
Aufmüpfige Bauern haben uns Freiheit gebracht
Vor 500 Jahren lehnten sich Untertanen in der Schweiz und Deutschland gegen die Obrigkeit auf. Sie waren Pioniere der Menschenrechte.
Vor ziemlich genau einem halben Jahrtausend, Ende April 1525, besetzten und plünderten unzufriedene Bauern das Kloster Rüti im Zürcher Oberland. Sie «frassen, soffen» und führten sich «sehr ungeschickt» auf, so beschrieb es später der Reformator Heinrich Bullinger. Aus Sicht der Zürcher Obrigkeit war der Protest eine unerhörte Frechheit. Die Untertanen forderten mehr Rechte und Freiheiten, unter anderem die Abschaffung des Zehnten und der Leibeigenschaft. Sie bezogen sich dabei explizit auf die Bibel. Auch in anderen Regionen gärte es im Volk.
Die Inspiration kam von der anderen Seite des Rheins. In der schwäbischen Stadt Memmingen hatten sich im März 1525 Bauern versammelt und Forderungen postuliert, die als «Zwölf Artikel» in die Geschichte eingingen.
Aus heutiger Sicht sind die Forderungen faszinierend. Im Gegensatz zu früheren Unruhen beschränkten sich die Untertanen nicht darauf, gegen überrissene Feudallasten und übertriebene Repression ihrer Herren zu protestieren. Nein, sie formulierten erstmals eine reformationstheologisch fundierte Grundsatzkritik am Feudalismus. Es war eine der ersten Erklärungen allgemeiner Menschenrechte.
Konkret forderten die Untertanen:
- Jede Gemeinde hat ein Recht zu Wahl und Absetzung ihres Pfarrers.
- Der kleine Zehnt soll aufgehoben, der Grosszehnt für Geistliche, Arme und Landesverteidigung verwendet werden.
- Die Leibeigenschaft soll aufgehoben werden.
- Jagd und Fischerei sollen frei sein. Falls Verkäufe vertraglich belegt werden können, sollen einvernehmliche Regelungen zwischen Gemeinde und Rechtsinhabern angestrebt werden.
- Wälder und Forsten sollen in Gemeindehand zurückgegeben werden. Sollten Verträge bestehen, werden gütliche Vereinbarungen mit den Forstinhabern angestrebt.
- Die Frondienste sollen auf ein erträgliches Mass reduziert werden, orientiert an Herkommen und Evangelium.
- Ausservertragliche Frondienste sollen nicht zugelassen sein, es sei denn gegen eine angemessene Vergütung.
- Die Abgaben der Bauern sollen durch «ehrbare Leute» neu eingeschätzt werden.
- Die Strafmasse für schwere Vergehen sollen neu festgesetzt werden, orientiert an älteren Gerichtsordnungen.
- Ehemalige Gemeindewiesen und -äcker sollen zurückgegeben werden, es sei denn, dass Kaufverträge vorgelegt werden können.
- Die Zahlung des Todfalles belastet die Erben ungebührlich und wird deswegen zukünftig verweigert.
- Alle Forderungen ergeben sich aus dem Wort Gottes. Sollten sie sich durch das Evangelium als unberechtigt erweisen, wolle man von ihnen Abstand nehmen.
Diese Forderungen verbreiteten sich in Windeseile im deutschsprachigen Raum. Nicht nur in der Zürcher Landschaft, auch in Schaffhausen, Thurgau und weiteren eidgenössischen Gebieten brachen Unruhen aus, die Obrigkeiten unter Druck setzten.
Die Ironie ist, dass diese Obrigkeit in vielen Fällen bereits dem protestantischen Glauben angehörte. Tatsächlich bekamen Reformatoren wie Zwingli in Zürich oder Luther in Deutschland angesichts der Bauernunruhen Angst vor ihrem eigenen Mut.
«Reformatoren wie Zwingli in Zürich oder Luther in Deutschland
bekamen angesichts der Bauernunruhen Angst vor ihrem eigenen Mut.»
Die Reformation hatte zwar die Rechte und Freiheiten des Individuums betont und die kirchliche Autorität in Frage gestellt. Als die Untertanen diese – damals radikalen – Ideen in die Praxis umsetzen wollten, krebsten ihre Vordenker zurück. Luther verurteilte die Aufstände in den schärfsten Tönen.
In Deutschland entwickelten sich die Unruhen zu einem militärischen Konflikt, der als «Bauernkrieg» in die Geschichte einging – wobei dieser Begriff die Tatsache verdeckt, dass die Aufstände von breiten Schichten der Bevölkerung getragen wurden. Peter Blickle, Historiker an der Universität Bern, sprach von einer «Revolution des gemeinen Mannes», der Bauern wie auch der Bürger in süddeutschen Städten. Diese Revolution hatte fürs Erste keinen Erfolg: Der Krieg endete mit einer vernichtenden Niederlage der Aufständischen.
Im Gegensatz zu Deutschland eskalierte in der Schweiz die Gewalt (noch) nicht. Die Herrschenden versuchten, die Untertanen mit kleinen Zugeständnissen zu besänftigen. In Zürich wurde die Leibeigenschaft aufgehoben und der Kleinzehnt fiel weitgehend weg. Dadurch beruhigte sich die Stimmung etwas. Gleichwohl blieb die aufmüpfige Landschaft eine ständige Bedrohung, die sich unter anderem im Bauernkrieg 1653 in Bern, Luzern und weiteren Orten entladen sollte.
Unmittelbar erreichten die Aufständischen 1525 wenig. Doch die Saat war ausgebracht. Langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass politische Autorität nicht von Gott gegeben ist und dass Menschen nicht anderen gehören, sondern frei geboren sind und angeborene, unveräusserliche Rechte haben.
Die «Revolution des gemeinen Mannes» scheiterte zwar, stärkte aber das Bewusstsein für individuelle Rechte und Freiheiten. Damit war sie ein Vorbote der Aufklärung und ein Treiber der demokratischen Entwicklung. Die plündernden Bauern dürften für die Entwicklung der Menschenrechte somit bedeutender gewesen sein als so mancher grosse Philosoph.