Auf den Trümmern der Erwartungen
Individualität, Freiheit, Pluralismus, Marktwirtschaft und Demokratie: Europa könnte aus seinen spezifischen Errungenschaften weiterhin politisches, wirtschaftliches und soziales Kapital schlagen. Die Europäische Union steht sich dabei nun selbst im Weg.
Ein «Zeitalter der Demokratie des Friedens und der Einheit» erwarteten die 32 europäischen und nordamerikanischen Staats- und Regierungschefs, als sie am 21. November 1990 die «Charta von Paris für ein neues Europa» unterzeichneten. Als der Kalte Krieg zu Ende war, schien das «Ende der Geschichte» (Francis Fukuyama) im besten Sinne gekommen, jedenfalls im Sinne des westlichen Modells von Freiheit und Menschenrechten, Demokratie und Marktwirtschaft, das sich nun, so die allgemeine Erwartung, unangefochten über den Globus verbreiten würde.
So wurde auch die europäische Ordnung von 1990 auf den Institutionen des Westens aus der Zeit des Kalten Krieges gegründet: auf der Nato und der Europäischen Gemeinschaft, die sich 1992 mit dem Vertrag von Maastricht in die Europäische Union verwandelte. Damit erfuhr die europäische Integration eine substantielle Vertiefung, vor allem durch die Währungsunion, die in Maastricht beschlossen und um die Jahrtausendwende realisiert wurde. Zugleich ging das Projekt der Freizügigkeit voran: mit dem Abkommen von Schengen schafften die Mitgliedsstaaten die Kontrollen an den Binnengrenzen ab, die stattdessen an die Aussengrenzen der Union verlegt wurden.
Als der Vertiefungsschub der europäischen Integration Ende der achtziger Jahre gerade Fahrt aufgenommen hatte, platzten die osteuropäischen Revolutionen in diesen Prozess hinein – und warfen die Frage auf, wie sich Westeuropa gegenüber den postkommunistischen Staaten verhalten sollte. Für das Frankreich François Mitterrands stand die Vertiefung der Integration ganz im Vordergrund, um das grösser gewordene Deutschland einzubinden. Vertiefung und Erweiterung gleichzeitig konnten kaum gutgehen. Auf eine Erweiterung zu verzichten und die osteuropäischen Staaten aussen vor zu lassen, hätte jedoch die europäische Integration als Selbstbezogenheit eines westeuropäischen Wohlstandsclubs decouvriert.
Also entschied sich die EU für eine Doppelstrategie – und wurde zwei Jahrzehnte später mit der Euro-Staatsschuldenkrise sowie der Migrations- und Flüchtlingskrise konfrontiert. Hinzu kamen der Brexit, der erstmalige Austritt eines Mitgliedsstaates, populistische Infragestellungen von innen sowie die globalen Krisen, die Europa von aussen herausfordern – sei es die russische Ambition, die Ordnung von 1990 auch unter Einsatz von Gewalt zu revidieren, sei es die Implosion des Nahen Ostens mit ihren globalen Weiterungen, sei es eine zunehmend unberechenbare US-amerikanische Politik. Auf ein «Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit» deutet 2018 wenig hin. Wir stehen vor den Trümmern unserer Erwartungen. Ist das europäische Projekt gescheitert? Oder bezieht es, im Gegenteil und wie so oft, gerade aus der Krise neue Energie? Bevor wir Perspektiven für die Zukunft entwickeln, lohnt ein bilanzierender Blick in die Vergangenheit.
Die Europäische Union von Maastricht: Aktiva und Passiva
Durch Freihandel und gemeinsamen Markt, Freizügigkeit und grenzüberschreitende Mobilität hat die europäische Integration Grenzen überwunden und eine zunehmende Verflechtung der europäischen Staaten, Wirtschaften und Gesellschaften befördert. Man darf diesen Kulturwandel, gerade in historischer Perspektive, nicht unterschätzen. So defizitär und problematisch die gesamte Euro-Rettungspolitik gewesen sein mag: als die Staats- und Regierungschefs am 7. Mai 2010 zusammenkamen, um die Krise gemeinsam zu bewältigen, taten sie das Gegenteil dessen, was die Verantwortlichen im Juli 1914 getan hatten, als jeder für sich und höchstens bilateral handelte, die Krise binnen weniger Tage eskalierte und in einer Katastrophe endete. Die europäische Integration hat einen Raum geschaffen, in dem Krieg nach menschlichem Ermessen genauso undenkbar geworden ist wie zwischen den USA und Kanada.
Dies gilt, jedenfalls dem Grundsatz nach, auch für die im Zuge der Osterweiterung kurz nach der Jahrtausendwende neu beigetretenen Staaten. Oft und nicht ohne Grund werden die Zustände in Polen und Ungarn, Rumänien und Bulgarien beklagt. Und doch ist die Osterweiterung die eigentliche Erfolgsgeschichte der Europäischen Union nach 1990. Im historischen und politischen Vergleich lässt sich feststellen, dass ausserhalb der Europäischen Union – von der Ukraine und Weissrussland über Russland und Georgien bis Kasachstan – keine ähnlich konsolidierten postkommunistischen Demokratien entstanden sind. In der Zwischenkriegszeit nach 1919 hatte sich die Mehrzahl der ostmitteleuropäischen Staaten hingegen innerhalb weniger Jahre in autoritäre Staaten oder Diktaturen mit erheblichen Gewaltpotentialen verwandelt. Und nach 1990 zeigten die Kriege in Jugoslawien in aller Schärfe, welche Gefahren der Instabilität und der Gewalt in Südost- und Ostmitteleuropa weiterhin lauerten. Vor diesem Hintergrund stellten die Stabilisierung in Ostmitteleuropa nach 1990 und der Beitrag der Europäischen Union zugunsten von Frieden und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz eine herausragende historische Leistung dar. Sie hatte freilich einen doppelten Preis: zum einen die Ungleichbehandlung der Ukraine und Georgiens gegenüber den baltischen Staaten, aus Rücksicht auf Russland, mit dem der Westen zum anderen dennoch nicht zu einem einvernehmlichen Verhältnis gelangte.
Luxemburg, Belgien und Polen sind nicht mehr Einmarschgebiete für die Armeen benachbarter Grossmächte, sondern stellen Präsidenten der europäischen Institutionen.
Über diesem historischen Fortschritt hat die Europäische Union es allerdings nicht vermocht, politische Handlungsfähigkeit in einer multipolar gewordenen Welt zu entwickeln. Der wesentliche Grund dafür liegt darin, dass der europäische Integrationsprozess insbesondere seit Maastricht dem Mantra der ever closer union gefolgt ist, die nur die eine Richtung kennt: «mehr Europa», immer mehr Übertragung von staatlichen Hoheitsrechten auf die europäische Ebene, statt die Kraftquellen Europas zu nutzen – seine Nationalstaaten und seine Vielfalt.
Die Übertragung staatlicher Hoheitsrechte auf die europäische Ebene in zwei zentralen Bereichen – Währung und Grenzen – hat sich als nicht hinlänglich funktionsfähig erwiesen. Das hat institutionelle Gründe, vor allem aber politisch-kulturelle. Die Europäische Währungsunion beruht neben der Institution der Europäischen Zentralbank auf einem Regelsystem für die Fiskalpolitik, die in nationaler Verantwortung blieb. Was die Verbindlichkeit solcher Regeln betrifft, herrschten allerdings grundlegende Unterschiede. Das angelsächsische Rechtsverständnis setzt auf Regeln, die allerdings in Krisenfällen zugunsten von Ausnahmen zurücktreten können. Das deutsche Rechtsverständnis betont hingegen aus historischen Gründen die Verbindlichkeit des Rechts gerade in Krisensituationen. In mediterranen Ländern wiederum werden fixierte rechtliche Normen allgemein als weniger bindend betrachtet.
Hinzu kamen unterschiedliche Wirtschaftskulturen. Die angelsächsische Kultur vertraut auf die «unsichtbare Hand» des Marktes und verschmolz seit den achtziger Jahren mit der amerikanischen Kapitalmarktkultur. Die Kultur des Wirtschaftsraums, der von Skandinavien bis Norditalien und von der Seine bis an die Oder reichte, setzte auf freiwillig akzeptierte Spielregeln statt möglichst freier Märkte. Hinzu kam als drittes die Kultur der südeuropäischen Regionen, in denen man dem Staat misstraute und stattdessen auf Traditionen weicher Währungen baute. Schliesslich entwickelte sich eine vierte Form der Wirtschaftskultur unter den Sonderbedingungen der postkommunistischen Transformationsgesellschaften in Ostmitteleuropa.
Damit fehlten der Währungsunion die politisch- und ökonomisch-kulturellen Grundlagen, die sie nicht eigens schaffen konnte. Die erhoffte Konvergenz der Volkswirtschaften blieb eine Illusion. Diese weiterwirkenden Differenzen wurden allerdings ignoriert und stattdessen camoufliert, nicht zuletzt durch suggestive Sprachformeln wie die vom europäischen Fahrrad, das ständig bewegt werden müsse, damit es nicht umfalle, um eine permanent fortschreitende Integrationsdynamik zu rechtfertigen – wobei ein Fahrrad, das nicht stoppen kann, unter verkehrspolizeilichen Aspekten keine sonderlich überzeugende Metapher ist. Oder die Kritik am «Rosinenpicken» und einem «Europa à la carte», wo die freie Wahl doch sehr viel attraktiver sein kann als ein Zwangsmenü für alle.
Die Alternative zur Europäischen Währungsunion, so sagte Helmut Kohl 1990, «heisst zurück zu Wilhelm II., das bringt uns nichts». Solche Sprachformeln suggerieren Alternativlosigkeit: «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa» (Angela Merkel), «Whatever it takes» (Mario Draghi). Solche moralisierenden, ultimativen Aufladungen hat Hans Joas als «Sakralisierung Europas» kritisiert, die an die sozialistische Devise «Vorwärts immer, rückwärts nimmer» erinnere. Durch solche Tabuisierungen der politischen Debatte hat sich die Europäische Union hingegen um Kritikfähigkeit und Reformbereitschaft gebracht. Zwar legte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März 2017 ein «Weissbuch zur Zukunft Europas» vor, das verschiedene Möglichkeiten skizzierte. Doch war es keine sonderliche Überraschung, dass Juncker am Ende für die Option ever closer union plädierte.
Plädoyer für eine flexible, handlungsfähige EU…
Die Alternative liegt in einer ergebnisoffenen Bestandsaufnahme: Wo funktionieren europäische Institutionen und wo tun sie es nicht? Wo ist «mehr Europa» sinnvoll und wo auch weniger? Angela Merkel und Emmanuel Macron sind über die Notwendigkeit einer europäisch koordinierten Migrations- und Flüchtlingspolitik einig; wenn sie aber nicht zu erreichen ist, sind funktionierende nationale Lösungen besser als dysfunktionale europäische. Dasselbe gilt für die Währungsunion: wenn sie nach der Rettungspolitik funktioniert, besteht kein Handlungsbedarf – wenn aber nicht, sind auch Revisionen von Integrationsschritten, etwa Austritte von Mitgliedsstaaten, konstruktiv zu erwägen, statt sie über Sprachformeln wie die der «Alternativlosigkeit» auszuschliessen. Eine flexible Europäische Union wäre sowohl zur Vertiefung als auch zum Rückbau in der Lage.
Und sie wäre bereit, unterschiedliche Dichten der Integration in Europa zu akzeptieren, nicht nur ein «Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten», die doch alle auf denselben Endzustand hinsteuern sollen. Ein offeneres Europa aus Europäischer Währungsunion, Europäischer Union (ohne grundsätzliche Verpflichtung auf die gemeinsame Währung) und einer Peripherie mit geringerer Integrationstiefe wäre nicht zuletzt ein Instrument für einen flexiblen Umgang mit dem Brexit.
Hier läge auch ein Ansatz, um globale Handlungsfähigkeit in einer multipolaren Welt zu gewinnen. Die Ende 2017 avisierte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit Pesco markiert einen richtigen Ansatz in Richtung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik. Sie würde umso wirksamer werden, wenn sie auch auf das Vereinigte Königreich zugeht, statt einen schmutzigen Scheidungskrieg über den britischen EU-Austritt zu führen. Denn wenn Europa weltpolitisch handlungsfähig werden will, muss es sich auf seine Kraftquellen besinnen: die grossen Nationalstaaten. Ein starkes Europa braucht koordinierte Führung, die vorhandene Ressourcen zur Geltung bringt und die machtpolitischen Notwendigkeiten mit gegenseitiger Rücksicht verbindet.
… und einen klugen Westen
All das bedeutet im Jahr 2018 eher Selbstbehauptung und sehr viel weniger globale Mission, wie es vor einem Vierteljahrhundert schien. Tatsächlich hat Europa allen Grund, seine historische Besonderheit zu bewahren und zu verteidigen: den Rechtsstaat, Freiheit und Menschenwürde sowie die spezifisch europäische Mischung aus Einheit und Vielfalt. Das grosse Kennzeichen der europäischen Integration ist ihre Ambivalenz: von Vielfalt und Zentralisierung, Subsidiarität und Integrationssog, Vergemeinschaftung und einzelstaatlicher Beharrung, von EU und Nationen, von Integration und Krise.
Damit lässt sich, gerade in historischer Perspektive, ganz gut leben – besser war es eigentlich nie. Die Gefahr liegt freilich in der Ideologisierung. Nach innen droht eine «immer engere Union» Vielfalt und Freiheit zu beschneiden. Und nach aussen hat sich das selbstgewisse globale Missionskonzept des «Westens» nach 1990 als Misserfolgsgeschichte herausgestellt. Abgesehen davon, dass der Westen versäumt hat, nach 1990 zu definieren, wofür er eigentlich wirklich steht, haben gerade asiatische Gesellschaften die technologische Modernisierung und die ökonomischen Freiheiten gerne adaptiert, ohne die Kultur der individuellen Freiheit und der Demokratie zu übernehmen. Möglicherweise ist gerade diese Mischung von westlichen Institutionen mit asiatischen Traditionen und Werten der Grund für den ökonomischen Erfolg der asiatischen Länder um die Jahrtausendwende, der dem Westen erstmals seit der Industrialisierung substantiell Konkurrenz macht.
Der «Westen» ist ein allgemeines politisches Ideal der Individualität, der Freiheit und der Gleichwertigkeit aller Menschen, der Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie von Pluralismus, Marktwirtschaft und Demokratie, das gerade durch seine Unbestimmtheit im Konkreten lebt. Es ist ein Ideal der Selbstverständigung über eigene politisch-kulturelle Grundlagen nach innen. Es ist ein Bollwerk der Selbstbehauptung gegen antipluralistische Fundamentalismen nach aussen. Und im Ausnahmefall massiver Menschenrechtsverletzungen ist es eine Verpflichtung zur Intervention – die freilich dem Dilemma nicht entgeht, dass sie in Mali, aber nicht gegen Russland anwendbar ist, allein schon um die Gefahr eines grossen Krieges zu vermeiden. Ansonsten bedarf das Ideal des Westens der Offenheit für die Vielfalt unterschiedlicher Ordnungsentwürfe und des Respekts für die «multiplen Modernen» der anderen. Als globales Modell hingegen, obendrein mit missionarischem Anspruch verbreitet, bestätigt es die Erfahrung, die im 21. Jahrhundert nicht weniger gilt als für die Französische Revolution oder die Kreuzzüge: Die Grenzen zwischen edlen Absichten und unterdrückender Bevormundung sind fliessend. Auch für das Konzept des Westens gilt daher, was der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm für die europäische Integration sagte: die Stärke «liegt in einer klugen Begrenzung».
Andreas Rödder
ist Historiker und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Von ihm zuletzt erschienen: «21.0 – eine kurze Geschichte der Gegenwart» (C.H. Beck, 2015).