ist, eine stabile Regierung zu verhindern oder gar das Mehrheitsverhältnis zu kippen – eine Herausforderung, die derzeit viele Demokratien umtreibt. Stattdessen forderte die SVP bescheiden zwei Sitze im Bundesrat.

Warum?

Weil insbesondere die SVP und ihre Wähler an dieses System glauben und weil die Checks and Balances ähnlich sind wie in den USA, mit einer grossen Ausnahme: Wir haben eine systematische direkte Demokratie auf Bundesebene. 2015 wurden auf der SVP- und der FDP-Liste eher rechte Hardliner gewählt – die SVP erreichte ihren bisherigen Höchststand, auch die FDP gewann dazu. Die SP wich aus strategischen Gründen nach links aus und gab die sozialliberale Basis auf oder überliess sie der GLP. Aber auch wenn die Lage so polarisiert ist wie vielleicht nie zuvor, wurde die Durchsetzungsinitiative im Februar 2016 klar abgeschmettert mit einer Mobilisierung von Mitte-Links, von den sogenannten Globalisierungsgewinnern in diesem Konflikt. Das zeigt, dass die Checks and Balances spielen und dass die Bevölkerung in den Abstimmungen oft eine moderierende Funktion wahrnehmen kann. Dieses eigenständige System schützt uns vor Entwicklungen, wie wir sie derzeit anderswo beobachten.

Nimmt die Schweiz politische Auseinandersetzungen vorweg, weil man sich vor bestimmten Tabus nicht so sehr scheut wie im Ausland?

Wir sind eine stark auf Einbindung angewiesene Gesellschaft. Das wissen viele Akteure und auch die Eliten. Wenn wir nicht mit all unseren Minderheiten zusammenstehen – und wir sind alle mindestens in einigen Minderheiten –, wissen wir, dass wir nicht schlagkräftig sind und als Land nicht vorwärtskommen. Das ist in unserer Kultur angelegt, das wird mit der direkten Demokratie forciert, so ergibt sich eine automatische Nähe zwischen Elite und Volk. Es ist ein bisschen paradox, dass der Elite-Basis-Konflikt als Grundmotiv des Populismus in den letzten zwanzig Jahren ausgerechnet von jenen am stärksten angeheizt wurde, die auf allen Ebenen die absolute Topelite sind: mit der SVP die mittlerweile stärkste Partei, mit Blocher Nationalrat, Bundesrat, Milliardär, Unternehmer, Parteipräsident, Strategiechef, mittlerweile sogar Medienbesitzer, fast schon eine Dynastie aufbauend mit der Tochter, und vor allem: eindeutiger Globalisierungsgewinner. Mehr Elite geht nicht.

Ist es bei Trump nicht letztlich dasselbe?

Das würde ich nicht vergleichen wollen. Trump ist für mich in erster Linie ein Nichtpolitiker, und Blocher würde man damit nicht gerecht. Der ist durch und durch Politiker und auf seinem Weg auch Unternehmer. Bei ihm ist dieses Doppelspiel glaubwürdiger. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Trump ein Globalisierungsgewinner ist, oder «nur» ein schlauer Dealmaker, wie er sich selber nennt. Bei der SVP darf man auch nicht vergessen, dass sie seit 1930 in der Regierung ist.

Wie macht sich der vielbeschworene Rechtsrutsch von 2015 bemerkbar?

Der Rechtsrutsch zeigt sich nicht so sehr in Parteistärken und Abstimmungserfolgen als darin, welche Figuren innerhalb der Parteien dominant geworden sind. Es gab Machtwechsel innerhalb der SVP-Strukturen und auch in der FDP geben neue Kräfte den Ton an. Mit Ignazio Cassis verändert sich das Mehrheitsverhältnis im Bundesrat. Das kann schon Auswirkungen haben, denn heute kann eine einfache Verordnung fast wichtiger sein als ein grosses Gesetz oder ein Verfassungsartikel. Im Parlament sind die Auswirkungen dagegen nicht so gross – zumal im Ständerat. Aus der «chambre de réflexion» ist eine «chambre de coalition» geworden. Da wird zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts unter Mitwirkung von moderaten Kräften, verschiedenen Kantonen und Einflusssphären etwas gezimmert, nachher vom Nationalrat noch mit ein paar Ecken und Kanten versehen und dann durchgepaukt. Daran hat sich nicht wesentlich etwas geändert – ausser dass die Koalitionen bis 2015 tendenziell Mitte-Links waren, während sie heute auch einmal Mitte-Rechts sein können. Es ist eine Illusion zu glauben, die SVP könnte zusammen mit der FDP das Geschehen bestimmen. Der Ständerat ist komplett gleichberechtigt und dort haben diese zwei Parteien allein keine Chance. Nicht vergessen darf man die Rolle der CVP, die im Ständerat immer noch eine sehr starke Fraktion stellt.

Wäre denn eine FDP-SVP-Allianz für die beiden Parteien überhaupt wünschenswert?

Gerade weil sie eigenständig war gegenüber links, rechts und namentlich gegenüber der Wirtschaft, hat die FDP seit Philipp Müller zum ersten Mal wieder zu einer Erfolgsstrategie gefunden. Sie ist damit auch ein Teil der Polarisierung aus der Mitte. Dazu zählen die nicht in der Regierung vertretenen Mitteparteien, die aus prinzipiellen Überlegungen auch einmal ausscheren, sowie die FDP und die CVP, die je eine eigenständige Rolle anstreben. Die Kräfte driften also auch aus der Mitte heraus auseinander, das ist das System des polarisierten Pluralismus. Auch in der Mitte gibt es nicht einfach Moderation und Kompromiss und man findet sich, sondern man geht bis zum Allerletzten auf Konflikt. Bei AHV 2020 hat dieser Konflikt zum Scheitern der Vorlage geführt.

«Rechts» und «links» sind keine absoluten Einordnungen, sondern relative – nämlich relativ zum heute herrschenden Zeitgeist. Ist nicht der Zeitgeist als Ganzes über die Jahrzehnte linker geworden und damit «rechts» heute linker als «rechts» früher? In der Gesellschafts- und Sozialpolitik, vielleicht sogar in der Wirtschaftspolitik, haben sich über die Jahrzehnte doch ganz klar die Konzepte der Sozialdemokraten durchgesetzt. Sehen Sie das auch so?

Was heute links ist und was rechts, ist tatsächlich nicht dasselbe wie vor 30 Jahren. Das wäre ja auch absurd, weil wir heute andere Themen diskutieren. Der Ausbau des Sozialstaates kam in der Schweiz im internationalen Vergleich spät – in den 1980er und 1990er Jahren –, und er ist unterdessen weitherum akzeptiert: So ist zum Beispiel das Krankenversicherungsgesetz (KGV), das mit seiner Einführung der Versicherungs- und Aufnahmepflicht in den frühen 1990er Jahren heftige Konflikte auslöste und das Ende 1994 nur sehr knapp angenommen wurde, inzwischen – bei allem Reformbedarf – in seinen Grundsätzen weitherum akzeptiert. Generell ist ein klarer Anstieg der Relevanz des Staats im Sozialen bemerkbar.

In den USA hat die Bewegung des «Libertarianism» ein intellektuelles, modernes, frisches Image. Warum gelingt es hierzulande nicht, die Forderung nach individueller Freiheit als etwas Modernes zu verkaufen?

Ich sehe durchaus eine Aufbruchstimmung, etwa bei den Jungfreisinnigen. Die Ablehnung der Altersvorsorge 2020 wurde zum Beispiel von ihnen befeuert. Die FDP an sich ist aber eine Volkspartei, die sich nicht auf die wenigen Prozent ressourcenstärksten, am besten Ausgebildeten verlassen kann, sondern sich auf jene 20 Prozent abstützen muss, die wirtschaftsnahe Politik wollen und unternehmerisch denken. Das hat in der Kernstruktur der Schweiz einen gewissen konservativen Touch. Die Bewegung der Jungliberalen und Libertären ist vielleicht auch eine Reaktion darauf; ihr Engagement wird genährt vom Eindruck, dass immer mehr Lebenswelten staatlich durchreguliert sind. Das wiederum war bislang die Antwort des Staates auf Individualisierung: Wenn heute der Nachbar die Musik zu laut aufdreht, rufen viele die Polizei. Früher ging man klingeln! Die Hemmschwelle, den Kontakt persönlich aufzunehmen, war tiefer, denn man konnte davon ausgehen, dass der Nachbar denselben Wertekanon hat. Je individualisierter aber die Gesellschaft ist, desto grösser ist die Chance, dass mein Nachbar keinerlei Verständnis für meine Position aufbringt.

Wir leben also in bürokratisierten, durchregulierten Zeiten. Andererseits liest man ja oft, wir lebten in Zeiten eines «zügellosen» Kapitalismus. Was stimmt denn nun?

Beides ist wahr. Die Finanzkrise mit allen negativen sozialen Konsequenzen – auch wenn sie in der Schweiz viel moderater ausfielen als in anderen Ländern – zeigt ja, dass da etwas ausser Rand und Band geraten ist bei der globalen Beschleunigung von Kapital und Kapitaltransaktionen. Die Konzerne spielen so geschickt auf der Klaviatur der Globalisierung, dass sie nur wenige Prozent Steuern zahlen. Doch auch Durchregulierung findet statt, aber sie ist nicht vorrangig die Folge linker Politik, sondern ein Problem einer Politik per se, die zunehmend vernetzt ist und wo quasi alles Staatsdenken verfasst sein muss. Immer mehr wird geschrieben, auch international wird immer mehr mit Buchstaben geregelt, was man früher mit einfachen Strukturen und gesundem Menschenverstand erledigte.

Kommen wir zurück zur schweizerischen Parteienlandschaft. Wie stehen die Chancen der einzelnen Parteien im nächsten Jahr?

Die FDP arbeitet sehr systematisch, hat eine gute Führung und gute Leute – der Maudet-Skandal wirft sie aber zurück, hiervon muss sie sich erst mal wieder erholen. Bei den Wahlen 2019 hat sie aber eine gute Chance zu beweisen, dass sie wirklich gutes Personal hat und dass sie gut geführt ist. Ich glaube, dass ihr das gelingen wird. Darum sehe ich sie auf der Gewinnerseite. Die Sozialdemokraten sind thematisch sehr strategisch aufgestellt, sehr systematisch, sehr links – und ihr Ziel ist der lokale Stimmengewinn. Zwar haben sie den sozialliberalen Teil vernachlässigt, aber wenn sie das, was sie im Aargau, in Solothurn und in Bern erreicht haben, national ausweiten können, sehe ich auch sie bei den Gewinnern. Die Linke ist ohnehin seit der Wahl von Trump mobilisiert, die SVP hingegen hat noch viele Hausaufgaben zu erledigen. Sie muss bei den innenpolitischen Themen Boden finden. Wenn es gegen sie läuft, werden wir nicht gross über Europa, Migration und Asyl diskutieren, sondern mehr über Krankenversicherungen, AHV und ähnliche Themen. Wenn sie nicht wieder systematischer wird, wird sie zu den Verlierern zählen.

Und wie steht es um die kleineren Parteien – zu denen man unterdessen wohl auch die CVP zählen muss?

Die CVP hat einen Aufbruch in Richtung neuer konservativer, bewahrender Werte versucht. Dass das an der Basis nicht funktioniert, spürt man namentlich in Zürich. Die Partei hätte Potenzial, denn sie hat motiviertes Personal – gegen sie spricht die Entwicklung des Zeitgeistes. Die Grünen stehen besser da: Sie sind gut organisiert und die Sommermonate waren sehr heiss. Heisses Wetter hilft den Grünen, weil dann alle vom Klimawandel reden. Das hat man im Rekordsommer 2003 sehr gut gesehen, da haben die Grünen massiv zugelegt in den Westschweizer Kantonen.

Bei so vielen Gewinnern fragt sich, wer verliert.

Die GLP tendenziell nicht, sie ist recht gut aufgestellt in den ­Kantonen. Also werden es die BDP und die ganz Kleinen sein – und eben vermutlich SVP und CVP. Die Themenlage der nächsten 12 Monate kann daran aber noch einiges ändern.

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Lukas Golder, fotografiert von Lukas Rühli.
«Aus der ‹chambre de réflexion› ist eine ‹chambre de coalition› geworden»

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