Auf den Spuren der Dinosaurier
Die Schweizer Grossbanken schaffen unbeherrschbare Risiken. Sie sind selbst zum Systemrisiko geworden. Eine Provokation. Eine schonungslose Analyse der Situation. Und eine Handvoll konstruktiver Überlegungen zur Zukunft des Bankenplatzes Schweiz.
Wenn Dinosaurier des Sprechens mächtig gewesen wären, hätten sie gesagt: «Die Erde ist ohne uns nicht vorstellbar. Nur ein Weltuntergang könnte unser Ende sein.» Ein Meteor besiegelte ihr Schicksal, und die Welt steht noch.
Schweizer Universalbanken gleichen in vielem den Dinosauriern. Nur hat kein Meteor eingeschlagen. Sondern drei Entwicklungen haben ihr Schicksal besiegelt.
Erstens. Ihr Ausflug in die grosse weite Welt des Investmentbanking hat im Desaster geendet. Die UBS-Investmentbank zahlte von 2006 bis Ende 2010 an ihre Angestellten 34 Milliarden Dollar aus. Dafür stellten sie in der gleichen Zeit einen kumulierten Verlust von 44,8 Milliarden Dollar her.
Zweitens. Bei der Spekulation mit gehebelten Derivaten, also mit Fremdgeld unterlegten Wettscheinen, ist mit noch so schönen Algorithmen und der Rechenkraft von Supercomputern das Risiko nicht kontrollierbar.
Drittens. Das Geschäftsmodell, geschützt durch das Bankgeheimnis mit der Verwaltung von Schwarzgeldern hübsche Extraprofite einzufahren, ist am Ende.
Es ist in der Wirtschaftsgeschichte nichts Neues, dass fundamentale Veränderungen traditionelle Produktionsweisen obsolet werden lassen. Wer sich nicht anpasst, verändert, neu erfindet, ist zum Untergang verurteilt. Die Schweizer Textil- und Maschinenindustrie kann davon ein Lied singen. Man spricht für gewöhnlich von einem Paradigmenwechsel. Tabula rasa. Neustart. Der Schweizer Finanzplatz ist dazu offensichtlich nicht in der Lage. Das liegt zum einen daran, dass die beiden Grossbanken, aber auch einige grössenwahnsinnig gewordene Kantonalbanken und die sich vom Genossenschaftsgedanken immer mehr verabschiedende Raiffeisen nicht zur Selbstreflexion willens oder fähig sind. Wie die Dinosaurier, nur in einer modernen Ausformung.
Übersicht verloren
Selbst Fachleute verlieren sich im Zahlendickicht der jüngsten Jahresbilanzen der beiden Grossbanken. Einfachste Kernzahlen – wie etwa ist das Verhältnis zwischen verlustabsorbierendem Eigenkapital und dem Bilanzrad? – sind nicht mehr eruierbar. Sprechen wir im Falle der CS bei einer Bilanzsumme von 924 Milliarden und einem ausgewiesenen Eigenkapital von 42 Milliarden über eine Kernkapitalquote von 4,5 Prozent? Oder mit Hilfe des Zauberworts «Risikogewichtung» von 9,4 Prozent, wenn wir die «Look-through Swiss Core Capital Ratio» anwenden? Oder nehmen wir lieber Basel 2,5, dann kämen wir auf stolze 15,6 Prozent. Sind da eigentlich in SPV (Special Purpose Vehicles) ausgelagerte Volumen und Risiken dabei? In einem Satz: der Dinosaurier weiss nicht mal selbst, wie viel er wert ist, was er verdient, welchen Risiken er dabei ausgesetzt ist. Niemand weiss es.
Erschwerend kommt zum anderen hinzu, dass die Grossbanken in einer weiteren Eigenschaft den Dinosauriern gleichen: grosser Körper, kleines Hirn. Das bemerkt man nicht an Verhältniszahlen, sondern an einem Vakuum. Das tut sich auf, wenn man die Frage in den Raum stellt: Wo sind denn die Strategien für die Zukunft? Wie soll’s mit dem Finanzplatz Schweiz weitergehen? Wo liegen gemeinsame Interessen, wie unterscheiden sie sich bei Regional-, Kantonal-, Privat- und Grossbanken? Wo stehen die in fünf, in zehn Jahren? Und wie kommen sie dahin, auf gemeinsamen oder getrennten Wegen?
Trotz Think Tanks, Strategy Committees, beliebig anmietbarer Denkkraft von Experten, Wissenschaftern, Instituten: auf diese einfachen Fragen hört man keine Antwort. Wenn man von Unsinn wie «Weissgeldstrategie» oder «Globallösung» einmal absieht. Es kann nicht Aufgabe einer Bank sein, behaftbar die steuerlichen Verhältnisse ihr anvertrauter Gelder abzuklären. Da die USA in keiner Form an einer «Globallösung» interessiert sind, weil eine mit ihr verbundene Globalbusse weniger lukrativ wäre als sich kumulierende Einzelbussen, wird es die nicht geben.
Ein bewährtes und ertragreiches Geschäftsmodell ist obsolet geworden. Zudem sind noch Restanzen aus der Vergangenheit zu erledigen. Also braucht es zwei Strategien. Eine zur Vergangenheitsbewältigung, eine zur Gestaltung der Zukunft. Verwenden wir einen banalen Dreisprung.
Die Vergangenheit
Unbestreitbar liess sich das Schweizer Bankkundengeheimnis als profitträchtiger Schutz bei der Beihilfe zu Steuerhinterziehung verwenden. Nachdem es durch die Schweizer Regierung und die UBS geschleift worden ist, muss hinterzogenes Steuersubstrat zehn Jahre zurück ausgeliefert werden. Die Verantwortung dafür obliegt natürlich dem Steuerhinterzieher, nicht dem Helfer. Rechtsimperialistische Forderungen nach Multimilliardenbussen für den Helfer müssten von der Schweizer Regierung eigentlich vehement zurückgewiesen werden. Dann verhandelt man und legt einen Betrag auf den Tisch, der irgendwo in der Mitte zwischen Maximalforderungen und Minimalangeboten liegt. Da es nur ganz wenige Schweizer Banken geben dürfte, die nicht mindestens ein Dutzend oder mehr ausländische Steuerhinterzieher beherbergt haben, liesse sich da eigentlich problemlos ein Verteilungsschlüssel errechnen.
Die Gegenwart
Die erste Frage, die man sich stellen muss, lautet: Was ist die USP, das Alleinstellungsmerkmal von Schweizer Geldhäusern? Was machen nicht alle anderen auch, manchmal besser, meistens nicht schlechter? Damit stossen wir auf Faktoren, die nicht in erster Linie innerhalb der Finanzwelt liegen. Nämlich Stabilität, Rechtssicherheit, Neutralität, partizipative Demokratie, funktionierende Infrastruktur und Wirtschaft, langfristige Sicherheit, gespeist aus langer Tradition und immer wichtiger in der heutigen Welt. Oder ganz einfach: Wer ein Vermögen weder aus kurzfristigem Gewinnstreben noch in erster Linie mit der Absicht, staatliche Abgaben so weit wie möglich zu vermeiden, anlegen will, hat keine Alternative zur Schweiz. Dort ist es zwar nicht unbedingt vor dem Zugriff seines eigenen Staates geschützt, aber wenigstens in einem stabilen gesellschaftlichen Umfeld aufbewahrt.
Die Zukunft
Wenn Extraprofite wegfallen und ein Vermögensverwalter mangelnde Fachkenntnis nicht länger durch Reputationsmanagement, teures Bewirten, Einladungen und unnütze Geschenke ersetzen kann, dann muss er halt wieder zu seinem angestammten Beruf als Staubsaugervertreter oder Autohändler zurückkehren. Wenn Analystenheere trotz Superalgorithmen und mathematischen Zauberformeln immer wieder daran scheitern, eine zutreffende Aussage über die zukünftige Entwicklung einer Aktie, eines Fonds, eines Marktes zu machen, dann kann man sie problemlos einsparen. Wenn Retrozessionen, Kick-backs, Churning und jede Form von Extrakommissionen keine Quelle von Zusatzprofiten mehr darstellen, dann reichen auch ein bescheidener Schreibtisch, zwei Stühle und ein Computer zur Kundenbetreuung. Das macht den Kunden froh, wenn er wieder mit der bewährten Schweizer Bescheidenheit betreut wird. Und dann gibt es noch einen weiteren, wichtigen Faktor.
Die Industrialisierung des Banking
95 Prozent aller Bankgeschäfte lassen sich schon längst automatisiert abwickeln. Konto- und Börsengeschäfte, ganze Vermögensanlagen brauchen keine «massgeschneiderten» Lösungen mehr. Das ist wie bei einem Anzug. Natürlich ist ein Massschneider in der Savile Row in London eine feine Sache. Auch ein gut sitzender Brioni hat seinen Charme. Aber selbst ein Anzug von H&M unterscheidet sich oft nur für den Kenner von einem à la misure. Wer Luxus, persönliche Dienstbarkeit braucht (und zahlt), wohlan. Da aber nicht mal gemanagte Fonds in den letzten zwanzig Jahren einen passiven Fonds in der Performance geschlagen haben, ist das alles doch offensichtlich verzichtbar.
Die Rolle der OECD
Was die Aufbewahrung von Geld betrifft, gibt es einen Nebenaspekt. Steuerehrlichkeit wird mit der US-Kontrollkrake FATCA (Foreign Account Tax Compliance Act) und/oder mit den Standards der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erzwungen. Nun gibt es aber grössere Teile der Welt, die weder mit FATCA noch mit der OECD etwas zu tun haben. Neben der Schweiz sind in der OECD lediglich 33 Länder dieser Welt vertreten. Darunter natürlich die üblichen Schwergewichte wie USA, Japan und die meisten Staaten Europas. Die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), die ganze arabische, schwarzafrikanische und grössere Teile der lateinamerikanischen Welt aber nicht. Diesem nicht zu vernachlässigenden Teil der Welt gegenüber gelten also OECD-Regeln nicht. Eine Chance für das traditionelle Schweizer Banking, das weiterhin nach dem Geschäftsprinzip arbeiten will: no risk, no fun.
Zwei Szenarien
Das ist die Auslegeordnung. Welche möglichen Zukunftsszenarien lassen sich daraus ableiten? Man könnte es nun kompliziert machen und eine Matrix von interagierenden, multifaktoriellen Entscheidungsfeldern aufbauen, diese mit Eintrittswahrscheinlichkeiten versehen und im gleichen Gestrüpp enden, wie es die Jahresbilanz einer Schweizer Grossbank darstellt. Oder man beschränkt sich auf die beiden Ränder der möglichen zukünftigen Entwicklung, auf Banglisch ein «worst case»- und ein «best case»-Szenario.
Im schlimmsten Fall wird die Schweizer Regierung weiterhin vor rechtsimperialistischen Forderungen aus dem Ausland kapitulieren. Der Schweizer Finanzplatz wird mit existenzbedrohenden Bussen für vergangene Untaten überzogen. Schweizer Banken exponieren sich weiterhin in globalen Spekulationsgeschäften mit unbeherrschbaren Risiken. Darüber vernachlässigen sie stabile und ertragreiche Sparten wie das Asset Management und die moderne Verwaltung namhafter Vermögen. Befeuert durch die hochriskante Niedrigzinspolitik auch der Schweizerischen Nationalbank investieren sie in sich dadurch aufpumpende Blasen, wie beispielsweise im heimischen Immobilienmarkt. Mit der Fortführung des gescheiterten Universalbankmodells erpressen sie eine implizite oder sogar explizite Staatsgarantie. Denn sobald Spareinlagen und Pensionsgelder in Gefahr geraten, wenn wegen zu tolldreistem Zocken im hochriskanten Eigenhandel der Bankrott droht, müsste die Staatsfeuerwehr wieder mit neugedrucktem Geld den Brand löschen. Da mit all diesen Geschäftsmodellen keine Wertschöpfung generiert wird, zudem kurzfristige Zockergewinne mit langfristig verlorenen Multimillionenboni vergoldet werden müssen, führt diese Fortsetzung der bekannten Strategie mit mathematisch prognostizierbarer Wahrscheinlichkeit in den Abgrund.
Im besten Fall wird die Schweizer Regierung ihres Amtes walten und eine politische Lösung finden. Für ein Problem, das Banken – unabhängig von der moralischen Bewertung des Geschäftsmodells «Beihilfe zur Steuerhinterziehung» – nicht lösen können: dass sie sich mit der Praktizierung, wohlgemerkt bis heute im Rahmen der Schweizer Rechtsordnung, in unlösbare Konflikte mit supranational geltenden Währungsräumen begeben. Denn darauf laufen Informationsgesetze wie FATCA ja hinaus: Willst du im Dollarraum geschäften, dann spielst du nach unseren Regeln. Weltweit, auch in der Schweiz. Die Politik schafft die Rahmenbedingungen, dass die Bussen für vergangene Steuersünden in erträglichem Rahmen bleiben und damit die Vergangenheit ein für alle Mal bewältigt ist. Durch die Konzentration auf die einmalige USP des Finanzplatzes Schweiz, sichere und stabile Vermögensanlage mit grösstmöglicher Garantie einer Werterhaltung, fliessen aus dem OECD-Raum Multimilliarden an steuerlich geordneten Neugeldern in die Schweiz. Und von ausserhalb? Nun, das können wir der Risikofreudigkeit einzelner Bankinstitute überlassen. Wenn ein Geldhaus weiterhin Appetit auf hochriskante Einsätze im Zockercasino verspürt, wenn es mit den Big Boys bei Merger & Acquisition oder bei IPOs mitspielen will: Wohlan, eine entsprechende Abspaltung innerhalb einer Holdingstruktur ist ja kein Zaubertrick. Diese Strategie, Rückkehr zu bewährten Werten, Rückzug aus unkontrollierbaren, globalen virtuellen Geldwolken, würde den Schweizer Finanzplatz zu einem Fels in der Brandung, zu einem Leuchtturm machen, an Attraktivität kaum zu überbieten.
Eigentlich ist die Antwort doch trivial, welches der beiden Szenarien anzustreben ist. Nur gibt es dabei ein Problem: Ein Dinosaurier kann sich nicht gesundschrumpfen. Er kann sich auch nicht ein grösseres Gehirn wachsen lassen. Übertragen auf moderne Grossbanken: das Problem besteht nicht in erster Linie aus geldgierigen Zockerbankern. Es besteht auch nicht aus systemgefangenen Mitgliedern der Geschäftsleitung, die in konstanter Überforderung, geplagt von Jetlag und in Informationsfluten ertrinkend, eine Entscheidung nach der anderen treffen müssen, deren Auswirkungen sie nicht im Ansatz überschauen. Das Pro-blem besteht auch nicht in Verwaltungsräten, die eigentlich für die strategische Planung zuständig wären, aber dafür weder die Zeit noch die Qualifikation haben. Das sind alles nur Symptome. Das Problem ist: Diese Art von Bank – die Universalbank – ist krank. Todkrank. Nicht therapierbar. Nicht reformierbar. Nicht zur Selbstheilung fähig. Es ist diesen Gebilden systemimmanent nicht möglich, das Offenkundige und Triviale umzusetzen.
Wo wird’s also hingehen? Nun, immerhin der Chef der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht Finma, Patrick Raaflaub, formuliert es trocken: «Das Risiko, dass weitere Banken zusammenbrechen, besteht.» Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Der oberste Bankenaufseher verkündet nicht etwa, dass der Bankenplatz Schweiz dank schärfsten Kontrollen und Regulatorien, dank grundsolider Tradition so stabil und wetterfest wie das Matterhorn sei. Dass in allen Ländern der Welt, inklusive USA, England, Deutschland oder Luxemburg, Banken zusammenkrachen können. Aber doch nicht in der Schweiz, schliesslich haben wir hier vom Sündenfall UBS gelernt und in den vergangenen drei Jahren alle nötigen Konsequenzen gezogen. Da die Dinosaurier nicht aus eigenem Vermögen ihre Masse verringern können, auf dass ein Umfallen nicht einen Krater so gross wie die Schweiz auslöse, sondern höchstens ein kleines, lokales Beben, wurden sie halt von der dafür vorgesehenen staatlichen Behörde zwangsweise gesundgeschrumpft. Wenn Raaflaub das gesagt hätte, wenn das die Finma getan hätte, könnten wir uns Hoffnung machen, dass das zweite Szenario eintritt.
So aber müssen wir uns damit trösten, dass der Anteil des Schweizer Bankenplatzes an der gesamten Wertschöpfung nach eigenen Angaben bloss 6,2 Prozent beträgt.1 Das Rausschmeissen von Mitarbeitern und das Verkleinern zu umfangreicher Bilanzräder erledigen die Banken ja schon ansatzweise selbst. Noch sprudeln zwar die Boni, aber sie landen nicht mehr so direkt und schnell auf den Konten der Direktorenklasse.
Aber Banking hat einen grossen Vorteil. Es besteht grösstenteils aus Fassade, Reputationsmanagement, einem Haufen Computer und Personal. Im Gegensatz zur Textil- oder Maschinenindustrie wird selbst ein gewaltiges Einschrumpfen des Schweizer Banking keinen sichtbaren Krater hinterlassen. Einige Arbeitslose, freier Büroraum an bester Lage, mehr wird da nicht sein. Gelegentlich wird man einen leicht hilflosen, gut gewandeten Herrn sehen, der vor einem Billettautomaten steht und sich fragt, wie man eigentlich ein Ticket fürs Tram löst. Weil er sich nicht mehr erinnern kann, wie das geht. Weil er sich nicht daran erinnerte, dass es nur eine Generation zuvor zum guten und üblichen Ton gehörte, dass auch der Bankdirektor mit der Strassenbahn zur Arbeit fährt.
Natürlich wird dieser sehr wahrscheinliche Niedergang von lautem Wehklagen und düsteren Ankündigungen eines fast sicheren Endes der Schweiz begleitet werden. Aber keine Bange. Das hätten die Dinosaurier auch so gehalten. Wären sie des Sprechens mächtig gewesen.
1 http://www.swissbanking.org/20120702-2400-factsheet_finanzplatz_schweiz-rva.pdf (Seite 3, gesamte Wertschöpfung minus 4,1 Prozent Versicherungen)