Aufwachsen im Schatten der sexuellen Revolution
Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen. Zürich: Limmat-Verlag, 2023.
Die Geschichte, die Sarah Elena Müller in ihrem Romandebüt erzählt, hat es in sich. Die von der eigenen (Berufs-) Welt absorbierten Eltern – der Vater ist Biodiversitätsspezialist, die Mutter bildhauert – lassen es zu, dass ihr Kind einen Grossteil seiner Freizeit bei einem Nachbarn verbringt. Dass dieses, immerhin die Hauptperson, keinen eigenen Namen trägt, sondern durchweg nur «das Kind», «die Tochter», «die Enkelin» oder «das Mädchen» geheissen wird, ist nicht die einzige Herausforderung, die den Leser oder die Leserin hier erwartet.
Der Nachbar wird Ege genannt – pikanterweise ein türkischer Vorname für Männer und Frauen mit der Bedeutung «Ägäis» (wobei es einen Hinweis gibt, dass Ege auch ein Nachname sein könnte). Ege ist Medienwissenschafter, frustriert, desillusioniert, Alkoholiker – und hat filmerische Talente sowie pädophile Neigungen, denen er bei Gelegenheit mit dem eigenen, ungewollten Sohn und mit dem Mädchen nachgibt. Dieses sucht himmlischen Beistand und findet ihn in Gestalt eines Engels, der es schützt und rächt, vor allem aber Verständnis für seine Nöte aufbringt und ihm letztlich auch eine unschöne Wahrheit offenbart. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen christlichen Engel, weist er doch – passend zu Ägäis und Bildhauerei – unzweifelhaft Züge der griechischen Mythologie auf. Abgesehen von Eges scheiternder Existenz bleiben die Männer blass, was den Frauen mehr Raum verschafft: für die Grossmutter, die Mutter und natürlich das Mädchen selbst, aber auch für Gisela, Eges bis zum Äussersten loyale Freundin.
Wie sich in diesem Roman zeigt, hat die sexuelle Revolution der Sechzigerjahre das Verhältnis zum eigenen (weiblichen) Körper und den Umgang mit den eigenen Erwartungen sowie den Vorstellungen anderer und der Gesellschaft offenbar nicht nur vereinfacht. Man muss Sarah Elena Müllers Geschichte nicht mögen. Aber sie spinnt sie gekonnt, beherrscht die Klaviatur der leisen Töne und bricht Erwartungen, die Leser hegen könnten. Wer zum Beispiel auf das grosse reinigende Gewitter oder die grosse blutige Abrechnung wartet, also gewissermassen der Katharsis oder Katastrophe harrt, wird nicht bedient. Die Höhepunkte dieses Adoleszenzromans, die uns die Autorin beschert, sind von feinerem Stoff.