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Aufgaben und Möglichkeiten einer Opposition in der Schweiz heute
Fred Luchsinger. Bild NZZ

Aufgaben und Möglichkeiten einer Opposition in der Schweiz heute

Abbruch oder Reform?

Lockerung der nationalen «Disziplin»

Die ganze Kollektion oppositionellen Verhaltens, die uns die Gegenwart liefert, ist nicht unter einen Hut zu bringen. In Osteuropa richtet dieses Verhalten sich gegen das, was sich selber als die «fortschrittliche» Gesellschaft bezeichnet, aber längst festgefahrenes, repressives Establishment geworden ist, um dem Vokabular der Marcuse oder Bloch in diesem Fall die Ehre anzutun, und es drängt teilweise zurück zu lange verschlossenen Möglichkeiten liberal-freiheitlicher Demokratie, zurück also zu Formen, die von oppositionellen Bewegungen im freien Westen wiederum verworfen werden und die geradezu mit revolutionärem Umsturz liquidiert werden sollen.

Gemeinsam ist allen diesen so verschiedenartigen Oppositionen vielleicht aber doch ein Ausgangspunkt: Wir treten aus einer langen Ära heraus, oder genauer: Wir haben das Gefühl oder bilden uns ein, aus einer Ära herauszutreten, in der die Existenz der meisten Staaten unter dem Schatten von Bedrohung, Abwehr, Verteidigung oder aber von manifester Gewalt stand, in der innere Politik somit entweder freiwillig mehr oder weniger dem Gebot einer gewissen Disziplinierung und des Zusammenhaltes folgte oder aber von oben gewaltsam der Disziplinierung unterworfen war. Mit der Lockerung der Bedrohung oder des Eindruckes der Bedrohung lockert sich solche Disziplin: Bündnisse zerfallen, die Regierungen drängen nach äusserer Bewegungsfreiheit und sind ihrerseits im Inneren dem Drang nach grösserer Bewegungsfreiheit und einem wenig mehr von Bedenken gezügelten Kräftespiel ausgesetzt.

Was die Generation, die die Ära zwischen 1933 und 1962 zu bewältigen hatte – um die Stichdaten des beginnenden Nationalsozialismus und des bisher letzten direkten und dramatischen nachstalinistischen Machttests zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu nennen –, was diese Generation in Haltung und Reaktionsweisen bestimmt hat, was sie an Zusammenschlüssen und politischer Gemeinsamkeit oder aber, auf der autoritären und totalitären Seite, was sie an Herrschaftsmethoden entwickelt hat, das ist nun dem kritischen und zum Teil verständnislosen Blick derer ausgesetzt, die von dieser Ära nicht geprägt worden sind und denen nun manches wieder möglich scheint, was ihren Vätern unmöglich schien und immer noch unmöglich scheint.

Eine solche generelle Deutung erklärt aber wenig, und sie kann nicht als Passepartout der Interpretation dienen. Sie könnte höchstens ein Ansatzpunkt sein für die Beantwortung der Frage, warum Opposition ganz allgemein in unseren Jahren grössere Bedeutung erhält und warum sie Dinge in Zweifel zieht, die lange ausser Zweifel gestanden haben und geradezu tabu waren…

 

Zweiparteien- und Vielparteiensysteme

 Was aber bedeutet hier, bei uns, in diesem unserem Staat Opposition, und was kann sie ausrichten? Mir scheint, dass einzelne Gruppen, und ich meine durchaus nicht nur studentische, in der allerjüngsten Zeit Begriffe und Verhaltensweisen auf unser politisches Leben und auf unsere Auseinandersetzungen übertragen, die in unseren Verhältnissen nicht richtig platziert sind. Wir werden uns schon den Begriff der politischen Opposition in seinen Varianten daraufhin näher ansehen müssen.

In seiner sozusagen klassischen Form ist er im angelsächsischen, genauer im britischen Zweiparteiensystem eigentlich zu Hause, in einem Zweiparteiensystem, das nur in einem geringen Grade in der politischen Struktur weltanschaulichte oder durch spezifische Gruppeninteressen bestimmte parteimässige Differenzierung zum Ausdruck bringt, sondern das sich mit einer höchst einfachen pragmatischen Scheidung und Gruppierung der Kräfte begnügt: mit der Scheidung der «ins» und der «outs», der regierenden Mehrheit und der Minderheit, die den Regierenden widerspricht und sie ablösen will. Das ist neben der Trennung der Gewalten und anderen «checks and balances» dem angelsächsischen Staatsgeist Garantie genug dafür, dass Willkür und Übermut der Herrschenden im Zaun und Macht unter Kontrolle gehalten werden. Es bietet zugleich, wenn nicht eine Garantie, so doch eine einigermassen fundierte Aussicht auf Wechsel der regierenden Equipe und Gruppe, nämlich durch den Rollentausch im Gefolge einer Wahl, die die Minderheit zur Mehrheit macht und umgekehrt.

Der Zustand ist offenkundig ein anderer in den kontinentalen Vielparteiensystemen, die sich stärker differenziert haben und wo damit in der überwiegenden Zahl der Fälle eine einzelne Partei nicht mehr die Möglichkeit hat, allein die Mehrheit über alle andern zu erreichen. Die regierende Mehrheit ergibt sich demnach aus Koalitionen. Die Wählerschaft hat es nicht mehr unbedingt in der Hand, zu bestimmen, wer regiert. Es kommt zur «Wahl nach der Wahl», auf die sie keinen Einfluss mehr hat und in der sich in der Absprache der Parteien eine Additionsmehrheit bildet; der Wähler kann betrogen werden oder sich betrogen fühlen: Die Partei, die die grössten Wählerzahlen hat, kann durch ein Bündnis aller andern in die Minderheit gesetzt werden, zwei Parteien, die sich erbittert bekämpft haben, können sich ihm plötzlich Arm in Arm als Regierungspartner präsentieren. Und er kann nichts dagegen tun; seine Rolle ist darauf beschränkt, alle paar Jahre einen Abgeordneten aus einer Parteiliste zu wählen, weiteren Einfluss auf das Regierungsgeschäft hat er nicht.

Eine Oppositionspartei versucht zwar, die Stimmen des Protests gegen das Bestehende auf sich zu ziehen. Was sie will, ist aber in der Regel nicht der Protest in Permanenz, die Opposition um ihrer selbst willen, sondern die Übernahme von Verantwortung und Beteiligung an der Macht, also die Überwindung ihrer Oppositionsstellung. Mit anderen Worten: Die Stimme des Protestes fühlt sich dann von ihrer politischen Sachwalterin, der Oppositionspartei, verraten, grundsätzlich gemeinte Opposition fühlt sich politisch heimatlos, von Taktik überspielt und konstituiert sich als «ausserparlamentarische Opposition».

 

«Das Volk als Opposition»

Gegenüber der Vielparteienstruktur der kontinentalen, mehr oder weniger liberalen Demokratien scheinen unsere Verhältnisse noch um einen Grad komplizierter. Komplizierter dadurch, dass unsere Verfassung das Geschäft des Entscheidens wie des Widersprechens und Kontrollierens der Macht nicht schlechthin an ein Parlament und an die von ihm bestellte Regierung verweist, sondern in allen entscheidenden Fragen dem Volk der Stimmbürger selber reserviert. Opposition ist also nicht einfach Sache der «outs», der Gruppen, die im Parlament sitzen, ohne an der Regierungsverantwortung teilzunehmen, sondern in Letztinstanz des Volkes selber, und zwar auch und in erster Linie in umstrittenen Sachfragen von Bedeutung.

Das ist keine Angelegenheit von theoretischer, sondern von eminent praktischer Bedeutung. Es gibt keine Verfassung, die es dem Volk von den Institutionen her so leicht macht, seine Regierung und gegebenenfalls die ganze kompakte Majorität seines Parlamentes zu desavouieren, wie die schweizerische. Ein Referendum gegen eine Gesetzesvorlage oder einen Bundesbeschluss, d.h. die Sammlung von 30 000 Unterschriften zur Erzwingung einer Volksabstimmung, ist keine Sache von prohibitiver Schwierigkeit; eine aktive Studentengruppe vermag es, wie seinerzeit im Fall der ersten Posttaxenerhöhung nach dem Krieg; der Konsum Denner bringt es mit der Auflage von Unterschriftenbogen auf dem Ladenkorpus gegen das Tabakgesetz spielend zustande.

Die Möglichkeit ist nicht nur eine defensive, und sie ist nicht auf Sachvorlagen beschränkt. Die Bundesverfassung selber, unser staatliches Grundgesetz, ist dem Versuch der Revision, der teilweisen oder der totalen, mit dem Initiativbegehren aufs leichteste zugänglich gemacht; 50 000 Unterschriften wird jede entschlossene Gruppe zusammenbringen, deren Anliegen einige Resonanz in der Öffentlichkeit findet.

Von der Notwendigkeit einer «ausserparlamentarischen» Opposition in diesem Land zu reden, ist also fragwürdig, wenn damit eine Neuerung postuliert werden sollte. Die Möglichkeit ausserparlamentarischer Opposition ist in einem maximalen Grade institutionell gesichert; das Volk selber hat sich in seiner Verfassung als potentielle – und in der Tat oft genug als aktive – ausserparlamentarische Opposition sozusagen konstituiert. Dem Volkswillen sind von den Institutionen her alle Ventile geöffnet, er kann ohne Paragraphenhemmungen umgestalten, partiell oder radikal, wenn er sich Ausdruck zu schaffen sucht, und über ihn hinweg kann nicht regiert werden.

Totalrevision – eine Chance der Opposition

Der Ruf nach mehr Opposition kann also nicht die Institutionen meinen; mehr Möglichkeiten, als unsere Einrichtungen ihr bieten, sind schlechterdings nicht denkbar.

Was meint er dann? Das politische Klima des Landes. Ist es unverrückbar auf der Erhaltung des Bestehenden stabilisiert, schreckt es jeden Versuch der Umwandlung, Veränderung, Anpassung an die Moderne, jede Kritik am Bestehenden ab? Wenn wir von Politik im allgemeinen Sinne sprechen, dann ist die Frage auch nur bei etwas näherem Zusehen zu verneinen. Nicht Sprecher einer Opposition, sondern Repräsentanten jenes Lagers, das man als das «Establishment» bezeichnet, haben mit parlamentarischen Vorstössen für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung nicht weniger als das Ganze unserer staatlichen Struktur und Einrichtungen auf den Tisch zu öffentlicher Diskussion gebracht.

Man kann politisch begründete Zweifel haben, ob etwas konkret Fassbares und Realisierbares daraus werden wird. Aber diese Diskussion über die Verfassung, die völlig offen angelegt ist und keine Tabus kennt, es sei denn das der Erhaltung dieses schweizerischen Staates, ist die grosse Chance auch für jene Opposition im Lande, die sich aus dem sozusagen grundsätzlichen Unbehagen in diesem Staat und seiner Ordnung nährt. Denn gerade das Grundsätzliche, die Ordnung selber ist zur Auseinandersetzung gestellt. Die Chance ist gegeben, dieses Unbehagen zu konkretisieren, konstruktiv, mit Alternativen zu konkretisieren. Hic Rhodus, hic salta, muss ihren Sprechern gesagt werden. Wenn man die Frage nach den Aufgaben und Möglichkeiten der «grundsätzlichen» schweizerischen Opposition stellt: Hier liegen sie zu einem nicht unerheblichen Teil. Wenn sie jetzt schweigt, womit will sie grundsätzliches, generelles Unbehagen dann später rechtfertigen?

Eingemauert in der «Konkordanz»?

Soweit unser gegenwärtiges sogenanntes Malaise die Methode der Politik zur Zielscheibe der Kritik hat, ist es wohl nicht unpassend, sie unter dem Stichwort der «Konkordanzdemokratie» zu fassen. Darunter ist zu verstehen: Regierung durch Absprache vieler Gruppen, die zwar die überwältigende Mehrheit des Volkes und der Interessen vertreten, deren Absprache eben dieser Majorität dann aber doch nicht recht durchsichtig wird; regieren durch den Kompromiss zwischen all diesen vielen Beteiligten, wobei dieser Kompromiss dann zwar wohl das in der bestehenden Konstellation jeweils einzig Realisierbare darstellt, aber eben weil er das darstellt, dann kaum mehr Raum für eine Alternative und damit Raum für wirkliche Entscheidungen lässt. Was nach den Vernehmlassungsverfahren schliesslich jeweils aus dem Bundesratszimmer kommt, sind die vielzitierten ausgewogenen Vorlagen, sorgfältig ausgehandelte Kompromisse auf breitester Basis, ausgehandelt auch oft sichtbar nach dem Grundsatz: Gibst du mir die Wurst, lösch ich dir den Durst. Jede Korrektur kann das Gleichgewicht der Konzessionen der Beteiligten gefährden und damit den Kompromiss schlechthin. Und das Nein läuft seinerseits Gefahr, steril und rein negativ zu sein, weil es ja nicht, oder in der Regel nicht, eine Alternative bietet, die Aussicht hätte, eine Mehrheit zu finden und realisiert zu werden.

Das kann den Eindruck des Eingemauerten, Immobilen erzeugen, den eines regierenden «Establishments», eines Klubs der Kuchenverteiler. Er ist allerdings alles andere als exklusiv. Ihm gehören Gruppen, Kreise, Schichten, Potenzen an, die das oft gar nicht wahrhaben wollen oder nicht wissen – wir alle.

Der Opposition, woher sie auch immer komme, bleiben unter diesen Umständen nur zwei Möglichkeiten: entweder die des harten Neinsagens, die dann bewusst das Feineingefädelte, delikat Balancierte zerstört, ohne Alternativen bieten zu können, oder die der Beteiligung am Einfädeln und Ausbalancieren mit der Aussicht, die Gewichtsverteilung da und dort beeinflussen zu können, mit der Aussicht aber freilich auch, die frische Farbe der Entschliessung, des grundsätzlich oppositionellen – aber schwer realisierbaren – Entwurfs darüber zu verlieren.

Das ist eine irritierende und oft frustrierende Situation für uns alle, und für junge Leute, die im Handeln den grossen Zug sehen möchten, im besonderen. Handeln nimmt in unserem Staat oft und oft fast zwangsweise Miniaturcharakter an, der Bewegungsspielraum für Lösungen ist zwischen den Interessen, die keineswegs immer nur materielle sind, die aber berücksichtigt werden müssen, wenn überhaupt eine Lösung gelingen soll – dieser Bewegungsspielraum ist zuweilen winzig, und die Reibungsmöglichkeiten dagegen sind gewaltig. Die Art, wie wir dieses Konkordanzprinzip handhaben, eben indem wir uns selber einmauern und den Entscheidungen die Alternativen abgraben, ist mit vernünftigen Argumenten oft kaum mehr zu verteidigen. Eine Reform seiner Praxis im Sinne einer Profilierung der Entscheidungen ist nötig.

Im Prinzip aber – wie soll dieses Land in seiner enormen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, staatlichen, sprachlichen, kulturellen, religiösen Vielfalt auf kleinem Raum regiert werden, wenn nicht dadurch, dass diesen Elementen, oder so vielen wie möglich davon, Rechnung getragen wird? Kann man ihm einen Willen, den Willen einer ideologisch geschlossenen Gruppe aufzwingen? Die Erfahrungen wären bald bitter für die, die das Unmögliche versuchen wollten; sie hätten es sogleich mit einer Suisse ingouvernable zu tun. Man kann in diesem Land nicht, wie in einem Zentralverwaltungsstaat, womöglich noch mit autoritärer Führung, dekretieren. Man kann nicht mit dem Finger über die Karte fahren und sagen: Hier soll und wird die Autobahn durchgehen. Tausend Gruppen und Instanzen sind interessiert daran, wo sie durchgeht, und wollen mitreden, und zehntausend Bürger und Korporationen mit legalen und vom Gesetz geschützten Eigentumsrechten würden sich erheben und den Staat als Unrechtsstaat anklagen, wenn er sich zugunsten grosszügiger Projekte einfach über ihre Rechte hinwegsetzte.

Trotzdem werden die Autobahnen gebaut, wenn auch langsam und überperfektionistisch, trotzdem ist ein nationales Werk wie die Alters- und Hinterbliebenenversicherung möglich geworden, trotzdem wird eine imposante Anstrengung zur Modernisierung der Hochschulen unternommen und im Gesetz verankert – trotzdem weist diese komplizierte Gemeinschaft Gemeinschaftsleistungen vor, die sich mit denen der stärkeren Nachbarn ohne weiteres messen können.

Überwundene Spaltung

Die breite Konkordanz, in deren Zeichen wir regiert werden bzw. uns selber regieren und die wir mit gutem Recht verantwortlich machen können dafür, dass unsere Regierungsentscheidungen wenig scharfes Profil mehr zeigen, diese Konkordanz ist ihrerseits das Resultat eines nationalen Zusammenschlusses, den unsere Vätergeneration mit nicht minderem Recht als ihre grosse innenpolitische Leistung ansieht. Wir sollten nicht vergessen, was sie überwunden hat: nämlich eine unheilvolle, gefährliche Spaltung der Nation entlang einer sozialen Trennlinie, die nicht mit dem Zusammenbruch des Generalstreiks vor fünfzig Jahren überbrückt war, sondern bis weit in die dreissiger Jahre den Staat aufs schwerste belastet hat. Überwunden also ist eine Konstellation, in der man sich nach Aufgaben und Möglichkeiten der Opposition nicht erst die Frage stellen müsste, die von vehementer Opposition gekennzeichnet gewesen war und die nicht in überaus guter Erinnerung bleibt. Die Integration der Arbeitnehmerschaft in einen breiten nationalen Konsens ist demgegenüber eine politische Errungenschaft erster Ordnung. Ihr Preis liegt darin, dass die Basis der Konkordanz, der Übereinstimmung, der Rücksichtnahme, des Kompromisses noch breiter geworden ist, dass noch einmal ein Stück Terrain der vehementen parteipolitischen Auseinandersetzung und der reinen Majoritätsentscheidung entzogen worden und dem Bereich der ausgleichenden Absprache zugewiesen worden ist – auch wenn diese Absprache selbstverständlich immer wieder der Mehrheit bedarf, die sie sanktioniert. Dieser Preis ist keineswegs unbedeutend und unproblematisch – aber kann man ihn pauschal verweigern, nur um wieder etwas mehr politisches Leben in die Bude zu bringen?

Untauglicher Radikalismus

Wenn die politische Willensbildung in diesem Lande ein so vielschichtiger und komplizierter Vorgang ist – kann man sich wenigstens das Opponieren nicht einfacher machen? Man kann – es kommt nur darauf an, welche Wirkung man im Auge hat. Man kann das «System» insgesamt verwerfen und verurteilen und das «Establishment» verdammen, zu dem man allerdings 90 Prozent der Politiker, «Bern» schlechthin, die Parteien, die Banken, die Industrie, die Gewerkschaften, die Landwirtschaft, die Professoren und Studenten, die Militärs, die Kantonalmacht, die Gemeindepräsidenten und Kirchenführer zu rechnen hat – kurz: alles, was irgendwie direkt oder indirekt die Hände im helvetischen Kompromiss hat oder ihn vertritt. Wer bleibt da ausserhalb?

Ist damit irgendein Weg gewiesen, wie das Land regiert, gestaltet werden könnte, so dass solche Regierung dann auch die Zustimmung der Regierten fände? Gibt es eine Ideologie, die all die widersprüchlichen und verqueren helvetischen Realitäten in einem Entwurf aus einem Guss aufgehen liesse, die eine Mehrheit fände und der Minderheit erst noch keine Gewalt antäte, wie es das politische Gewissen dieses Landes nun einmal verlangt? Im gegenwärtigen Angebot inklusive der Papiere eines neuen Maoismus oder Anarchismus ist sie jedenfalls nicht zu finden. Es wäre hier auch an ein Wort von Carl J. Burckhardt zu erinnern, des Inhalts, dass ein Kleinstaat wie die Schweiz es sich nicht leisten könne, sich in revolutionären Fiebern zu wälzen; er ginge als eine Willensnation an dem zugrunde, was grössere, geschlossene Einheiten vielleicht zu überstehen vermögen.

Radikal verstandene, gegen das sogenannte System insgesamt gerichtete Opposition in diesem Lande führt entweder in die Utopie und damit in die Isolierung oder in revolutionäre, auf den Umsturz zielende Agitation und damit ebenfalls in die Isolierung. Dass dieses Land, so wie es ist, von innen her mit revolutionären Methoden umgespatet und transformiert werden könnte, ist eine Illusion, die jedem verfliegen wird, der sich näher nicht nur mit ideologischen Deduktionen, sondern auch mit den Realitäten hic et nunc befasst. Auch die vielpropagierte Taktik der Provokation dürfte hier nicht weit führen. Der Effekt dieses Liebäugelns mit der Gewalt wäre kontraproduktiv; er würde die Provokatoren noch mehr isolieren, aber er könnte dazu führen, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, dass Reformen auf der Strecke bleiben, deren Notwendigkeit ohne kakophonische Begleitmusik in ihrer Propaganda sonst eher einleuchten würde.

 

Versachlichung

 Was bleibt von den Aufgaben und Möglichkeiten von Opposition in diesem Lande? Nicht Resignation – das wäre ein schlimmes Missverständnis. Gerade die Konkordanzdemokratie braucht das treibende Element des Widerspruchs, wenn sie nicht in blosser Verwaltung und Schonung von Interessen versinken, sondern Leistungen produzieren soll. Jede Neuerung geht schliesslich auf eine Art Widerspruch gegen das Bestehende zurück. Aber sie bedarf eines Widerspruchs, der die Sachen vorwärtsbringt, das heisst eines an den Realitäten orientierten Widerspruchs.

Das ist ohne Zweifel leichter gesagt als getan: Das Einsteigen in die Realitäten und in die Kenntnis der Realitäten ist eine mühsame Angelegenheit. Jeder weiss das, der einmal mit einem Kopf voll Ideen oder voll von einer Idee eine Kommission hat überzeugen wollen – und Kommissionen sind die abgesteckten Kampfstätten der Konfrontation mit der Meinung der anderen in unserem Lande.

Wo es um die Sachen geht, um Konkretisierung, da ist mit der grossen Gebärde nichts auszurichten. Und auch der oppositionelle Widerspruch verpasst die Sache, geht an ihr vorbei und vermag keine Wirkung auszuüben, wenn er beim sehr allgemeinen, grundsätzlichen, ideologischen Nein aus einer resignierten oder trotzigen Abseitsstellung heraus bleibt.

Versachlichung ist der eminent schweizerische Weg, Politik zu machen. Das ist nicht in der Absicht gesagt, der grundsätzlich gemeinten Opposition den Schneid abzukaufen, sie in das helvetische Kompromissgeschäft einzupacken, zu miniaturisieren und damit zu verharmlosen. Es ist gesagt aus der Überzeugung, dass es keinen anderen Weg gibt als den der Beteiligung am Sachgespräch in dieser oder jener Rolle – dass es aber diesen Weg gibt.

Es hat sich in Kreisen der linksradikalen deutschen Opposition eine Pose gegenüber der Politik herausgebildet – und sie wird nun in einer helvetischen Kopiersucht, die manchmal fast an Japan erinnert, auch bei uns nachgeahmt –, eine Pose, die etwa besagt: Wir meinen zwar Politik mit dem, was wir verkünden, wir wollen die Verhältnisse umgestalten, und zwar gründlich; aber wir sind uns zu gut für eure Art Politik, sie korrumpiert jeden, der sie anfasst, wir bleiben ausserhalb.

Wie man von aussen hineinkommt, wie man von einem «An-die-Politik-Heranreden» zur politischen Gestaltung kommt, das bleibt hier Geheimnis. Das heisst, Geheimnis ist es nicht, die Methode heisst letztlich Umsturz, vorderhand Provokation. Sie führt zu nichts, höchstens zu negativen Wirkungen.

 

Etwas tun statt träumen

Wenn diese Haltung als nicht schweizerisch, d.h. als nicht den schweizerischen Gegebenheiten entsprechend bezeichnet wird, dann sicher nicht aus einem nationalen Affekt oder Superioritätskomplex heraus und weil etwa auch eine bestimmte Art von Politik sozusagen mit der Armbrust, dem helvetischen Gütezeichen, versehen und von «made in Germany» und anderem selbstbewusst abgehoben werden soll. Es ist darum gesagt, weil es eine schweizerische Art, Politik zu machen, in der Tat und objektiv gibt, nämlich die der Beteiligung des Bürgers, auch und gerade des intellektuellen Bürgers. Dieser Staat als eine direkte Demokratie fördert diese Beteiligung nicht nur, er ist geradezu darauf angelegt, nicht nur mit den Abstimmungsentscheidungen, das heisst dem permanenten Rekurs an den Stimmbürger, sondern in der Gestaltung des einzelnen auf allen Stufen. Er ist in einem erstaunlichen Umfang ein Milizunternehmen, wenn man es so ausdrücken kann, das von der Formulierung einer Strategie bis zur Kulturpolitik auf die Mitarbeit der Bürger nicht nur abstellt, sondern angewiesen ist. Es gibt für jeden die Möglichkeit, einzusteigen, und es gibt keine andere Möglichkeit, als einzusteigen.

Die Pflege einer vornehmen oder resignierten oder malkontenten Skepsis gegenüber dem Staat und der Politik mag in Ländern mit entwickeltem Obrigkeitskomplex und entsprechendem Untertanenglauben, in Ländern, wo der Staat aus geschichtlichen Gründen stets als das Fremde, das andere empfunden und wo Politik an Professionals delegiert wird, erklärlich sein, auch wenn sie dort, auch dort, nicht weiterführt. Wir haben von unseren Gegebenheiten her keinen Anlass, sie nachzuahmen.

Versachlichung heisst schliesslich, die allgemeinen, grossen Entwürfe herabzustimmen und zu präzisieren auf das, was im einzelnen unter Berücksichtigung der Gegebenheiten möglich ist. Das heisst sicher Verzicht auf Utopien und revolutionäre Träume, auf den Versuch, grosse Konzepte einer brüderlich egalitären Gesellschaft mit Gewalt – welch ein Widerspruch! – einer widerspenstigen Realität und Mehrheit aufzuzwingen. Aber es heisst, wenn auch mit bescheidenerer Ambition, statt träumen etwas tun.

 

 

Aus einem Vortrag, gehalten vor der Studentenschaft der Universität Basel, 7. Mai 1968.


Erschienen: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 48 (1968–1969), Heft 6

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