Aufgelaufen
Wir haben eine moralische Pflicht, Flüchtlingen zu helfen. Doch die Art, wie das bislang geschah, ist falsch – mit katastrophalen Folgen.
Der Bürgerkrieg in Syrien, und die Vertreibung der Hälfte der dortigen Bevölkerung, ist die Tragödie unserer Zeit. Wir können uns nicht abwenden von diesen zehn Millionen Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten. Wir stehen vielmehr vor einem moralischen Test, den jede anständige Gesellschaft bestehen sollte. Das Ausmass der Vertreibung ist beachtlich, aber es ist nicht unmöglich zu bewältigen: Dies ist eine Art von Katastrophe, für die das 21. Jahrhundert gerüstet sein sollte. Oder vielmehr: für die es dringend gerüstet sein muss.
Trotz Jahrzehnten globalen Wirtschaftswachstums ist die Zahl flüchtender Menschen heute so hoch wie zu der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Wachstum zieht an jenen fragilen Staaten, deren wiederholte Implosionen die Wanderungen auslösen, vorbei. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen. Doch um ihr gewachsen zu sein, reicht das instinktive Mitgefühl nicht aus, das wir angesichts des Leidens so vieler Menschen empfinden. Wir müssen auch gründlich nachdenken; wir brauchen unser Herz und unseren Kopf. Mitten in einer eskalierenden humanitären Krise befinden wir uns, weil genau dies bislang nicht geschehen ist. Was getan wurde, oszillierte stattdessen zwischen herzloser Verkopftheit einerseits und kopfloser Gefühligkeit andererseits. Die Richtschnur, die wir für unser Denken und Handeln stattdessen brauchen, finden wir in der Ethik. Genauer: im ethischen Konzept der Pflicht zu helfen.
Wir brauchen unser Herz und unseren Kopf.
Eine Familie, die vor Gewalt flüchtet, ist eine Analogie zu einem lang etablierten Fallbeispiel des Moralphilosophen Peter Singer: dem ertrinkenden Kind im Teich. Passanten, so das Lehrbeispiel, haben eine eindeutige moralische Pflicht, jenes Kind aus dem Wasser zu ziehen. Es steht ihnen nicht zu, in diesem Moment zu protestieren: «Wo sind die Eltern?» oder «Warum gibt es hier keinen Zaun?». Das Kind ruft in dieser Situation entsprechend nicht: «Ich bestehe auf meinen Rechten!»; es ruft: «Hilfe!» Haben wir das Kind aus dem Wasser geholt, sollten wir es nach unserem besten Vermögen trocknen und es sicher zu seinen Eltern zurückbringen. Das gilt als unsere moralische Pflicht. Wenn wir das nun auf die vertriebene syrische Familie übertragen – was ist das Äquivalent dazu? Was ist unsere moralische Pflicht? Es ist diese: alles uns vernünftig Mögliche zu tun, um Normalität wiederherzustellen.
Das Wohlfahrtsprogramm des UNHCR
Unsere Möglichkeiten genau dazu sind eingeschränkt gegenüber jenen fünf Millionen Menschen, die in Syrien selber verblieben sind. Sie sind aber deutlich grösser bei jenen fünf Millionen, die über die Grenzen in eines der Nachbarländer geflohen sind. Die Kernfrage, die wir uns stellen müssen, ist also jene: «Was macht, über das schiere Überleben hinaus, Normalität aus?» Für das gesamte internationale Flüchtlingshilfesystem scheint die Antwort klar: Essen und ein Dach über dem Kopf. Entsprechend strukturiert es seine Unterstützung in einer Form, in der diese beiden möglichst effizient geliefert werden: in Lagern.
Doch das internationale Flüchtlingshilfesystem ist in den späten 1940ern entstanden, um die Heimatlosen aus Zentraleuropa aufzufangen – viele davon Deutsche, die vor den Russen flohen, oder Juden, die aus den Konzentrationslagern befreit worden waren. Essen und ein Dach über dem Kopf waren tatsächlich das, was diese Menschen brauchten. Manche flüchtenden Menschen brauchen auch heute noch genau das. Doch die allermeisten haben eine andere Priorität: Heutige Flüchtlinge wissen, dass es noch Jahre dauern kann, bis Gewalt und Chaos in ihrer Heimat aufhören. Stellen Sie sich nun vor, Sie und Ihre Familie wären in dieser Situation. Was würden Sie tun? Würden Sie sich darauf einstellen, Jahre in einem Flüchtlingslager zu verbringen? Täglich Gutscheine für Ihre garantierten Essensrationen zugeteilt zu bekommen und einen zugewiesenen Container als Wohnraum?
Die meisten Syrer, und die meisten Flüchtlinge weltweit, entscheiden sich dafür, das gesamte internationale Hilfssystem zu ignorieren. Sie machen sich stattdessen in Städte auf, versuchen möglichst, Arbeit zu finden, wenn nötig illegal. Warum sie das tun, ist nicht schwierig zu verstehen. Ihre oberste Priorität ist dieselbe, die auch die Ihre wäre: Sie wollen ihre Autonomie zurück.
Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR und sein Schattengeflecht aus NGO sind zum Zweck der Fürsorge gebaut. Wie alle Wohlfahrtsprogramme betrachten sie Menschen als passive Empfänger – und machen sie damit, unvermeidlich, zu Kindern. Es ist ein Zeugnis für die Heldenhaftigkeit des menschlichen Geistes, dass so viele flüchtende Menschen sich stattdessen für den harten Kampf um ein eigenes Auskommen entscheiden, immer in Gefahr und unter dem Radar der Regulationen, die ihnen das verbieten. Unser Mitgefühl ist in der Tat berechtigt. Nur sollten wir es richtig einsetzen: Wir sollten alles in unserer Macht Stehende tun, um diese Menschen in ihrem Kampf um Autonomie zu unterstützen. Wir können sehr viel tun für syrische Flüchtlinge. Nur was?
Was wir tun sollten – und was nicht
Wir sollten uns zunächst bei unseren Bestrebungen auf zwei wichtige Prinzipien stützen: jenes der Solidarität und jenes des komparativen Vorteils. Jede Gesellschaft, die dazu in der Lage ist, hat gegenüber Flüchtlingen die moralische Pflicht zu helfen. Es spielt, wie auch beim Kind im Teich, keinerlei Rolle, ob jemand mitverantwortlich für die Notsituation ist. Die Segen oder Schäden westlicher Intervention oder Nichtintervention in den internen Konflikten des Nahen Ostens sind irrelevant für unsere moralische Pflicht. Es greift das Prinzip der Solidarität: Kein Land, das zu helfen in der Lage ist, kann sich auf den Standpunkt stellen, es habe mit dem Ganzen nichts zu tun. Neben der Solidarität gilt allerdings noch ein anderes Prinzip: jenes des komparativen Vorteils. Jede Gesellschaft sollte das beitragen, was sie am besten kann. Das ist darum essenziell, weil die globale Reaktion effizient sein muss: Angesichts des Ausmasses der heutigen Krisen wird das darüber entscheiden, ob wir unsere Pflicht zu helfen erfüllen können oder nicht. Ohne Effizienz wird manch nationaler Effort zur Symbolhandlung: ein paar tausend Flüchtlinge werden umgesiedelt, Millionen dafür dem Verfall überlassen.
Im Fall eines Konflikts sind es meist die Nachbarländer, die sich als sicherer Hafen anbieten. Sie sind am einfachsten zu erreichen, und nicht selten pflegen sie dieselbe Muttersprache. Die meisten Flüchtlinge weltweit konzentrieren sich heute an zehn solcher Fluchtorte. Üblicherweise überqueren auf der Flucht zwei Drittel der Menschen nicht einmal ihre eigene Landesgrenze. In Syrien taten das etwas mehr als sonst, weil ein Grossteil der Bevölkerung nahe einer internationalen Grenze lebt. In ein nah gelegenes Land zu flüchten ist auch deshalb wertvoll, weil es den Kontakt mit allenfalls Zurückgebliebenen erleichtert, und um wieder heimkehren zu können, wenn sich die Lage beruhigt. Drei der Nachbarländer Syriens nahmen vorbildlich ihre Pflicht zu helfen wahr, als der Konflikt im Jahr 2011 losbrach: die Türkei, Jordanien und Libanon. Irgendwann begannen sie allerdings, ihre Grenzen zu schliessen, weil die finanzielle Belastung zu viel für sie wurde. Dies ist aus dem Grund geschehen, dass wir unseren Teil der Pflicht nicht übernommen haben. Unsere Aufgabe ist nämlich nicht dieselbe wie die der Nachbarn.
Als Nazideutschland seine jüdischen Bürger verfolgte, war die moralische Pflicht für die anderen Staaten Europas klar: Sie hatten sich als sichere Häfen anzubieten. Sie waren damals in der Situation, in der Jordanien, die Türkei und Libanon heute sind. Doch im Syrienkonflikt ist die Aufgabe der europäischen Staaten eine andere. Es ist offensichtlich, was dieses Mal unser komparativer Vorteil ist: Wir sind um ein Vielfaches reicher als diese benachbarten Fluchtorte. Also sollten wir einen Grossteil der Rechnung übernehmen. Wir können von den Zufluchtsorten in der Krisenregion nur erwarten, dass sie ihre Pflicht tun, wenn wir unsere auch tun.
Jobs statt Fürsorge
Bislang haben wir lediglich über essenzielle physische Sicherheit gesprochen. Doch eben: Autonomie umfasst mehr. Um auf eigenen Füssen zu stehen, brauchen Flüchtlinge zwingend Arbeit. Sie brauchen Jobs, und das ist etwas, was die Nachbarländer – oft selber arm – nicht bieten können. Internationale Grossunternehmen, die Zugang zu weltweiter Produktion und Handel haben, haben ihre Hauptsitze in reichen Ländern, nicht dort vor Ort. Sie haben das Know-how, um neue Mitarbeiter einzustellen, sei es Einheimische oder Flüchtlinge. Hier liegt der zweite Teil unserer Pflicht, und er ist deutlich anspruchsvoller, als finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen: Wir sollten Anreize schaffen, damit Unternehmen Jobs anbieten.
Erstens geschieht das über Marktöffnung. Die Türkei hat bereits vollen Zugang zum europäischen Markt. Jordanische Produkte waren bis 2016 mit Schutzzöllen belegt, inzwischen hat es für zehn Jahre unbeschränkten Marktzugang erhalten.
Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass humanitäre Silos wie UNHCR und Nichtregierungsorganisationen nicht länger alle für das Flüchtlingsthema investierten Gelder kontrollieren. Letzten Oktober beispielsweise hat die Weltbank einen Kredit an Jordanien gesprochen, der im Arbeitsmarkt eingesetzt werden soll. Wir sollten besser mehr auf diese Weise investieren. Für jeden Dollar, mit dem die Länder Europas jeden einzelnen der kleinen Minderheit von Flüchtlingen hier in Europa subventionieren, geben sie für die vielen Flüchtlinge, die in ihrer Heimatregion geblieben sind, weniger als einen Cent pro Kopf aus. Das ist ein groteskes Ungleichgewicht, und es ist eher ein Zeichen für Europas kopflose Selbstfixierung denn eine überlegte Wahrnehmung unserer Verantwortung.
Um auf eigenen Füssen zu stehen, brauchen Flüchtlinge zwingend Arbeit.
Es ist richtig, dass jedes Land aus symbolischen Gründen einen kleinen Teil jeder Art von Hilfe beisteuert: sicherer Hafen, Geld und Jobs. Aber sinnvolle Unterstützung ist nur dann möglich, wenn jeder nach seinen komparativen Vorteilen handelt. Genau das ist leider überhaupt nicht geschehen. In den ersten vier Jahren des Syrienkonflikts stellten sich die europäischen Länder auf den Standpunkt, ebendieser gehe sie nichts an. Erst als eine kleine Minderheit von Flüchtlingen sich von der Türkei aus auf den Weg nach Europa machte, wachte man auf. Statt um die Ausgestaltung einer moralischen Pflicht, auf die sich die allermeisten Menschen einigen könnten, ging es jetzt, plötzlich und unvermeidlich, nur noch um die Frage: «Lassen wir sie rein?» Das wiederum führte sofort zum derzeit hitzigsten und hässlichsten Thema in der Politik: «Sollten wir überhaupt Muslime reinlassen?» Die ganze Debatte verkam innert kürzester Zeit zu einem höchst polarisierten Konflikt zwischen zwei uns bestens vertrauten Lagern: Die einen glauben, für sich moralische Überlegenheit und Anstand gepachtet zu haben, die anderen, sie müssten verzweifelt die Verteidigung ihrer unter Angriff stehenden Gesellschaften schultern. Die Politiker ihrerseits haben erst mit kopfloser Gefühligkeit mit der ersten Gruppe geflirtet, nur um dann auf die herzlose Verkopftheit der zweiten zurückzufallen. Dabei unterlag man einem hauptsächlichen Irrtum: Flüchtlinge mit Migranten zu verwechseln.
Flüchtlinge sind nicht Migranten
Flüchtlinge sind definitionsgemäss eben genau keine Migranten. Es sind Menschen, die sich eigentlich gegen Migration entschieden hatten: Sie hatten ihr Leben in ihrer Heimat eingerichtet, doch ihre Heimat ist für sie nicht mehr sicher. Es gibt einen guten Indikator dafür, ob ein Aufbruch ein freiwilliger Entscheid war oder vielmehr die Antwort auf eine force majeure oder höhere Gewalt: jenen, ob die demographische Zusammensetzung der sich bewegenden Gruppe ganz bestimmte Merkmale hat oder ob sie vielmehr repräsentativ ist für die gesamte Bevölkerung. Freiwillige Entscheide führen immer zu Selektion; Migration ist für Menschen mit unterschiedlichen Charakteristiken unterschiedlich attraktiv. Höhere Gewalt jedoch schlägt völlig unabhängig davon zu. Syrische Flüchtlinge – jene Menschen, die über die Grenzen in ein Nachbarland gestolpert waren – hatten jene Merkmale, die durchschnittliche Syrer haben: in Alter, Geschlecht und Bildungsstand. Flüchtlinge verlassen ihre Heimat aus Angst; Migranten aus Hoffnung.
Auch die Zielorte von Migranten und Flüchtlingen sind völlig unterschiedlich. Migranten ziehen in Richtung Glitzerwelt: Standorte lassen sich problemlos nach ihrer Attraktivität auf einer Rangliste einteilen. Flüchtlinge reisen nicht an Traumstandorte – sie suchen den nächstmöglichen sicheren Hafen. Jede der zuvor erwähnten zehn häufigsten Fluchtdestinationen der Welt ist selber ein Auswanderungsland; es sind allesamt arme Länder. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die, dass sie in aufgewühlter Nachbarschaft leben.
Migranten bereiten sich bewusst darauf vor, in einer neuen Gesellschaft zu leben. Während der jüngsten niederländischen Wahlen forderte Premierminister Mark Rutte Immigranten auf, «sich normal zu verhalten oder zu gehen». Es ist eine ethisch völlig vertretbare Forderung an jene, die freiwillig kommen, und eine, die eine Mehrheit zu erfüllen bereit ist. Das Hauptziel von Flüchtlingen allerdings ist es wie gesagt, ihre Normalität wiederherzustellen, nicht, sich auf eine neue Gesellschaft einzulassen. Ganz im Gegenteil: ihre Priorität dürfte in den meisten Fällen die sein, möglichst nah mit der Kultur ihrer Gemeinschaft verbunden zu bleiben. Ein menschlicher Umgang mit Vertreibung sollte diese eigentlich verständliche Sehnsucht nicht von vornherein und komplett ablehnen.
Jedenfalls: Flüchtlinge sind nicht Migranten. Angesichts der Tatsache, dass eine Mehrheit in westlichen Gesellschaften heute weitere Immigration ablehnt, ist dieser Unterschied wichtig. Er lässt politischen Spielraum für Regierungen, ethisch und effektiv zu helfen. Damit das aber geschehen kann, müssen wir dringend aufhören, bei der Suche nach einer Lösung von «Bringt sie her!» zu reden. Stattdessen geht es um «Verschafft ihnen Jobs!».
Nach Europa zieht die Elite
An dieser Stelle ist zu sagen, dass ein Flüchtling natürlich sehr wohl zum Migranten werden kann, wenn dies ausreichend verlockend wird. Genau das geschah, als Nordeuropa im Jahr 2015 vorübergehend seine Grenzen öffnete. In den Medien waren Bilder von tausenden umherziehenden Menschen zu sehen. Dabei wurde allerdings übersehen, dass die weit überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge aus Syrien unverändert in den sicheren Nachbarländern geblieben war. Während die Massenflucht aus Syrien demographisch breit gemischt war, war das die deutlich kleinere Bewegung nach Europa nicht. Sie war höchst selektiv. Anders, als die präsentierten Fotos von Frauen und Kindern es vermuten liessen, waren 70 Prozent dieser Menschen Männer. Weil Plätze auf Schmugglerbooten teuer sind – mehr als das Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Syrers –, waren diejenigen, die Europa erreichten, wohlhabend. Vor allem aber, wie bei aller Migration von armen zu reichen Ländern, waren es die Hochqualifizierten, für die der Schritt am verlockendsten war.
Im Rahmen unserer Recherche für das Buch «Gestrandet»1 haben mein Koautor Alex Betts und ich die Demographie der in Europa gelandeten Flüchtlinge mit jener der syrischen Flüchtlinge in den sicheren Nachbarländern verglichen. Insgesamt sind weniger als 5 Prozent der syrischen Bevölkerung nach Europa gekommen; doch wir schätzen, dass diese kleine Gruppe zwischen einem Drittel und der Hälfte aller syrischen Universitätsabsolventen ausmacht. Das sind genau die Menschen, die Syrien später für seinen Wiederaufbau so dringend braucht. Entgegen dem Vokabular geht es nämlich bei ebendiesem «Aufbau» viel weniger darum, Beton zu vergiessen; es geht darum, Organisationen wiederherzustellen. Statt uns übermässig dafür zu interessieren, ob sich Syrer in Europa integrieren werden, sollten wir sie vielmehr ermuntern, ihren Draht zur Heimat nicht zu verlieren, so dass sie heimkehren und beim Aufbau helfen können, wenn in ihrer Heimat Frieden herrscht. Wir sollten keinesfalls, nicht einmal aus Versehen, einer so geprüften Gesellschaft auf ewig ihre spärlichen menschlichen Ressourcen wegnehmen.
Selbstverständlich, und je nach Entwicklung, werden nicht alle Menschen wieder heimkehren können, weil sie dort allenfalls Ziel von Racheakten werden würden. Es wird immer einzelne Menschen geben, die in Gefahr vor Verfolgung sind und einen sicheren Fluchtort brauchen. Auch dafür brauchen wir effektive Prozesse. Aber die Vorstellung von Flüchtlingen als einzelnen verfolgten Individuen ist längst überholt. Die meisten Flüchtlinge fliehen als grosse Gruppen vor Unruhen oder Hungersnöten. Sie suchen ein Leben in Normalität, nicht ein neues Leben in einer fremden Gesellschaft.
Und jetzt?
Unser Versagen in der Flüchtlingspolitik ist Teil eines grösseren Politikversagens ganz generell, das manche Länder trotz globalem Wachstumstrend aussen vor liess. Internationale Organisationen wie die Weltbank hätten längst zur Aufgabe gehabt, sich einerseits um Wachstum in fragilen Staaten und andererseits um Jobs für Flüchtlinge zu kümmern. Sie haben Jahrzehnte lang versagt. In meinem früheren Buch «Die unterste Milliarde»2 stellte ich den Fall der Zentralafrikanischen Republik als ein typisches Beispiel eines sträflich vernachlässigten fragilen Staates vor: Weder die Weltbank noch der IWF waren vor Ort. Ein Jahrzehnt, ein Komplettzusammenbruch und eine humanitäre Krise später wimmelt es im Land vor Entwicklungsorganisationen. Vor allem aber gibt es endlich Anzeichen von Innovation: die Weltbank hat begonnen, für private Firmen, die vor Ort investieren, einen Teil des Risikos zu übernehmen. In Grossbritannien verfolgt Briti Patel, die Ministerin für Entwicklung, einen ähnlichen Ansatz. Weil zu lange nicht erkannt wurde, dass die Fragilität mancher Staaten weltweit Folgen hat, wurden zu lange die falschen Akzente gesetzt.
Wenn die internationalen Organisationen das Jobwachstum und überhaupt Wachstum und Wiederaufbau vor Ort zur Priorität machen, könnte es endlich möglich werden, dass wir unserer Pflicht zu helfen nachkommen. Dabei sollten wir uns von der Denkfaulheit befreien, einfach von der Vergangenheit auf heute zu schliessen, wenn es um Flüchtlinge geht. Die wenigsten Juden, die den Holocaust im Exil überlebt hatten, wollten nach dem Fall des Naziregimes wieder nach Deutschland zurückkehren. Das Ziel hier war tatsächlich der Umzug auf immer. Doch die meisten der heutigen Flüchtlinge äussern die Hoffnung, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Bis dahin sollten wir ihnen jene Autonomie und Gemeinschaft ermöglichen, die eine Normalität ausmachen. Gleichzeitig aber sollten sie ernsthafte Chancen auf eine Rückkehr haben. Dafür spielen Firmen und Unternehmer die wichtigste Rolle, nicht NGO und Juristen. Wir müssen unsere Pflicht zu helfen in Sitzungszimmern erfüllen, nicht in Verwaltungsräumen.