Auf nach Libertopia!
Der Liberalismus wird gerade wieder totgesagt. Doch wenn wir bereit sind, unkonventionelle Pfade der Reanimierung zu beschreiten, könnte die Freiheitsidee vor einer ungeahnten Blüte stehen.
In den 1980er Jahren gab es einen recht beliebten Sportwagen, den Toyota MR2. Er war solide, schnittig, nicht zu teuer und verkaufte sich auch nicht schlecht, ausser in Frankreich. Wieso Frankreich? Nun, spricht man «MR2» auf Französisch aus, klingt es nach «emmerdeux» – und der «emmerdeur» (darin steckt «merde») ist der Langweiler oder die Nervensäge. Niemand will einen langweilig-nervigen Sportwagen.
Liberalismus: ein gutes Produkt mit lausiger PR?
Der Liberalismus ist der Toyota MR2 unter den politischen Ideen. Das Wort «liberal» kann als «gesellschaftsliberal» ein Kompliment und als «neoliberal» ein Schimpfwort sein. Doch ein Produkt mit doppeldeutigem Namen ist ein PR-Desaster. Schon Walter Lippmann wusste, dass Menschen nicht nach rationalen Gesichtspunkten oder Fakten entscheiden, sondern nach Stereotypen, letztlich nach Gefühlen.1 Mit Lippmann gewinnt am Ende die bessere PR.
Ausgehend davon muss man feststellen: Vergesst die PR-Strategie für den Liberalismus. Schumpeters Idee, dass Politiker wie Unternehmer auf einem Markt um Kunden, also Wähler, buhlen sollen, kommt an ihre Grenzen, wenn die einen von individueller Anstrengung, Selbstentfaltung und Eigeninitiative reden, während andere Betreuung, Fürsorge und Problemlösung durch Gelddrucken anbieten. Man sollte sich deshalb von der Fixierung auf die beste pädagogische Vermittlung des Liberalismus entweder ganz verabschieden oder zumindest nicht gänzlich darauf setzen. Das parteipolitische Segment ist ein schwaches Vehikel für die Idee der Freiheit. Die bittere, aber letztlich heilsame Medizin verkauft sich neben dem Stand mit Zuckerwasser schlicht nicht.
Erst das Mindset, dann die Wirklichkeit
Stattdessen braucht es eine Veränderung des liberalen Mindsets bei zentralen Kernthemen. Ganz nach dem Motto «The social mood creates the social fact» braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, einen breiteren und längeren Hebel für die Idee der Freiheit. Denn diese überlebt und gewinnt mit der Verbreitung der gesellschaftlichen Stimmung. Nur dieses Mindset und die damit verbundene Veränderung der Realität ist letztlich ein Bollwerk gegen autoritäre, sozialistische, nationalistische Demagogie. Die USA waren diesbezüglich lange Jahre besonders erfolgreich, der Aufstiegsgedanke gehört dort quasi zur DNA. Demagogie schlägt man nicht mit besserer Demagogie, sondern mit der Blossstellung von Demagogie in Form des Realitätstests.
Politik hingegen ist ein Nachahmungsbetrieb, eine Art «Jagdgesellschaft des Neids»: Oh, die einen haben ein Thema «erlegt», vielleicht können wir was davon abhaben? Oh, die anderen haben die Gruppe der (füge ein: Arbeiter, Frauen, Klimakinder, Migranten etc.) vernachlässigt, die sollten wir uns holen. Liberale Politik antizipiert Themen derzeit schlecht und läuft dann der öffentlichen Meinung hinterher. Anstatt selbst für Wind zu sorgen, stellt sie die Segel, um dann ins Ungewisse fortgerissen zu werden.
Liberale stehen dort, wo Erfindungsreichtum zu Hause ist. Sie sind die Architekten der Realität, während Intellektuelle, nach Stalin, nur «Ingenieure der Seele» waren. Der Liberale ist eine Art Homo Faber; er fragt sich, weshalb die Welt so ist, wie sie ist, und wie man sie verbessern könnte. Er will als Unternehmer lieber davon leben, ein Bedürfnis des Mitmenschen zu erfüllen, anstatt von jemandem ausgehalten zu werden, der ihm aufzeigt, dass er es besser kann. Liberale sind die Do-ers, nicht die Talkers. Sie sind Geburtshelfer des Fortschritts. Marx meinte, dass es darauf ankäme, dass Philosophen die Welt veränderten; Liberale gehen eher nach dem Motto des futuristischen Visionärs Richard Buckminster Fuller vor: «Man ändert die Dinge nicht, indem man die Realität bekämpft. Um etwas zu ändern, sollte man eher etwas entwerfen, was das alte überflüssig macht.»
Auf dem Prüfstand der Realität
Die Prinzipien des Liberalismus brauchen keine Werbung, denn sie sind jedem Kind vermittelbar und letztlich die Gesetze jeder lebensbejahenden Entwicklung, verbunden mit einer praktischen Lebensethik der Bescheidenheit: Tu nicht so schlau, du weisst auch nicht alles (Skepsis gegenüber Planung); hab keine Angst vorm Scheitern, aber wenn es passiert, dann steh wieder auf, denn gut Dingʼ will Weile haben (Versuch und Irrtum). Wenn du was willst, musst du etwas dafür tun (there is no free lunch); schau nicht, was jemand sagt, sondern was er tut (skin in the game); wer den Vergleich scheut, hat vielleicht Angst zu verlieren (Markt als Wahrheitsinstrument für Ideen, Qualität, Preise etc.). Es gibt zahlreiche dieser ehernen liberalen Gesetze, die nicht deshalb «ehern» sind, weil sie alt und so schön museal sind, sondern weil sie den Test der Realität bestanden haben. Nur dadurch haben sie überhaupt eine Daseinsberechtigung und sind Bollwerk gegen schwärmerische Planung und menschliche Hybris zugleich.
Aus diesen Prinzipien entsteht für den Liberalen ein inneres Koordinatensystem der Orientierung, das ständig angepasst werden kann und meistens verlässliche Ergebnisse liefert. Dieses Koordinatensystem macht den Freisinnigen skeptisch gegenüber Traditions- oder Erbautoritäten (im Gegenzug zu Leistungs- oder Vernunftautoritäten), lässt ihn eher auf dezentrale statt auf zentrale Strukturen setzen (bottom up statt top down) und mehr auf den tatsächlichen Fortschritt durch Technologie vertrauen als auf versprochenes Heil durch Prophetie. Das Selbsteigentum an Leben und Lebensentwurf schliesslich findet seine natürliche Fortsetzung im Eigentum an den Früchten von Hand und Geist.
Vorbereitung auf den Doomsday
Diese Ordnungsprinzipien sind gerade in akuter Gefahr. Der Geist von 1989 ist verflogen. Spätestens seit der Krise 2008 ist der Liberalismus angezählt und gilt als ökonomisch gescheitert, auch wenn die Gründe für die Krise eher in Konsumismus, Korporatismus und Geldsozialismus zu sehen sind als im freien Markt (Lippmanns Stereotype lassen wieder grüssen). Die grösste Bevölkerungskohorte sind derzeit die Millennials (ca. 1980 bis 2000 geboren), sie werden Wahlen entscheiden und liebäugeln laut Umfragen zu 70 Prozent mit sozialistischen Ideen («Millennial Socialism»). Machen wir uns nichts vor: In einer nächsten Krise wird der Liberalismus als Hauptschuldiger und grosser Sündenbock für alles Böse in der Welt dastehen – und kaum jemand ihn verteidigen.
Der Autoritarismus ist auf dem Vormarsch: Rechter und linker Populismus stehen im Clinch. Hinzu kommt eine moralisch-korrekt-dirigistische Mitte, welche diese Einheitsfront komplettiert. Egal, welche Richtung zuletzt gewinnt, es wird zu Lasten der Freiheit des einzelnen ausgehen. Bei dieser Entwicklung hat der Liberale bisher wie bei einem Pingpongspiel nur zwischen links und rechts hin und her geblickt und sich allenfalls das Einstecktuch glattgestrichen. Dabei hat der Liberalismus gerade in Zeiten des Erstarkens der autoritären Kräfte einen «Unique Selling Point». Er ist die einzige politische Kraft, die das politische Mindset auf der y-Achse (oben/unten) von autoritär hin zu libertär verschieben kann.2 Der Libertäre fragt, wie viel Macht noch beim einzelnen liege und wie viel davon als übertragene Macht bereits im Umlauf sei. Auf dieser Achse allein wird in den nächsten Jahren entschieden, ob die Idee der Freiheit überleben wird.
Die Chance: Der gebundene Riese erwacht
Während autoritäre Kräfte links und rechts bereits in der Vergangenheit unheilvoll zusammengefunden haben (der «National-Sozialismus» ist wohl das frappierendste Beispiel), ist eine produktive Zusammenarbeit links- und rechtslibertärer Kräfte nie wirklich versucht worden oder in Theoriedebatten versandet. Dabei eint diese Lager im Kern mehr als ihre autoritären Antipoden. Manchmal trennt sie sogar nur eine Milchglasscheibe oder eine Begriffsverwirrung: Was die einen als «Missbrauch von Marktmacht» geisseln, kritisieren die anderen als «Korporatismus» oder «Corporate Welfare»; wo die einen die Macht der Hochfinanz kritisieren, sehen die anderen einen Geldsozialismus der Zentralbanken am Werk. Die Ablehnung des Rassismus findet sich bei Gandhi oder Mandela – und Ayn Rand. Links- und Rechtslibertäre eint die Ablehnung von staatlicher Überwachung ebenso wie der geldverschwenderische Militarismus eines politisch-militärischen Komplexes. Für den Wikileaks-Gründer Julian Assange sprechen sich bezeichnenderweise sowohl Noam Chomsky als auch Ron Paul aus. Es kommt nicht von ungefähr, dass der eigentümliche Science-Fiction-Autor Robert Anton Wilson einmal gesagt hat: «Bring die Cannabisfans und Waffennarren zusammen, und du hast eine Art Mehrheit.»
Sound Money, Sound Standards, Small State
Die Herausforderungen der Gegenwart bringen klassisch liberale Kernthemen à la John Locke wie «Leben, Freiheit, Eigentum» wieder verstärkt auf die Tagesordnung. Diese warten nur darauf, mit neuem Leben gefüllt zu werden. Blicken wir deshalb kurz utopisch à la Hayek in die Zukunft. Dort bieten sich mindestens drei Kernthemen für eine breite liberale Brückenkoalition gegen den Autoritarismus an:
Erstens, die Geldfrage. Sie betrifft unmittelbar das Eigentumsrecht. Man muss als Liberaler schon die letzten zehn Jahre unter einem Stein geschlafen haben, um zu übersehen, dass sich gerade die wohl grösste Machtverschiebung seit etwa 200 Jahren anbahnt. Erstmals könnte mit Bitcoin eine privat geschöpfte Form des Geldes am Geldmonopol der Zentralbanken rütteln. Auch hier ist die grösste Kohorte der Bitcoin-Nutzer bei den Millennials zu finden, fast die Hälfte der Bitcoin-Besitzer in den USA definieren sich als libertär.3 Mit zunehmenden Negativzinsen und der damit verbundenen Enteignung verschiebt sich das Mindset der Bevölkerung bereits langsam in diese Richtung, zumal Zentralbanken inzwischen mit eigenem Kryptogeld experimentieren. Hayeks Traum von einer Entnationalisierung des Geldes rückt in greifbare Nähe und der Nobelpreisträger Robert Shiller sieht in Bitcoin ein Beispiel für ein besonders gelungenes ökonomisches Narrativ.
Zweitens, die Freiheit des Denkens, Sprechens, Informierens, Forschens. Das erste Opfer autoritärer Kräfte ist das freie Wort. Die Tendenz zu Denunziationsdebatten, verengten Meinungskorridoren und einer Political Correctness Culture ist nicht zu übersehen und trägt deutliche jakobinische Züge. Während autoritäre Kräfte diese Rechte wie ein Privileg behandeln, haben Liberale die Quasimonopolposition des glaubwürdigen Gralshüters der Standards inne; sie schätzen das Truth-Principle John Stuart Mills und das Konzept des «Marktplatzes der Ideen». Da diese Freiheiten zugleich Basis der Demokratie sind, bedeutet die Verteidigung dieser Rechte zugleich die Verteidigung der Demokratie und damit der einzigen «Bottom-up»-Regierungsform.
Drittens, das Thema Überwachung, Social Scoring und autoritäre Staatsstrukturen. Das Prinzip der Transparenz wird gerade von den Füssen auf den Kopf gestellt, es betrifft immer mehr den Bürger und immer weniger Machthaber und staatliche Strukturen. Die Ausspähung des Bürgers stellt die Frage der Volkssouveränität auf den Kopf. Die Enthüllungen von Edward Snowden (der u.a. von Ayn Rand beeinflusst war)4 haben das Ausmass staatlicher und korporativer Überwachung schonungslos offengelegt. Der Schutz der Privatsphäre im 21. Jahrhundert wird derzeit in rigorosester Form von libertären Cypherpunks, wie Julian Assange, verteidigt.
Haben wir Mut, die eigenen Prinzipien ernst zu nehmen
Der Liberalismus unterliegt wie jede lebendige Idee den Grundsätzen spontaner Ordnung und wird durch seine Akteure gestaltet. Innovation entsteht durch die Kombination von auf den ersten Blick artfremden Ideen. Jeder Fortschritt, jede kreative Idee beruht auf Verknüpfung. Auch das Gehirn ist ein Verknüpfungsorgan. Der liberale Denkapparat zerteilt sich hingegen gerne in abgetrennte Hirnregionen. Vertrauen wir auf eine unorthodoxe Neukombination von Ideen und überlassen wir Sektiererei anderen politischen Denkrichtungen!
Um den Reichtum der liberalen Ideen überhaupt ermessen zu können, braucht es zudem ein «Back to the Roots». Liberale wirken oft seltsam entwurzelt und haben kaum Bezug zu tieferen Denklinien der Vergangenheit. Doch nur gut verwurzelte Bäume halten einem echten Sturm stand. Um die Zukunft gestalten zu können, müssen wir den Mut haben, auch mal Ideen und Vorstellungen von vor 200 Jahren mit Konzepten von morgen zu kreuzen. Wenn wir nicht wollen, dass der Liberalismus im Museum endet, müssen wir ihn einem lebendigen Umfeld aussetzen. Dann können wir uns in der nächsten Dekade nur selbst überraschen: vielleicht ja auch mit einem neuen Begriff oder Namen, wie damals während des Paris-Kolloquiums? Auch der Toyota MR2 wurde in Frankreich letztlich umbenannt. Er heisst jetzt nur noch Toyota MR. Und verkauft sich seitdem besser.
Vgl. Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung. Frankfurt a. M.: Westend-Verlag, 2019. ↩
Siehe als Beispiel für das Quadrantenmodell: http://www.politicalcompass.org/
composers. ↩https://qz.com/1284178/almost-half-of-cryptocurrency-and-bitcoin-bros-identify-as-libertarian/ ↩
Siehe den Film «Snowden» von Oliver Stone von 2016. ↩