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Auf die Hoffnung folgte
die Ernüchterung

Vor 100 Jahren stimmte die Schweiz dem Beitritt zum Völkerbund zu. Die Debatte über die aussenpolitische Rolle des Landes wurde damit aber erst so richtig lanciert. Kurz nach der Abstimmung gründete ein Kreis von Unterlegenen die «Schweizerischen Monatshefte», den heutigen «Schweizer Monat».

 

Es war ein aussergewöhnlicher Abstimmungskampf. In den zehn Wochen zwischen dem definitiven Parlaments­beschluss, dass die Schweiz dem Völkerbund beitreten solle, und dem Urnengang am 16. Mai 1920 bearbeiteten Befürworter und Gegner die Stimmbürger intensiv mit Postkarten, Plakaten, Zeitungsartikeln, Reden an Versammlungen, Flugblättern in Millionenauflage und mit umfangreichen Broschüren, auch zielgruppenspezifischen für Bauern oder für Katholiken. Zum ersten Mal überhaupt hatte das Volk aussenpolitische Weichen zu stellen. 77,5 Prozent der berechtigten Männer beteiligten sich daran.

Der Bundesrat setzte grosse Hoffnungen in die neuartige internationale Organisation mit Sitz in Genf, die nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs den Frieden durch Zusammenarbeit, Mechanismen der Konfliktregelung und kollektive Massnahmen gegen Aggressoren gewährleisten sollte. Mit dem Völkerbundsrat handelte er aus, dass die Schweiz nach ihrem Beitritt militärisch neutral bleiben konnte; dennoch galt auch für sie die Pflicht, sich an wirtschaftlichen Sanktionen gegen ein zum Krieg schreitendes Mitglied zu beteiligen.

Kampf um Neutralität und Mission der Schweiz

Eine solche «differenzielle» Neutralität bezeichneten die Gegner als widersprüchlich und nutzlos; sie bedeute die Preisgabe einer existenziellen Grundlage der Schweiz. Der «Versailler Völkerbund», wie er als Teil des Friedensvertrags konsequent genannt wurde, sei von seinem Ideal weit entfernt, zumal ihm die USA bezeichnenderweise fernblieben. Die Schweiz würde, so das «Komitee gegen den Beitritt der Schweiz zum Versailler Völkerbund», zu einem «Vasallenstaat der Ententegrossmächte» (Grossbritannien und Frankreich), zu deren politischer Sphäre unter den Mitgliedstaaten auch «ein Dutzend halbwilder, gänzlich unkultivierter Neger- und Indianervölker» gehöre. Die absolute Neutralität war für deren Anhänger keine rein abstrakte Grösse; weil das Deutsche Reich seine Niederlage hart zu spüren bekam (und von der Friedensorganisation vorerst ausgeschlossen war), erwarteten manche eine kriegerische «Revanche».

Die Befürworter wiederum sahen bei einem Nein der Schweiz zum Völkerbund «die Gefahr wirtschaftlicher und politischer Vereinsamung» (so der Bundesrat) oder befürchteten, dass das Land dann ins Schlepptau von Deutschland geriete. Die im Krieg hervorgetretenen Divergenzen zwischen franko- und germanophilen Kräften spielten bei der Beitrittsfrage eine wesentliche Rolle und waren für Gegner wie Befürworter ein Grund, «Finis Helvetiae», das Ende der Schweiz, zu prophezeien, sollte die andere Seite obsiegen. Auf grundsätzlicher Ebene sahen die Promotoren eines Aufbruchs zum Weltfrieden die Eidgenossenschaft, den «ältesten Völkerbund», nun vor einer «internationalen Mission», während die Verfechter traditioneller Zurückhaltung dem Land eine «moralische Macht» in Aussicht stellten, wenn es ausserhalb des «Machtbundes» bleibe. Das Schlagwort des Imperialismus wurde besonders von den Gegnern auf der politischen Linken verwendet, die den Völkerbund als «Verschwörung der internationalen Bourgeoisie gegen das internationale Proletariat» bekämpften.

Das Volk sagte mit einer Mehrheit von 56 Prozent Ja, das Ständemehr von elfeinhalb zu zehneinhalb ergab sich aus teilweise knappen Kantonsresultaten. Das sehr starke Ja der Romandie und des Tessins überwog das Deutschschweizer Nein.

Politisch-publizistisches Netz

Die Opposition gegen eine internationalisierte schweizerische Aussenpolitik war auch ein zentrales Moment der «Schweizerischen Monatshefte für Politik und Kultur» (SM). In der ersten Nummer, die im April 1921, fast ein Jahr nach der Gründung der Trägergenossenschaft, erschien, gingen die Herausgeber von der Gefährdung der Unabhängigkeit des Landes aus. Der Redaktor Hans Oehler schrieb, es sei «Zeit zur Ein- und Umkehr», nachdem die Neutralität «aufgegeben» und eine schiefe Bahn betreten worden sei. Die Zeitschrift war insofern der publizistische Arm einer Bewegung, die sich politisch im März desselben Jahres im «Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz» formiert hatte. Die beiden Organisationen waren personell stark miteinander verflochten. Der Präsident der «Monatshefte», der Zürcher Ober­gerichtspräsident Theodor Bertheau, war Vizepräsident des «Volksbunds», und dessen Präsident, Eugen Curti, der das Anti-Völkerbunds-Komitee geleitet hatte, war einer der Gründer der Zeitschrift. Beidseits engagiert waren zum Beispiel auch der In­struktionsoffizier Fritz Rieter, der ehemalige Generalstabschef Theophil von Sprecher und der Historiker Hektor Ammann.

Ähnliche Verbindungen bestanden auch, namentlich über Pfarrer Eduard Blocher, zu den Vereinen, die sich der Pflege der deutschschweizerischen Sprache und Kultur widmeten und zugleich den ganzen deutschen Kulturraum unter Druck sahen. Im Organ der Deutschschweizerischen Gesellschaften hatte Oehler 1920 die «Gefahr einer kulturellen Einwelschung» an die Wand gemalt. So gehörten «Politik und Kultur», wie sie im Namen der SM standen, eng zusammen. In den ersten Ausgaben waren etwa die deutsche Schrift (Fraktur), die Mundart und der französische «Kulturimperialismus» Gegenstand von Artikeln.

Demokratisierung der Aussenpolitik

Die «Monatshefte» nahmen also Strömungen auf, die sich schon in der Vorkriegs- und Kriegszeit entwickelt hatten. Die Vorarbeiten für die neue Zeitschrift hatten nicht erst nach der Abstimmung begonnen und wurden durch die Niederlage offenbar vorerst erschwert. Die Gründung stand zudem im Kontext weiterer Aufbrüche, die sich damals neben dem Völkerbundsidealismus bemerkbar machten und Konservative allenfalls herausforderten. Der Theologe Leonhard Ragaz hatte gegen das Kriegsende eine auf dem Gemeinschaftsprinzip beruhende «neue Schweiz» entworfen und breites Echo erhalten. In den Proporzwahlen 1919 machten auf Kosten des Freisinns zwei gegensätzliche Parteien grosse Gewinne: die Sozialdemokraten und die neue Bauernpartei (die spätere SVP), die dem «Land» eine Stimme gegenüber der «Stadt» verlieh. Den Impulsen der internationalen Emigrantenszene, modernen Freizeitangeboten wie dem sich ausbreitenden Kino und der Jazzbegeisterung stand unter anderem die Heimatschutzbewegung gegenüber. Es gab Vorstösse für das Frauenstimmrecht und einen Anlauf zur AHV, aber es wurden auch Massnahmen gegen die «Überfremdung» durch Ausländer ergriffen. Ab Ende 1920 dämpfte ein Konjunktureinbruch die Stimmung rasch.

Mit der Ablehnung einer «internationalen Gasthof- und Grossstadtkultur» waren die «Monatshefte» nicht allein. Ihr Pa­triotismus war insofern widersprüchlich, als er mehr die Deutschschweiz als die typische Mehrsprachigkeit des Landes im Blick hatte. Doch wenn sie konservativ waren, lehnten sie im Unterschied etwa zum Aristokraten Gonzague de Reynold die Demokratie nicht ab. Indem sie der Aussenpolitik kritischpublizistischen Raum gaben, wirkten sie faktisch im Zug einer Demokratisierung, wie sie 1921 durch Einführung des Staatsvertragsreferendums in der Bundesverfassung Gestalt annahm. Der «Volksbund» benützte das neue Instrument sogleich und bekämpfte, von den SM unterstützt, mit grossem Erfolg das Grenzzonenabkommen mit Frankreich.

Vom Völkerbund zur UNO

Mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg und dessen Vorgeschichte wird der Völkerbund leicht als gescheitert erklärt. Hatten die Pessimisten oder eben Realisten recht bekommen? Der Völkerbund hatte auch seine guten Zeiten und kam seinem Anspruch einen wichtigen Schritt näher, als er 1926 Deutschland aufnahm. Indes war er im Positiven wie im Negativen abhängig von der Politik der mächtigen Staaten und wurde zu keinem harten Ordnungsfaktor. Die Schweiz verhielt sich als Mitglied stets eher zwiespältig, engagiert in verschiedenen Sachfragen und in der Entwicklung der Schiedsgerichtsbarkeit, zögernd hingegen, wenn sie ihre Neutralität und ihre wirtschaftlichen Interessen gefährdet sah. Der Bundesrat berücksichtigte auch den innenpolitischen Druck, sei es zum Beispiel bei der Ablehnung eines Durchzugs von Ordnungstruppen in die Region Wilna (1921) oder bei seinem Nein zur Aufnahme der Sowjetunion (1934). Der Rückzug auf die integrale Neutralität 1938 entsprach der Forderung einer Initiative, die der «Volksbund» vorbereitet hatte, aber auch dem Interesse Deutschlands und Italiens, die den Völkerbund wieder verlassen hatten. Der Bundesrat wollte nicht nochmals, wie nach der italienischen Eroberung Abessiniens 1936, zu Sanktionen gegen einen wichtigen Nachbarstaat verpflichtet sein.

Für die Stellung des Landes während des Zweiten Weltkriegs spielte die Zugehörigkeit zum Völkerbund wohl weder positiv noch negativ eine erhebliche Rolle. Nüchtern betrachtet hat sich die Schweiz sowohl zu Beginn als auch am Ende der Zwischenkriegszeit – wie in anderen Phasen ihrer Geschichte – realpolitisch ein Stück weit an die Machtverhältnisse angepasst. Noch vor der formellen Auflösung des Völkerbunds (1946) wurde mit der UNO ein Neu­anfang gemacht. Der Bundesrat strebte zuerst einen Beitritt unter Anerkennung der Neutralität an, musste aber erkennen, dass dies in New York aussichtslos war, und schob die Frage auf. 1986 verwarfen die Stimmberechtigten einen UNO-Beitritt mit Dreiviertelmehr. Teilweise gleich wie 1920 argumentierten die Gegner sowohl mit der Schwäche der internationalen Organisation als auch mit der Unvereinbarkeit von kollektiver Sicherheit und Neutralität (an dieser wollte der Bundesrat mit einer einseitigen Erklärung festhalten). Eine weitere partielle Analogie: Nach der Abstimmung gaben sich die Gegner einer internationalen Bindung, diesmal Abstimmungssieger, eine dauerhafte Organisation, die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) – Präsident war Christoph ­Blocher, ein Enkel Eduard Blochers.

Für den Beitritt zur UNO entschieden sich die Schweizerinnen und Schweizer erst 2002, einige Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und nach Ernüchterung des Sonderfalldenkens. Ohne Euphorie, eher im Sinn einer besseren Vertretung eigener Interessen und Standpunkte im multilateralen Netz.

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