Auf leisen Sohlen zur Totalüberwachung
Die EU-Chatkontrolle greift systematisch in unsere persönliche Freiheit ein.
Sie klingt wie eine Dystopie aus einer Netflix-Serie, soll jedoch bald Realität werden: die geplante EU-Chatkontrolle. Der Gesetzesentwurf wurde im Mai 2022 von der EU-Kommission veröffentlicht und wird derzeit in den zuständigen Parlamentskommissionen beraten. Während Datenschützer ein vernichtendes Urteil darüber gefällt haben, verstrickt sich in der Schweiz der Bundesrat in Widersprüche und will sich nicht einmischen.
Dank drei Eigenheiten könnte die EU-Chatkontrolle zum mächtigsten Instrument staatlicher Kontrolle werden, die eine moderne Gesellschaft erlebt hat: Erstens verfolgt sie ein ehrenhaftes und erstrebenswertes Ziel, dem sich kein redlicher Mensch widersetzen kann. Zweitens funktioniert sie mittels Automatisierung flächendeckend und unterbruchsfrei. Und drittens schleicht sie sich so subtil in unser Leben ein, dass wir sie weder hören noch sehen oder spüren. Wer bei der Lektüre dieser Zeilen an George Orwell denkt, liegt genau richtig. Die EU-Chatkontrolle stellt einen systematischen Eingriff in unsere persönliche Freiheit dar.
Doch der Reihe nach: Worum geht es überhaupt? Unter dem bestechenden Titel der Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern will die EU-Kommission sämtliche Anbieter von E-Mail-, Chat- und Messengerdiensten dazu verpflichten, unsere elektronische Kommunikation rund um die Uhr zu überwachen. Niemand wird sich dieser Kontrolle entziehen können, auch wir in der Schweiz nicht. Denn jeder Dienst, der irgendwie in der EU tätig ist, wird von dieser Kontrollpflicht erfasst. Das Ziel ist hehr: Kinderpornografisches Material soll dort identifiziert und dort aus dem Verkehr gezogen werden, wo es am schnellsten verbreitet wird, nämlich in geschützten Kommunikationskanälen. Dieser Zweck soll das Mittel der Massenüberwachung heiligen. Doch dadurch werden fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze über Bord geworfen.
Die Kontrolle erfasst jede und jeden von uns mit einer Software, die in Chatkanälen oder auf Endgeräten implementiert wird und potentiellen Kindsmissbrauch erkennen soll. Dazu gehört die vollständige private oder geschäftliche Kommunikation, also inklusive intimer Gespräche, Familien- und Ferienfotos und Audiogesprächen. Entdeckt die Software auffälliges Material, muss der Anbieter dieses zwingend dem (geplanten) EU-Zentrum gegen Kindsmissbrauch melden. Es braucht dazu weder einen Durchsuchungsbefehl noch eine amtliche Verfügung. Die Macht dieser Zentrale wäre gewaltig: Sie speichert nicht nur die persönlichen Daten, sie definiert auch die Kriterien für die Identifikation von pornografischem Material – ohne diese jedoch offenzulegen.
Das Vorhaben ist in vielerlei Hinsicht hochproblematisch. Staatspolitisch wird damit institutionelle Macht an private Unternehmen übertragen, indem diese nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet werden, hoheitliche Aufgaben zu übernehmen. Doch die Wahrung der Rechtsordnung obliegt dem Staat und ist in dieser Tragweite nicht delegierbar. Darüber hinaus stellt sie jeden Menschen unter Generalverdacht. Schliesslich erfasst die Chatkontrolle jede Nutzerin und jeden Nutzer von elektronischer Kommunikation ohne individuellen Anfangsverdacht, ohne Vorgeschichte oder Vorfall. Sie geht davon aus, dass jede Person ein Kinderschänder sein könnte, der deswegen dauerhaft überwacht werden muss. Viele Menschen nehmen dies achselzuckend hin, da sie «ja nichts zu verbergen» haben. Doch diese Haltung dürfte sich spätestens dann ändern, wenn sie in die Maschinerie einer Falschmeldung an das EU-Zentrum geraten. Dann liegt es nämlich an ihnen, sich daraus zu befreien. Faktisch führt dies zu einer rechtsstaatlich äusserst bedenklichen Beweislastumkehr.
Die geplante Chatkontrolle ist weder mit unserem Gesetz noch mit unserer Bundesverfassung vereinbar und widerspricht sogar der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der unverhältnismässige und andauernde Eingriff in unsere persönliche Freiheit lässt sich durch nichts rechtfertigen, auch nicht durch die – legitime – Bekämpfung der Kinderpornografie. Dennoch ist es auffällig still. Wo bleibt der Aufschrei?