Auf der Treppe mit Thomas Hürlimann
Unlängst geriet ich in eine Auseinandersetzung mit meinem alten Freund Fritz Müller-Zech, Chefkritiker der Literaturzeitschrift «Am Erker». Wir beide unterscheiden uns von der Standardausgabe des Intellektuellen darin, dass wir, wenn es sich vermeiden lässt, keine klassische Musik hören, sondern eine ausgesprochene Vorliebe für die Rockmusik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre haben. Ich möchte […]
Unlängst geriet ich in eine Auseinandersetzung mit meinem alten Freund Fritz Müller-Zech, Chefkritiker der Literaturzeitschrift «Am Erker». Wir beide unterscheiden uns von der Standardausgabe des Intellektuellen darin, dass wir, wenn es sich vermeiden lässt, keine klassische Musik hören, sondern eine ausgesprochene Vorliebe für die Rockmusik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre haben. Ich möchte die Leser nicht mit Einzelheiten langweilen, aber uns ist «Quadrophenia» von The Who oder das «Hamburger Concerto» von Focus weit lieber als etwa Wagners «Meistersinger».
Unser Disput entzündete sich an der Frage, inwieweit es akzeptabel sei, durch Sampler, also Zusammenstellungen bereits anderweitig und zu unterschiedlichen Zeiten veröffentlichten Materials, auf eine Band aufmerksam zu machen. Müller-Zech ist hier Purist; er hasst alle Sammelalben, da die Stücke dort aus ihrem historischen, ästhetischen und intellektuellen Zusammenhang gerissen seien. Ich bin in dieser Frage toleranter. Auch was die Literatur betrifft.
So konnte ich Thomas Hürlimanns neues Buch ohne Vorbehalte lesen. Denn es sammelt Essays, Reden, kleinere Zeitungsartikel, Erinnerungen und porträtistische Skizzen aus den letzten sechs Jahren. Allesamt für bestimmte Anlässe geschrieben und nun ausserhalb dieser Anlässe publiziert: die üblichen Auftrags- und Gelegenheitsarbeiten eines Schriftstellers eben. Doch das Bändchen ist durchaus vergnüglich zu lesen. Nicht nur weil der Autor genug Verstand mit Phantasie und Erfahrung verbindet, um auf hohem Niveau zu parlieren, sondern auch, weil er zu viel Stil und Sprachvermögen besitzt, um uns mit angelesenen akademischen Weisheiten zu quälen. Gelungen ist der Band zudem, weil der Autor die heterogenen Beiträge durch – typographisch übrigens wunderbar in den Text integrierte – Randnotizen miteinander verknüpft und damit so etwas wie eine autobiographische und intellektuelle Grundierung seines Schreibens durchschimmern lässt.
Es gibt ein paar Kabinettstückchen, wie die Ausführungen zum Lesen als hohe Kunst der Weltvergrösserung, die übrigens vor nicht allzulanger Zeit hier in den «Schweizer Monatsheften» erschienen sind; die launigen Reflexionen zum Wesen des Fussballs, zu Jean Paul und Schillers «Tell»; es gibt aber auch einige schwächere Stücke, etwa zum befreundeten Musiker Daniel Fueter und dem Kunsthistoriker Werner Oechslin, sowie eine kleine Schriftstellersatire, die allenfalls ranzigen Altherrenwitz verströmt, wenn sie Alissa Walser als Sexsymbol im nassen Badeanzug über die sonnendurchglühten Kacheln der Autorenresidenz von Cadenabbia wandeln lässt und zeigt, wie selbst gestandenen Heroen der Feder schnell der letzte Rest von Verstand abhanden kommt, wenn Frauen im Spiel sind.
Zugleich wird die Latte, um es einmal so zu umschreiben, intellektuell sehr hoch gelegt, indem Hürlimann ein anfänglich unscheinbares, zunehmend aber zentrales Motiv seiner Texte, die Treppe, zur Übermetapher erhebt. Platons Höhlengleichnis, in dem die unterirdisch lebenden und von Schattenbildern genarrten Gefangenen nur über eine beschwerliche Stiege ans Licht und zur Wirklichkeit gelangen können, birgt für ihn eine elementare weltanschauliche Wahrheit. Die Treppe erschliesst eine andere, eine höhere Ebene. Sie findet sich daher – bald verborgen, bald offensichtlich – in vielen der Texte nicht nur als vertikale Denkbewegung, und am Schluss bekommt sie mit dem Essay «L’esprit de l’escalier» ein Denkmal gesetzt.
Spätestens jetzt wird deutlich: hier schreibt ein kluger und charmanter Reaktionär. Einer, der die Hoffnung auf ein Darüber, eine metaphysische Sicherung noch nicht aufgegeben hat, einer, der den Glauben an eine Welt verteidigt, die sich nicht im Diesseits erschöpft. Anders jedoch als bei seinem deutschen Kollegen Mosebach, der dem geneigten Leser ständig offensiv seinen Katholizismus unter die Nase hält wie ein Exhibitionist sein entblösstes Glied, äussert sich dieser Glaube bei Hürlimann meist diskret und persönlich. Aus kleinen alltäglichen Geschichten und Erlebnissen, aus dem Konkreten heraus erwächst die Reflexion, mal augenzwinkernd und selbstironisch, mal ernst. Auch wenn man Hürlimanns grosse Hoffnung nicht teilt, kann man seinen Plaudereien mit Vergnügen und Sympathie folgen. Selbst wenn es für meinen Geschmack ein paar klischeegebundene Seitenhiebe zu viel gibt, etwa gegen die Kulturbanausen unter den Hartz-IV-Empfängern, die mit Bier auf dem Sofa vor dem Fernseher ihr schäbiges Leben verdösen und nichts von der Hochkultur wissen wollen, oder unsere geliebten Alt-68er, die den «Guerillakrieg gegen die eigene Bürgerlichkeit» längst verloren haben und nun mit einem gewissen Leidensdruck ihr Theaterabo geniessen.
Aber diese Ausrutscher verzeihen wir dem Klosterzögling aus dem Stift Einsiedeln gern, zumal wir mit dem grössten Vergnügen das teuflische Grinsen bemerkt haben, mit dem der Autor in einer schönen Erinnerung an die pädagogische Provinz seiner Jugend davon berichtet, wie der gestrenge Priester-Rektor seines Gymnasiums auf einer Urlaubsreise im feurigen Schlund des Stromboli verschwindet.
vorgestellt von Gerald Funk, Marburg
Thomas Hürlimann: «Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand». Zürich: Ammann, 2008.